Auch deutsche Statistiker tanzen gern auf Zehenspitzen, wenn sie Zahlen zur Armut, zur relativen Armut oder zur Armutsgefährdung verkünden. Könnte ja sein, sie treten dabei einigen alternativlosen Politikern auf die Füße. Und das wollen sie natürlich nicht. Also lautete denn die Nachricht am 19. November aus dem Bundesamt für Statistik: "Geringere Armutsgefährdung von Älteren in Ostdeutschland."
“Die Armutsgefährdung von Personen ab 65 Jahren war nach Ergebnissen des Mikrozensus im Jahr 2013 in den neuen Bundesländern (einschließlich Berlin) mit 12,5 % geringer als im früheren Bundesgebiet mit 14,8 %”, ließ man verlauten. Was nur die halbe Botschaft ist. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) am Mittwoch weiter mitteilte, stieg nämlich das relative Armutsrisiko für Personen ab 65 Jahren seit 2011 in Westdeutschland genauso wie in Ostdeutschland um jeweils 1,1 Prozentpunkte. Damals hatte die Armutsgefährdungsquote für ältere Personen in den neuen Bundesländern bei 11,4 % und im früheren Bundesgebiet bei 13,7 % gelegen.
Als armutsgefährdet gelten gemäß der Definition der Europäischen Union Menschen, die mit weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens (Median) der Bevölkerung in Privathaushalten auskommen müssen. Nach den Ergebnissen des Mikrozensus galten im Jahr 2013 beispielsweise Einpersonenhaushalte mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 892 Euro als armutsgefährdet. Das gilt fürs ganze Bundesgebiet. Und da der Bundesmedian angelegt wurde, sind auch die Länderquoten vergleichbar.
So waren 2013 dann 19,8 % aller Menschen in Ostdeutschland armutsgefährdet, in Westdeutschland 14,4 %. Schon die ausgewählten Daten des Bundesamtes für Statistik zeigen, dass da eine recht massive Entwicklung im Gang ist, die vor allem Ältere immer mehr zu Sozialhilfefällen macht. Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat – wie er es so gern macht – die Zahlen noch weiter zurückgerechnet, nämlich bis 2005, dem Jahr, in dem “Hartz IV” in Deutschland in Wirkung trat und vor allem ältere Arbeitnehmer in die Armutsfalle drückte.
Denn dass die Ostrentner bis dahin noch einigermaßen von Armut verschont waren, hat ja bekanntlich mit der großzügigen Anrechnung der Lebensarbeitszeiten zu tun. Wer in der DDR in Lohn und Brot war, kannte im Grunde keine Unterbrechungen durch Arbeitslosigkeit, “Umstrukturierungen”, unterbrochene Berufskarrieren (von all jenen abgesehen, die mit dem Staat in Konflikt gerieten und mit Berufsverboten zu tun bekamen). Selbst Frauen kamen so auf 30, 35 Jahre ununterbrochene Lebensarbeitszeit. Das zahlte sich dann bei den Bundesrenten aus.
Doch mit Einführung von “Hartz IV” wurde nicht nur die relativ stabile und für viele Betroffene noch auskömmliche Arbeitslosenhilfe abgeschafft, auch die Ersatzinstrumente, die zumeist älteren Arbeitslosen angeboten wurden, waren eher eine Art prekäre Zwischenbeschäftigung, bevor es meist reicht flott wieder auf die Warteplätze des Jobcenters ging. Und seit 2005 sind die Jobcenter auch vermehrt bemüht, ihre älteren Langzeitarbeitslosen in den vorgezogenen Ruhestand zu schicken. Ergebnis: Die Armutsraten der Älteren steigen kräftig an – in Sachsen übrigens von 10,7 Prozent im Jahr 2011 auf 11,5 Prozent im Jahr 2013. Womit die Armutsquote der über 65-Jährigen in Sachsen im Bundesvergleich noch recht niedrig ausfällt. Selbst im benachbarten Sachsen-Anhalt sind es schon 14,2 Prozent und in Thüringen 13,6 Prozent. Die beiden Nachbarländer sind Sachsen auf dem Weg in die Altersarmut nur ein Stückchen voraus.
