Mühsam nährt sich das Kaninchen. Zwar gibt es, wenn man es recht genau betrachtet, keine wirklich belastbaren Arbeitslosenzahlen. Selbst die Bundesagentur für Arbeit spuckt ja Monat für Monat immer gleich drei verschiedene aus. Für Oktober 2014 zum Beispiel: 2.733.000 (die offizielle Zahl der als arbeitslos Gezählten), 2.090.000 (gewertet nach ILO-Erwerbskonzept) und 3.636.000 Personen (die Zahl der Unterbeschäftigten). Die leichte Herbstbelebung kam auch in Leipzig an.

Auch wenn es für einen Herbstmonat eher eine lütte Belebung ist: Die offizielle Arbeitslosenzahl sank um 189 Personen auf 26.766. Der Blick allein auf die Arbeitslosenzahl allein reicht ja nicht. Parallel wuchs die Stadt ja weiter – und damit auch das Angebot an Arbeitsplätzen. Das geht in Leipzig eher unspektakulär zu, weil weit und breit keine neue Großinvestition passiert. Aber es ist ja auch nicht die Industrie, die die meisten Arbeitsplätze schafft, sondern der Dienstleistungsbereich, gern auch nicht so für voll genommen von den Wirtschaftstheoretikern. Denn nach mächtig Maloche sehen ja Altenpfleger, Callcenter-Agenten, Programmierer, Erzieher usw. nicht aus. Auch wenn’s trotzdem anstrengende Arbeit ist.

In den üblichen Wirtschaftstheorien ist die Erkenntnis wirklich noch nicht angekommen, dass moderne Gesellschaften primär Dienstleistungsgesellschaften sind. Und eine Stadt wie Leipzig ist explizit eine Dienstleistungsstadt mit einem kleinen, feinen Industriesegment und einer vorsichtig wachsenden Forschungslandschaft.

Das kommt vor allem jungen Arbeitsuchenden zugute. Integrationsinstrumente für Langzeitarbeitslose gibt es praktisch keine mehr. Und ob Leipzig einmal wirklich funktionierende Transmissionsriemen für all die Menschen mit Einstiegsbarrieren (Menschen ohne oder mit niedriger Qualifizierung, Alleinerziehende, Ältere …) entwickelt, steht in den Sternen. Alle Projekte, die dazu in den vergangen Jahren entstanden, waren Mini-Projekte oder vielen den Kürzungsrunden der letzten Zeit zum Opfer.

Trotzdem schmilzt der Berg der Bedürftigen ab. Langsam. Viel zu langsam, um den Sozialhaushalt der Stadt wirklich zu entlasten. Denn in der Regel kommen all diese Menschen, die in “Hartz IV” gelandet sind, nur mit großen Mühen in Lohn und Brot. Und der Abschmelzeffekt entsteht weiterhin vor allem durch die (Früh-)Verrentung der Betroffenen.

Immerhin ist eine Schwelle mittlerweile unterschritten: die 70.000. Bis 30. Oktober waren “nur” noch 69.949 Menschen in Leipzig auf die Almosen des Jobcenters angewiesen, davon 52.058 erwerbsfähige Leistungsberechtigte, wie das so schön heißt, von denen aber ein paar 10.000 den Arbeitsmarkt aus verschiedenen Gründen nicht zur Verfügung stehen, und 17.891 Nichterwerbsfähige.

Sie waren alle zusammengefasst in 41.961 Bedarfsgemeinschaften – das waren knapp 400 weniger als im September. Noch sind die Verwerfungen auf den internationalen Märkten also nicht in Leipzig angekommen. Spannend wird, wie sich die neuen Regelungen auf dem Arbeitsmarkt für die Beschäftigten auswirken.

