Die Arbeitslosenzahlen in Deutschland sind all die vergangenen Jahre gesunken, so sehr, dass eine sparfreudige Regierung auch gleich mal die meisten Eingliederungsinstrumente eingedampft hat. Doch damit stehen all jene, die bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt jede Hilfe brauchen, erst recht im Regen. Und aus der Kundenbetreuung der deutschen Jobcenter wird ein wildes Sanktionsregime. Die Bestrafungen der Jobcenter-Klienten erreichen neue Rekordstände.
Das hat jetzt Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) wieder aus dem Zahlenmaterial der Bundesarbeitsagentur herausgefiltert, die sich so gern als hilfreicher Förderer beim Weg zurück in den Arbeitsmarkt geriert. Dazu passen aber die ausufernden Sanktionszahlen in den Jobcentern, die eine immer kleinere Gruppe von Menschen betreffen, die oft gleich mehrere Handicaps bei der Arbeitssuche haben, überhaupt nicht.
“Nie zuvor wurden von den Jobcentern in einem 12-Monatszeitraum mehr neue Sanktionen gegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte verhängt und von der Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) erfasst als in diesem bisher aktuellsten Berichtszeitraum”, stellt Schröder fest, nachdem er die Jahreszahlen von 2009 bis 2013 und dann extra den Zeitraum Mai 2013 bis 2014 verglichen hat. Mit diesem letzten Zwölf-Monats-Abschnitt hat er auch schon die Arbeit der neuen CDU/CSU/SPD-Regierung erfasst, die sich in allerlei Reförmchen verzettelt, aber die völlig ins Irre laufende “Hartz IV”-Gesetzgebung nicht antastet, augenscheinlich auch nicht antasten will.
“Das bisherige 12-Monatsmaximum von 1.028.389 neu festgestellten Sanktionen in den 12 Monaten von Dezember 2011 bis November 2012 wurde, nach folgendem leichtem Rückgang, erstmals in den 12 Monaten von Mai 2013 bis April 2014 übertroffen. (1.030.405) Nach September 2013, oder anders ausgedrückt, in den sieben Monaten nach der Bundestagswahl am 22. September 2013 stieg die Summe der im Verlauf von 12 Monaten von den Jobcentern neu festgestellten Sanktionen Monat für Monat an. In den 12 Monaten von Oktober 2012 bis September 2013 wurden von den Jobcentern insgesamt 996.800 Sanktionen neu festgestellt und von der Statistik der BA erfasst.
Und als kleines Streiflicht für den so gern bejubelten sächsischen Arbeitsmarkt: “Sachsen und Bremen sind die beiden einzigen Länder, deren Anteil an den neu festgestellten Sanktionen seit 2009 von Jahr zu Jahr gestiegen ist und im aktuellsten 12-Monatszeitraum den höchsten Wert erreichte.”
Das hat eine Menge mit der Arbeit der hier verorteten Jobcenter und einer ebenso von Kontrolle und Sparzwang besessenen Lokalpolitik zu tun, denn die Jobcenter werden gemeinsam von Arbeitsagentur und Kommunen betrieben. “Der Anteil Sachsens an den in der Bundesrepublik Deutschland neu festgestellten Sanktionen stieg von 6,29 Prozent in 2009 auf 7,18 Prozent in den 12 Monaten von Mai 2013 bis April 2014”, stellt Schröder fest.
Das könnte man auch interpretieren als ein Anziehen der Daumenschraube den Betroffenen gegenüber, auch wenn die Vermittlungszahlen Monat für Monat zeigen, dass gerade die Langzeitbetreuten in den Jobcentern Sachsens so gut wie keine Chance auf Vermittlung haben. Der sächsische Arbeitsmarkt ist nicht nur durch einen starken Druck aufs Lohnniveau geprägt, sondern auch durch eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen, die neben der niedrigen Entlohnung auch noch eine höchstmögliche Flexibilität mit sich bringen. Beides Dinge, die sich weder mit Familiengründungen, gesundheitlichen oder altersbedingten Beeinträchtigungen vereinbaren lassen. Und viele dieser Arbeitsverhältnisse sind zwar prekär und befristet – verlangen aber trotzdem Facharbeiterqualifikationen. Beschäftigungsmodelle, die noch vor wenigen Jahren dazu dienten, wirklich Arbeitsuchende mit niedrigem Qualifikationsniveau möglichst schnell in eine neue Tätigkeit zu bekommen, werden mittlerweile auch in Bereichen angewendet, die Spezialisierungen, hohe berufliche Qualifikationen oder sogar Hochschulabschlüsse zur Voraussetzung haben.
