Für Annekatrin Klepsch, jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, ist es "mit 323 Seiten der bisher dickste, inhaltlich aber der dünnste Jugendbericht", den die sächsische Landesregierung je vorgelegt hat. In der Kabinettssitzung am 27. Mai hat Sachsens Sozialministerin Christine Clauß (CDU) diesen vierten sächsischen Jugendbericht vorgelegt. Ein Monstrum - auch als Download mit 8 MB.
Wäre der Bericht auch so vollgestopft mit Fakten und Informationen, das Ministerium hätte ein Bienchen verdient. Hätte es ihn gar selbst verfasst, hätte es auch ein Bienchen verdient. Doch mittlerweile greift auch in Dresden eine Politik des Auslagerns. Berichte schreibt man nicht mehr selbst, sondern gibt sie in Auftrag – diesmal bei der empirica ag in Berlin.
Die freilich kann natürlich keine eigenen Daten erzeugen, sondern muss nehmen, was der Freistaat selber in den letzten Jahren gesammelt hat. Und das Ergebnis ist mau. Wesentliche Bereiche hat die Landesregierung einfach nicht wahrgenommen. Ein solcher ist zum Beispiel die Suchtproblematik. “Die Ausführungen zum problematischen Jugendalltag beschränken sich auf die Betrachtung des Alkoholkonsums bei jungen Menschen”, schreiben die empirica-Autoren in der Erklärung zum Thema. “Den Verzicht auf die zusätzliche Erfassung des Konsums illegaler Drogen begründet der Auftragnehmer mit der Betroffenheit einer nur sehr kleinen Gruppe unter allen Jugendlichen. Er bezieht sich dabei auf eine Schülerbefragung der neunten Jahrgangsstufe aus dem Jahr 2009. Da es keine aktuellen Studien zum Konsum illegaler Drogen durch Kinder und Jugendliche in Sachsen gibt, ist diese Argumentation empirisch nicht sicher belastbar, gleichwohl aber konkreter zu hinterfragen.”
Und da redet eine Regierung alle Nase lang vom zunehmenden Drogenproblem im Land, ohne belastbare Daten zu haben? – Das nennt man dann wohl Hemdsärmel-Politik. Eine Suchtpolitik einfach auf die steigenden Fallzahlen in den Beratungsstellen aufzubauen, ist eher ein Stochern im Nebel als eine systematische Problemerfassung. Der Volksmund kennt dafür die Formel “wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist”.
Aber selbst mit dem rudimentären Datenmaterial lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die auch einige Prozesse erklären. Zu Beispiel zum forcierten Abwanderungstrend junger Leute in die Großstädte.
“Die Analyse der Sozialstrukturdaten einiger ländlicher Regionen Sachsens lässt den Schluss zu, dass angesichts demografischer Entwicklungen eine Gleichaltrigengesellung und -erfahrung, z. B. innerhalb einer peer group, oft nur schwer oder gar nicht mehr möglich ist. Resultierend aus dieser Tatsache ist zum einen eine Vereinzelung von Jugendlichen zu konstatieren, andererseits führt es zu Abwanderungen von jungen Menschen dahin, ‘[…] wo andere junge Menschen leben (‘Schwarmverhalten’)26′”, heißt es in der kurzen Stellungnahme der Regierung im Bericht. “Parallel dazu ist in diesen Regionen ein Mangel an jugendintegrierenden Infrastrukturen charakteristisch. Eine Ausdünnung und Zentralisierung von jugendkulturellen Gelegenheitsstrukturen ist nach wie vor zu beobachten, wie bereits vor 10 Jahren im 2. KJB festgestellt wurde. Demografisch ungleiche Entwicklungen in den Städten und Gemeinden werden sich somit verstärken.”
Alles Kritikpunkte an einer wirklichkeitsfernen Politik, die auch Annekatrin Klepsch so sieht. “Der Bericht wurde bewusst an ein fachfremdes Institut übertragen, das gewissenhaft Zahlen zusammengetragen und Befragungen durchgeführt hat. An fachlicher Auseinandersetzung und Bewertung fehlt es jedoch weitgehend, erst recht an sinnvollen Handlungsempfehlungen. Manche Daten stammen zudem von 2009 (!). Personalsituation, Finanzierung und Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit im ländlichen Raum werden referiert, aber nicht kritisch hinterfragt. Kurzum: Es ist ein Bericht ganz nach dem Geschmack der Staatsregierung”, stellt sie fest. “Liest man die Zahlen etwas kritischer, bestätigt sich ein freilich schon bekannter Befund: Jugendhilfestrukturen im ländlichen Raum sind unterfinanziert und personell unterbesetzt. Die Abwanderungsbereitschaft und die tatsächliche Abwanderung der Jugend aus Sachsen halten an.”