Auch wenn es dahinter, bei den etwas Jüngeren, scheinbar stabil aussieht. In Sachsen ist die Quote der Armutsgefährdeten von 2011 bis 2013 sogar leicht gefallen – von 19,5 auf 18,8 Prozent. Einen ähnlichen Effekt sieht man auch in Sachsen-Anhalt, während in Thüringen die Quote sogar stieg: von 16,7 auf 18 Prozent.Die Langzeitbetrachtung für Sachsen, die Paul M. Schröder vorgenommen hat, zeigt tatsächlich, dass sich die Armutsgefährdungsquote in Sachsen seit Einführung von “Hartz IV” im Jahr 2005 praktisch nicht verändert hat: Sie bewegt sich in leichten Aufs und Abs um die 19 Prozent. Man darf dabei auch nicht vergessen, dass der Median, nach dem sie sich berechnet, die ganze Zeit gestiegen ist, denn das Lohnniveau ist ja in ganz Deutschland die ganze Zeit angestiegen. Die Gruppe derer aber, die in Sachsen nur 60 Prozent des Median-Einkommens zur Verfügung hatten, blieb die ganze Zeit relativ gleich. Und dazu kommt das, was Paul M. Schröder dazu packt als Grafik (und das Bundesamt für Statistik nicht): Die Kurve der Arbeitslosigkeit, die ja bekanntlich im Bund wie im Land die ganze Zeit gesunken ist. In Sachsen allein von 18,3 Prozent im Jahr 2005 auf 9,4 Prozent im Jahr 2013.
Danach hätte die Zahl der Armutsgefährdeten auch in Sachsen wesentlich deutlicher sinken müssen. Ist sie aber nicht. Die beiden Kurven gehen deutlich auseinander. Paul M. Schröder kommentiert das diesmal nicht. Aber die Folgerung ist eigentlich offensichtlich: Die Leute stehen zwar vermehrt in Arbeit – aber Zuwachs erlebten vor allem Niedriglohnjobs. Mit dem Ergebnis, dass immer mehr Sachsen arbeiten – und trotzdem nicht mehr Geld in der Haushaltskasse haben.
Und das wird sich zwangsläufig auch wieder bei den Alterseinkommen auswirken. Der Prozess, der jetzt schon im Westen der Republik sichtbar ist, wird genau so auch im Osten künftig die Armutszahlen bei den Älteren in die Höhe treiben.
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Das Bundesamt für Statistik zu den aktuellen Zahlen: “Während die Armutsgefährdungsquote älterer Menschen in Westdeutschland mit 14,8 % geringfügig höher lag als die Gesamt-Armutsgefährdung von 14,4 Prozent, war die Armutsgefährdung von Frauen und Männern ab 65 Jahren in Ostdeutschland mit 12,5 % deutlich geringer als im Durchschnitt der dortigen Bevölkerung. – Im Saarland, in Rheinland-Pfalz und in Bayern war 2013 das relative Armutsrisiko für ältere Personen am höchsten. Die Armutsgefährdung für Personen ab 65 Jahren betrug im Saarland 19,2 %, in Rheinland-Pfalz 17,8 % und in Bayern 17,0 %. Am geringsten war diese Quote für Personen dieses Alters in Berlin mit 11,0 %, in Sachsen mit 11,5 % und in Hamburg mit 11,7 %.”
Dafür liegt Berlin mit einer Armutsgefährdungsquote von 21,4 Prozent mittlerweile in der Spitzengruppe der Länder – nur Mecklenburg-Vorpommern und Bremen liegen noch drüber. Und: In Berlin ist die Armutsgefährdungsquote seit 2006 permanent angestiegen. Ganz Ähnliches erlebte auch Bremen, seit 2001 passiert das auch in Hamburg. Die westlichen Bundesländer nähern sich also über die Jahre so langsam den Quoten der östlichen Bundesländer an. “Hartz IV” und all die anderen atypischen Beschäftigungsverhältnisse der Gegenwart machen am Ende alle gleich – zumindest all jene, die sich mit ihrer Hände Arbeit ernähren müssen. Sie landen alle in derselben Spirale von zerbrochenen Berufskarrieren und programmierter Altersarmut.
Nur Bayern und Baden-Württemberg können sich aus diesem Prozess noch ein bisschen heraushalten.
Die Pressemitteilung des Bundesamtes für Statistik: www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2014/11/PD14_408_228.html
Direkt zur Analyse des BIAJ ab 2005: http://biaj.de/images/stories/2014-11-19_armutsgefaehrdungsquote-2005-2013-bund-laender-abbildungen.pdf
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