Es gibt Statistiken in Deutschland, denen misstraut man von Jahr zu Jahr mehr. Auch weil die Behörden und Ämter, die sie herausgeben, dazu neigen, sie nach zum Teil veralteten Mustern zu interpretieren. Das betrifft auch jene Statistik, die das Sächsische Landesamt für Statistik am Dienstag, 9. September, veröffentlichte: die zur Pro-Kopf-Arbeitszeit in Sachsen. Diese ist seit 2012 gesunken, so teilte das Amt mit.

“1.501 Stunden betrug die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit eines Erwerbstätigen im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge im Jahr 2012. Mit 24 Stunden über dem Sachsendurchschnitt (1.477 Stunden) lag dieser Kreis damit an der Spitze der sächsischen Kreise, gefolgt vom Landkreis Meißen mit 1.498 Stunden. Der geringste Wert je Erwerbstätigen wurde in der Kreisfreien Stadt Leipzig mit 1.438 Stunden ermittelt.”

Da stutzt der Leser natürlich. Wie das? Sind die Großstädter fauler als die Landkreisbewohner? Oder haben sie derart schöne Arbeitsverträge, dass sie schon quietschfidel in den Feierabend düsen, wenn in der Sächsischen Schweiz noch malocht werden muss?

Eigentlich ganz simple Fragen.

Aber die deutschen Statistiker stecken in ihren Interpretationsfallen. Und es fällt ihnen augenscheinlich schwer, sie zu verlassen. Die Zahlen zur Pro-Kopf-Arbeitszeit (Arbeitsvolumen) stammen ursprünglich aus dem Arbeitskreis “Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder”, der diese Werte für das gesamte Bundesgebiet ermittelt. Und auch gern und offen eingesteht, dass man für regionale Details gar nicht das Sensorium hat.

Das Arbeitsvolumen definiert der Arbeitskreis so: “Das Arbeitsvolumen umfasst die tatsächlich geleistete Arbeitszeit aller Erwerbstätigen, die als Arbeitnehmer (Arbeiter, Angestellte, Beamte, Richter, marginal Beschäftigte, Soldaten) oder als Selbstständige beziehungsweise als mithelfende Familienangehörige eine auf wirtschaftlichen Erwerb gerichtete Tätigkeit ausüben. Hierzu zählen auch die geleisteten Arbeitsstunden von Personen mit mehreren gleichzeitigen Beschäftigungsverhältnissen. Nicht zum Arbeitsvolumen gehören hingegen die bezahlten, aber nicht geleisteten Arbeitsstunden, beispielsweise Jahresurlaub, Elternzeit, Feiertage, Kurzarbeit oder krankheitsbedingte Abwesenheit.”

Was in der Definition fehlt: Auch die nicht bezahlten Überstunden werden nicht erfasst. Was für ein gewaltiger Brocken das mittlerweile in Deutschland ist, darüber berichteten am 8. September unter anderem der “Spiegel” und das “Manager Magazin”. Danach arbeiten die Deutschen im Schnitt nicht die offiziell genannten 37,7 Stunden pro Woche, sondern 40,5 Stunden. Und 58 Prozent der Überstunden werden nicht bezahlt. Und damit auch nicht erfasst. Es gibt immer mehr Unternehmer, die mittlerweile geradezu erwarten, dass ihre Angestellten unbezahlte Überstunden leisten.

Das heißt: Bundesweit werden im Schnitt rund 4 Prozent der geleisteten Arbeitsstunden nicht bezahlt und nicht gezählt. Das ist jetzt nur der bundesweite Wert. Aber wenn das auf die 1.477 Arbeitsstunden, die für einen erwerbstätigen Sachsen gezählt wurden, ebenso zutrifft, dann hat jeder Sachse 2012 rund 63,5 Stunden unbezahlt mehr gearbeitet.

Die Landesstatistiker in Kamenz haben die Zahlen auch nach Branchen ausgewertet: “Betrachtet man die Pro-Kopf-Arbeitszeit innerhalb der einzelnen Branchen so erkennt man deutliche Unterschiede. Mit 1.728 Stunden arbeitete im Baugewerbe ein Erwerbstätiger in Sachsen am längsten. Der höchste Wert wurde hier im Vogtlandkreis mit 1.743 Stunden verzeichnet, gefolgt vom Erzgebirgskreis sowie dem Landkreis Görlitz mit jeweils 1.737 Arbeitsstunden je Erwerbstätigen. Im Gegensatz dazu betrug die durchschnittliche Arbeitszeit je Erwerbstätigen im Bereich Öffentliche und sonstige Dienstleister, Erziehung und Gesundheit nur 1.414 Stunden. Dabei hatten hier die Kreisfreien Städte Dresden mit 1.442 Stunden und Leipzig mit 1.436 Stunden je Erwerbstätigen die höchsten Arbeitszeiten. Ursache für die Unterschiede zwischen den Branchen waren z. B. die unterschiedlichen tariflichen bzw. individuellen Arbeitszeiten”, versuchen die Statistiker diese Zahlen zu erklären.