Den 31. Oktober nutzte ja das Bollwerk der deutschen Superreichen, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), um gegen die (ziemlich zaghaften) Einschränkungen der Zeitarbeit und den kommenden Mindestlohn zu wettern. Mit recht harschen Tönen. Wenn einige Leute im Land ihre Aktienpakete bedroht sehen, werden sie bissig und interpretieren die Lage natürlich ganz aus ihrer Sicht. Und nur aus dieser.
“Das niedrige Investitionsniveau in Deutschland ist ein Warnsignal. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit ist offensichtlich bedroht. Der Standort Deutschland bleibt nur dann attraktiv, wenn der Arbeitsmarkt seine Anpassungsfähigkeit behält und genügend Fachkräfte zur Verfügung stehen. Noch können wir uns über sinkende Arbeitslosenzahlen freuen. Wenn die Regierung so weitermacht, ist es damit bald vorbei”, holt Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der INSM, die alten, abgenutzten Erklärungsmuster aus der Mottenkiste.

Dass das niedrige Investitionsniveau nichts, aber auch gar nichts mit dem flexiblen Arbeitsmarkt zu tun hat, wird man den Erfindern der Neuen Sozialen Marktwirtschaft wohl nicht mehr beibringen. Die Thesen, die die INSM diesmal verkündet, grenzen schon an Voodoo. Oder sollte man sagen: Es sind Trojanische Pferde, mit denen verschleiert werden soll, worum es der nicht wirklich so sozialen Truppe INSM geht?

Angefangen mit These 1: “Eine hohe Steuern- und Abgabenquote belastet vor allem Geringverdiener und vernichtet Arbeitsanreize, so dass es sich für die Betroffenen oft nicht lohnt, mehr zu arbeiten. Bräuninger fordert, die Abgabenbelastung im Übergangsbereich zwischen geringfügiger und regulärer Beschäftigung zu optimieren.”

Prof. Dr. Michael Bräuninger ist diesmal keiner der eifrigen Zuarbeiter aus dem Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln, die sonst den Zahlensalat für das INSM anrühren, sondern Inhaber einer privaten Agentur – der Economic Trends Research – in Hamburg. Dabei ist die Studie in weiten Teilen eine durchaus ernsthafte Diskussion der diversen Segmente des Arbeitsmarktes. Aber sie ist auch unübersehbar einseitig. Exemplarisch zu sehen, wenn Bräuniger die Mobilität der Niedrigverdiener diskutiert und allein die Mobilität derer genauer betrachtet, die über den Niedriglohnsektor den Aufstieg in besser bezahlte sozialversicherungspflichtige Arbeit fanden – und dort logischerweise meist dauerhaft blieben. Dass die Mobilität in die andere Richtung – die Arbeitslosigkeit – genauso groß war, erwähnt er nur am Rand.

Ähnlich einseitig betrachtet er die Lohnsteigerungen der letzten Jahren, die in gewisser Weise alle über der Inflationsrate lagen. Was er nicht erwähnt: Das sind Zahlen, die allein die sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze betreffen. Und auch dort nicht alle Bereiche – der stetig wachsende Teil der nicht-tarifgebundenen Beschäftigungsverhältnisse wird von Bräuniger einfach ausgeblendet.

Und was meint er mit der Optimierung der “Abgabenbelastung im Übergangsbereich zwischen geringfügiger und regulärer Beschäftigung”? – Das führt er nicht wirklich aus. Er stellt es nur fest, dass Geringverdiener in Deutschland eben nicht unter zu hohen Steuern ächzen, sondern die gesetzlichen Abgaben ihren Bruttoverdienst zum großen Teil auffressen (Krankenkasse, Rentenkasse, Pflegeversicherung, Haushaltsabgabe usw.).

Einige seiner Thesen wurden in den letzten Jahren schon diskutiert. Zumeist eher von Gewerkschaftsseite. Insofern ist es schon erstaunlich, dass er den steigenden Anteil von Frauen am Erwerbsleben positiv goutiert. Aber die Lösung, wie noch mehr Frauen für die Wirtschaft rekrutiert werden können, ist dann doch wieder nur eine halbherzige: “Ein oftmals noch immer qualitativ und quantitativ unzureichendes Betreuungsangebot verhindert eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen. Nicht nur die Zahl von Betreuungsplätzen, sondern auch die Qualität des Angebots muss daher verbessert werden.”

