Da kannten die großen deutschen Medien kein Halten. FAZ Online verkündete am 31. Januar: "Zahl der Niedriglöhner seit Jahren überschätzt". Die "Welt" meldete: "Bundesagentur verrechnet sich bei Niedriglöhnern", der "Spiegel" meint, die Zahl der Aufstocker sei nun um ein Drittel geringer. Nur der "Tagesspiegel" wurde etwas genauer: Weniger Vollzeit-Beschäftigte unter Hartz-IV-Aufstockern. Grund für die seltsame Meldungsflut: eine kleine Umstellung der Meldepflicht bei der Bundesarbeitsagentur.
Dass gleich reihenweise Zeitungen und Magazine verkündeten, die Zahl der “Aufstocker” sei damit deutlich nach unten korrigiert worden, stieß natürlich einem Mann auf, der sich wie kein Anderer intensiv mit den Zahlenwerken der Bundesarbeitsagentur beschäftigt: Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ).
Dass nun ausgerechnet bei heiklen Thema “Aufstocker” zu hohe Zahlen kursierten, konnte er wirklich nicht glauben. Also hat er sich – anders als die meisten so selbstsicheren Redakteure – das Zahlenwerk genauer angeschaut.
Für den Berichtsmonat Juni 2013 wurden von den Arbeitgebern in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen ihrer Meldepflichten zur Sozialversicherung 921.000 (4,1 Prozent) weniger sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte gemeldet als für den Berichtsmonat Juni 2011. bestätigt er einen Fakt, der in diesem Fall sogar stimmt.
Aber schon wenn es um “sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte” und andere Beschäftigte geht, versagt ja das Sensorium in den meisten Redaktionsstuben. Oft kann man sich dort gar nicht vorstellen, dass es mittlerweile viele, sehr viele andere Varianten von Beschäftigung gibt, die weder Vollzeit noch sozialpflichtig noch versichert sind. Was sie übrigens auch nicht von der hohen Politik unterscheidet, die zwar in den vergangenen 20 Jahren solche Beschäftigungsverhältnisse mit immer neuen Gesetzen befördert hat – aber nie auch nur eine Minute überlegt hat, was das eigentlich für die starren Bezahlmodelle für Renten- und Krankenkassen bedeutet. Oder für die Frage, wie viele Menschen aus solchen Verhältnissen als “Aufstocker” wieder beim Jobcenter landen, obwohl sie Vollzeit und oft noch mehr arbeiten.
Ein Aspekt dabei ist das, was ebenfalls sehr generell “Teilzeitarbeit” genannt wird. Dahin sind mit der Veränderung der Meldepflicht nämlich Tausende Beschäftigungsverhältnisse rein statistisch gewandert.
Paul M. Schröder: “Der Bestand der gemeldeten Teilzeitbeschäftigten stieg im entsprechenden Zeitraum um 1,826 Millionen (32,2 Prozent). Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten stieg von 20,0 Prozent (Juni 2011) auf 25,6 Prozent (Juni 2013).”
Was die eigentliche Meldung zu diesem Statistik-Bahnhof ist. Denn diese Zahl zeigt zum ersten Mal, wie viel “Arbeit” in den letzten Jahren in das schwammige Feld der Teilzeitbeschäftigung schon verschoben wurde.
“Diese Veränderungen sind zu einem erheblichen Teil Ergebnis von Überprüfungen und Korrekturen durch die meldenden Arbeitgeber im Zusammenhang mit der Umstellung des Meldeverfahrens zur Sozialversicherung seit Dezember 2011. Mit der faktischen ‘Ummeldung’ von über einer Million Vollzeitbeschäftigen (“alt”) zu den Teilzeit beschäftigten (“neu”), insbesondere von Vollzeitbeschäftigten (“alt”) in den unteren Entgeltgruppen, veränderte sich die Gehaltsstruktur der Vollzeitbeschäftigten nach dem neuen Erhebungsverfahren (“neu”) deutlich nach oben”, so Schröder.
Denn jetzt waren ja die “Aufstocker” raus aus dieser Kategorie und wurden dafür unter “Teilzeit” gezählt. Was eine deutlich klarere Sicht auf den (prekären) deutschen Arbeitsmarkt ist.
“Allein die Zahl der Vollzeitbeschäftigten (“alt”) mit einem Bruttoentgelt von bis zu 1.000 Euro wurde mit der Umstellung des Meldeverfahrens nahezu halbiert”, stellt Schröder fest. “Dennoch wurden für den Berichtsmonat Dezember 2012 noch immer über 500.000 sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte mit einem Bruttoentgelt von lediglich bis zu 1.000 Euro gemeldet.”