Nur reagieren Sachsens Jobcenter auf diese Veränderungen gar nicht. Die Sanktionsmechanismen wurden allesamt von Leuten ausgedacht, die an die geheimnisvolle Aufnahmefähigkeit eines unsichtbaren Marktes glauben und Menschen, denen es schwer fällt, eine existenzsichernde Arbeit zu finden, für unwillige Arbeitsverweigerer halten, die man fürs “Nicht-Arbeiten-Wollen” bestrafen muss. Ein Unding eigentlich in einem Land, das sichtlich nicht in der Lage ist, jedem Suchenden auch eine sinnvolle und bezahlte Arbeit anzubieten.
Aber in Sachsens Jobcentern gibt es keine Gnade mehr. Die Zahl der neu registrierten Sanktionen stieg von 45.706 im Jahr 2009 auf 71.586 im Jahr 2013. Und die Zahl aus dem 12-Monatszeitraum von Mai 2013 bis April 2014 deutet darauf hin, dass die bürokratische Maschinerie noch wilder drauflos sanktioniert: 74.003 neue Sanktionen wurden in diesem Zeitraum verhängt. 2009 kamen auf jeden erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in Sachsen 1,63 Sanktionen im Schnitt, im jüngsten Zeitabschnitt waren es dann schon 2,26. Noch grimmiger sanktioniert wird nur noch in Thüringen und Sachsen-Anhalt.
Die deutschlandweit gestiegenen Sanktionszahlen aber erzählen noch etwas anderes: Sie legen die ganze Absurdität des “Hartz IV”-Systems offen, in dem die jeweils zuständigen Arbeitsministerinnen und Arbeitsminister zwar immer die herrliche Gelegenheit sahen, Milliarden für die Vermittlung und die Integration der Betroffenen einsparen zu können. Aber was passiert, wenn diese Betroffenen nicht einmal mehr diese Unterstützungsinstrumente bekommen? Dann haben die Jobcenter nur noch die Sanktionen, um ihre “Kunden” quasi mit der Peitsche in den Arbeitsmarkt zu treiben. Was in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt aber geradezu Unfug ist, weil es für diese Personen keine adäquaten Arbeitsangebote gibt.
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“Die insgesamt 1.030.405 neu festgestellten Sanktionen im 12-Monatszeitraum Mai 2013 bis April 2014 trafen insgesamt 468.895 ‘neu sanktionierte erwerbsfähige Leistungsberechtigte'”, stellt Paul M. Schröder noch fest.
Wie sehr sich das Ganze in Sachsen zuspitzt, zeigt auch hier die Zahl der neu Sanktionierten. Während die Zahl der Sanktionen von Jahr zu Jahr steigt, sinkt die Zahl der neu Sanktionierten kontinuierlich. Werden 2011 noch 36.013 Personen in Sachsens Jobcentern als neu Sanktionierte registriert, waren es im jüngsten 12-Monats-Zeitraum nur noch 32.761. Man lässt die staatliche Sanktionswut also an einer immer kleiner werdenden Personengruppe aus – ohne Konzept, ohne Lösungsangebote. Aber auch das ist ein deutschlandweites Phänomen: Gerade jene Personengruppe, die die meiste Hilfe bei einem Schritt in eine existenzsichernde Beschäftigung braucht, wird behandelt, als gäbe es in Deutschland eine gesetzliche Arbeitspflicht. Da kommt ein ganz altes und sehr bedrohliches Behördendenken zum Vorschein.
Oder mit den Worten von Paul M. Schröder etwas faktischer formuliert: “Vergleicht man die Veränderung der Zahl der neu festgestellten Sanktionen mit der Veränderung der durch diese Sanktionen sanktionierten erwerbsfähigen Leistungsberechtigten so zeigt sich: Der Anstieg der neu festgestellten Sanktionen gegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ist im Wesentlichen das Ergebnis einer häufigeren (mehrfachen) Sanktionierung einzelner erwerbsfähiger Leistungsberechtigter im Verlauf eines Jahres. 86,5 Prozent (262.286) des Anstiegs um 303.245 neu festgestellte Sanktionen zwischen 2009 und dem 12-Monatszeitraum Mai 2013 bis April 2014 ergeben sich rechnerisch aus der häufigeren (mehrfachen) Sanktionierung sanktionierter erwerbsfähiger Leistungsberechtigter im Verlauf eines Jahres bzw. eines 12-Monatszeitraums.”
Von Zuckerbrot und Peitsche ist eigentlich nur noch die Peitsche übrig geblieben.
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