Und dass ältere Arbeitnehmer schlechte Vermittlungschancen haben, ist auch nicht so neu. Die INSM schlägt vor: “Viele ältere Beschäftigte würden gerne auch über das gesetzliche Renteneintrittsalter hinaus weiterarbeiten. Gesetzliche Regelungen erschweren das unnötig. Der Renteneintritt sollte daher flexibilisiert werden. – Um die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt für die Gruppe 50+ zu verbessern, sollte die sich negativ auf die Beschäftigungsquote auswirkende verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere zurückgenommen und alle Altersgruppen wieder gleich behandelt werden.”

Und dann kann man die ganze Studie rauf und runter scrollen – und es findet sich kein einziger Ansatz, der den panischen Ruf der INSM – “Regierungspläne würgen den Arbeitsmarkt ab”! – rechtfertigt.

Dass Bräuninger die Tatsache diskutiert, dass Deutschland mit seiner Lohnpolitik seine “Wettbewerbsfähigkeit” vor allem gegen die europäischen Nachbarstaaten “verbessert” hat, legitimiert den Ausruf nicht – denn den Preis zahlen nicht nur die Handelspartner mit höherer Arbeitslosigkeit, sondern auch das Exportland Deutschland, das damit nämlich dutzende wichtige Exportmärkte verloren hat. Handel hat nun einmal etwas mit Geben und Nehmen zu tun. Und wer die Handelspartner in Grund und Boden konkurriert, hat irgendwann keine mehr.

Eine einfache Erkenntnis, die aber im Kosmos der INSM einfach keinen Widerhall findet. Die Finanzkrise hat ihr Übriges dazu getan.

Und wie ist das mit dem tollen Job-Motor Zeitarbeit? Da glaubt selbst Prof. Bräuniger noch an die alten Märchen: “Zeitarbeit bietet besonders Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen eine gute Einstiegsmöglichkeit. Durch Überregulierung nimmt die Bundesregierung diesen Menschen Chancen und verspielt die historische Möglichkeit auf Vollbeschäftigung. Statt Einstiegshürden am Arbeitsmarkt abzubauen, will die Politik neue schaffen. Besonders im konjunkturellen Abschwung ist dies fatal.”

Dabei ist er in seiner Studie stellenweise schon längst weiter und stellt auch zutreffend fest, dass eine moderne Dienstleistungsgesellschaft wie die deutsche immer weniger Geringqualifizierte braucht. Die Sprungbretter sind keine. Wer keine Fachqualifikation hat, fällt immer wieder zurück in die Bedürftigkeit. “Langfristig können die gravierenden Beschäftigungsprobleme der Geringqualifizierten durch die Anhebung des Qualifikationsniveaus gemindert werden. So ist Bildung der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit und Niedriglöhnen”, schreibt Bräuninger etwas, was man so eher in einem Diskussionspapier der Gewerkschaften als in einer Studie für die INSM erwarten würde.

Also kein Grund für das von der INSM draufgesetzte Lamento. Eher Zeit, das Denken von Wirtschaftserfolg nicht immer auf dem Buckel der Beschäftigten auszutragen und aufzuhören, Zeitarbeit und Mini-Jobs als Allheilmittel für die ganze Gesellschaft anzupreisen.

Der Trend geht sowieso woanders hin. Auch das deutet Bräuninger an, wenn er über die Preis-Widersprüche im Dienstleistungsbereich spricht. Und da wäre man dann mitten in Leipzig und einer Entwicklung mit einer Menge Fragezeichen. Zeitarbeit, Niedriglohn und Mini-Job haben wir alles schon. Aber was kommt nun?

Zur Mitteilung der INSM:
www.insm.de/insm/Presse/Pressemeldungen/pressemeldung-regierungsplaene-wuergen-den-arbeitsmarkt-ab.html
Die Studie als PDF zum download.

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