Von dem man bekanntlich auch in Leipzig nicht leben kann. Nur sieht die Sache für die beschäftigenden Firmen nicht ganz so beschämend aus, wenn es eben “nur” Teilzeitkräfte sind, die weniger als 1.000 Euro bekommen. Dass sie sich damit nirgendwo ordentlich versichern können, interessiert diese Firmen in der Regel nicht. Sie sind ja durch die Klassifizierung “Teilzeit” schon irgendwie aus dem Schneider. Wie die Beschäftigten dann auf ein auskömmliches Einkommen kommen, interessiert sie nicht.
“Etwa 1,8 Millionen sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte wurden mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von unter 1.470 Euro (etwa 8,50 Euro pro Stunde) gemeldet”, rechnet Schröder noch aus.
Schröder: “In aktuellen Presseartikeln (31.01./01.02.2014), wie “Zahl der Niedriglöhner seit Jahren überschätzt”, “Bundesagentur verrechnet sich bei Niedriglöhnern” (“Heikle Statistik-Panne: …”), “Statistikbereinigung: Rund ein Drittel weniger Hartz-IV-Aufstocker in Vollzeit” und “BA-Statistik liefert Mindestlohn-Gegnern Nahrung”, um nur einige zu nennen, bleiben die Effekte aufgrund der geänderten Meldungen der Arbeitgeber unerwähnt. Der Blick auf diese Veränderungen wird in diesen Presseartikeln reduziert auf die sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten (“alt” und “neu”), die ergänzend zu ihrem Erwerbseinkommen “Hartz IV” (Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II) beantragt und erhalten haben.
Dies waren im Juni 2011 nach altem Erhebungsverfahren 328.599, darunter 38.011 Auszubildende. Für die Monate Juli 2011 bis November 2012 wurden von der Statistik der Bundesagentur für Arbeit wegen der von den Arbeitgebern nur schrittweise realisierten Umstellung der Meldungen keine entsprechenden Daten veröffentlicht. Im Juni 2013 wurden auf Grundlage des neuen Erhebungsverfahrens 218.446 sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte mit ergänzendem Arbeitslosengeld II-Bezug berichtet, darunter 31.563 Auszubildende.”
Mit Betonung auf “sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigte”. Dadurch, dass die Personen, die nun statistisch in die Kategorie “Teilzeit” umgeschichtet wurden, dadurch noch immer kein auskömmliches Einkommen haben und “aufstocken” müssen, ändert das nicht die Bohne.
“Vor dem oben dargestellten Hintergrund – den Folgen der Umstellung der Arbeitgebermeldungen zur Sozialversicherung insbesondere in den unteren Entgeltklassen – sind die genannten Presseartikel unseriös”, stellt Schröder fest. “Eine ‘Statistik-Panne’ oder ein Verrechnen der Statistik der Bundesagentur ist hier nicht zu erkennen (eher eine jetzt offensichtlich willkommene ‘Melde-Panne’ der Arbeitgeber), und auch die ‘Nahrung für Mindestlohngegner’ erhält ihren ‘Nährwert’ erst durch die eher unseriöse Berichterstattung.”
Nicht einmal die Zahl der Niedriglöhner hat sich verringert. Nur tauchen sie nun noch deutlicher dort auf, wo Staat und Politik Schlupflöcher für Arbeitgeber geschaffen haben, um Beschäftigung jenseits der klassischen “sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung” aufzubauen. Was übrigens auch alle Probleme mit den Sozialversicherungen auf die Arbeitnehmer abwälzt und sie mehrfach zum Freiwild macht – für Krankenkassen, Rentenkassen, Jobcenter…
Das nennt man normalerweise Entrechtung, gepaart mit Nötigung.
Dass gleichzeitig der “Hartz-IV-Mythos” durch eine aktuelle Studie als falscher Mythos entlarvt wurde, macht die Statistik noch deutlicher. “Spiegel Online” berichtete darüber kurz nach den Meldungen über die nicht existierende “Statistik-Panne” unter dem Titel ” Wirtschaftsmacht Deutschland: Studie entzaubert Hartz-Mythos”:
Die Analyse des BIAJ mit Tabellen und Zahlen zu den statistischen Verschiebungen und den Einkommensgruppen:
http://biaj.de/images/stories/2014-02-05_svb-vollzeit-entgelt-alt-neu-verfahren.pdf
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