Ähnlich frustrierend empfindet auch die SPD das, was in dem dicken Wälzer steht.
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“Laut Ministerin Clauß (CDU) sind 85 Prozent der Jugendlichen im ländlichen Raum unzufrieden mit den Freizeitangeboten. Das ist das Ergebnis schwarzgelber Kürzungen in der Kinder- und Jugendarbeit, die deutliche Spuren hinterlassen haben”, stellt Henning Homann, kinder- und jugendpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, fest. “2010 hatte die Regierung die Kinder- und Jugendarbeit in Sachsen massiv gekürzt. Standen 2009 noch knapp 15 Millionen Euro in den Städten und Gemeinden zur Verfügung, sind es 2014 nur noch knapp 10 Millionen Euro. Auch die Jugendverbandsarbeit wurde von 3,5 auf 2,7 Millionen Euro zusammengestrichen.”
Es sei gut, wenn mehr Geld für Kindertagesstätten und frühe Hilfen ausgegeben werde. “Wenn aber gleichzeitig bei der präventiven Jugendarbeit im ländlichen Raum gespart wird, macht das keinen Sinn. Die Auswirkungen sind am Stärksten im Bereich der Hilfen zur Erziehung abzulesen”, kritisiert Homann die wankelmütige Jugendpolitik der Staatsregierung. “Die Kostenexplosion für Familien, die in ihrer Not staatliche Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder benötigten, zeigt, dass dort zu wenig getan wird. So stiegen die Aufwendungen für Hilfen zur Erziehung in Sachsen in der Zeit von 2005 bis 2011 von ca. 156 Millionen Euro auf über 215 Millionen Euro. Das ist eine Steigerung von rund 38 Prozent binnen acht Jahren. Wir müssen die Probleme von Kindern und Jugendlichen lösen, bevor sie entstehen. Deshalb hätten die präventiven Ansätze der Kinder- und Jugendarbeit ausgebaut werden müssen, statt sie zu kürzen.”
Aber irgendwie scheint die Welt der Jugendlichen der aktuellen sächsischen Staatsregierung gänzlich fremd. Die jungen Menschen tauchen im Wahrnehmungsfokus erst auf, wenn sie als “Problem” erscheinen. Etwa wenn sie die Schule ohne Abschluss verlassen. Na hoppla? Wie konnte das passieren? Ist Sachsens Schule denn nicht supertoll? – Also wird im nachhinein versucht zu reparieren: “Angesichts des zu hohen Anteils der Abgänger von Schulen und Berufsschulen, welche über keinen Schul- bzw. Berufsschulabschluss verfügen, sind darüber hinaus alle in diesem Prozess beteiligten Akteure gefordert, ihre jeweiligen Handlungsmöglichkeiten bei der Unterstützung der Übergänge von Schule in Ausbildung bzw. Studium sowie in einen Beruf zu prüfen und im Netzwerk auszuschöpfen”, heißt es dazu in der Stellungnahme der Regierung. Einer dieser Punkte, an denen das Kind längst in den Brunnen gefallen ist.
“Die Jugendphase ist eine eigenständige Lebensphase, die von der sächsischen Regierungspolitik zu wenig Beachtung erhält. Die Handlungsempfehlungen des dritten Kinder- und Jugendberichts von 2009 sind zum überwiegenden Teil unbeachtet geblieben”, zieht Homann Bilanz für tatsächlich fünf Jahre nicht-existente Jugendpolitik in Sachsen. “So wurde weder die Schulsozialarbeit flächendeckend ausgebaut, noch die Betreuungssituation in den KITA verbessert. Statt die Jugendarbeit zu intensivieren, wurde diese zudem gekürzt. Wenn man die jungen Menschen als ?Experten in eigener Sache? verstehen will, darf man ihnen nicht zeitgleich die Mittel entziehen. Damit werden sie ihrer Perspektiven beraubt.”
Direkt zum Jugendbericht:
www.sms.sachsen.de/download/Verwaltung/Vierter_Saechsischer_Kinder-_und_Jugendbericht_2.pdf
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