Dazu kommt, dass der Öffentliche Dienst auch noch solche Dinge wie Teilarbeitszeit, halbe und viertel Stellen kennt. Je mehr solcher “flexiblen” Arbeitsmöglichkeiten es gibt, umso geringer ist logischerweise die Durchschnittsarbeitszeit der Beschäftigten.

Was dann natürlich die Sache mit dem gesamten Arbeitsvolumen recht verworren macht.Wie das Statistische Landesamt mitteilt, wurden in Sachsen im Jahr 2012 von den rund 1,95 Millionen erwerbstätigen Personen reichlich 2,9 Milliarden Arbeitsstunden erbracht. Das waren eine Million Stunden weniger als 2011. “Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es 2012 einen Arbeitstag weniger gab. Während sich das Arbeitsvolumen in den Kreisfreien Städten um fast acht Millionen Stunden (bzw. 0,7 Prozent) erhöhte, verringerte es sich in den Landkreisen um reichlich neun Millionen Stunden (bzw. -0,5 Prozent) gegenüber dem Vorjahr”, versuchen die Statistiker eine Erklärung für den Zahlensalat.

Und sie deuten eigentlich damit an, dass die alten Erklärungen nicht stimmen können. Denn dass das Arbeitsvolumen in den Landkreisen sank und in den Kreisfreien Städten stieg, hat ja damit zu tun, dass in den Großstädten neue Arbeitsplätze entstanden, während in den Kreisen etliche Unternehmen und Dienstleistungseinrichtungen schlossen. Die Veränderung des Arbeitsvolumens im Freistaat Sachsen entspricht ziemlich genau der Veränderung in der Bevölkerung.

In Leipzig wuchs das amtlich registrierte Arbeitsvolumen um 1,8 Prozent. Die gemessene Pro-Kopf-Arbeitszeit aber sank um 0,7 Prozent auf 1.438 Stunden. Dabei war die Zahl der abgerechneten Arbeitsstunden im produzierenden Gewerbe in Leipzig immer deutlich höher als dieser Wert, lag in der Regel um die 1.600 Stunden. Daran wird sich auch 2012 nichts geändert haben. Der niedrige Wert bei den Pro-Kopf-Stunden ergibt sich in Leipzig aus den vielen Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich, wo nun schon seit Jahren allerlei flexible Arbeitszeitmodelle dominieren. Die Leute werden nicht mehr in festen Arbeitsrhythmen beschäftigt, sondern “nach Bedarf” eingesetzt, stundenweise, projektbezogen oder wie klassische Zeitarbeiter in bestimmten Stoßzeiten oder “Saisonverträgen”. Dazu kommt die dauerhaft hohe Zahl von geringfügig entlohnten Beschäftigten (2012 waren das fast 49.000), was die Durchschnittsstundenzahlen noch weiter senkt.

Das statistisch ausgewertete Arbeitsvolumen ist also mittlerweile ein einziger Mischmasch aus teilweise traditionellen 40-Stunden-Wochen, verschiedensten Tarifverträgen und all den Experimenten mit einem flexibel eingesetzten Arbeitnehmer, der von festen Arbeitsrhythmen nur noch träumen kann.

Deswegen verraten die Pro-Kopf-Arbeitszahlen eigentlich nicht, dass die Leute im Osterzgebirge länger und härter arbeiten als die Leipziger. Sie verraten aber, wo mittlerweile in Sachsen die Hochburgen der Niedriglöhner und flexiblen Arbeitszeitmodelle sind. Und die eigentliche Hochburg dabei ist Leipzig. Und dann kommt lange, lange nichts. Und dann kommt Chemnitz. In einer der Tabellen des Landesamtes auch schön zu sehen: Mit 13 Prozent hat Leipzig von allen Kreisen den höchsten Anteil an marginal Beschäftigten.

Die Zahlen aus dem Statistischen Landesamt: www.statistik.sachsen.de/download/200_MI_2014/MI-18414.pdf

“Manager Magazin” zu unbezahlten Überstunden: “Immer weniger Überstunden werden bezahlt”: www.manager-magazin.de/politik/deutschland/immer-weniger-ueberstunden-werden-bezahlt-a-990606.html

Arbeitskreis “Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder”: www.aketr.de

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