Warum schwanken menschliche Gesellschaften nun seit 10.000 Jahren immer wieder zwischen den Extremen? Zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Repression und Freiheit? Und warum wählen sie selbst dann, wenn sie wählen dürfen, meist lieber Sicherheit und Obhut als Moderne und Veränderung? - Kann es sein, dass Psyche und Gesundheitsempfinden dabei eine Rolle spielen?

Kein neues Thema für die Leipziger Soziologen Brähler, Decker und Kiess. Diese Faktoren haben sie auch in ihren großen Studien zum Rechtsextremismus immer wieder abgefragt. Hinter vielen Vorurteilen und Aggressionen stecken natürlich Ängste und Unsicherheiten.

Auch die im Prinzip freien Wähler in einer funktionierenden Demokratie lassen sich von solchen Ressentiments treiben. Und nicht nur sie. Auch Medien tanzen auf dieser Bühne, wohl wissend, dass man mit der Angst der Menschen Aufmerksamkeit erzeugt – aber auch neue Zwänge. Immer neue Katastrophennachrichten stumpfen nicht nur ab – sie erzeugen auch einen Suchtpegel, der den Fokus der Berichterstattung auch immer wieder auf immer größere Katastrophen lenkt.

Dabei gerät eine ernsthafte Diskussion über die Probleme und die Lösungsvorschläge für die Gegenwart völlig aus dem Blickfeld. Auch Politik diskutiert nicht mehr mit. Der aktuelle Bundestagswahlkampf ist geradezu geprägt von der Diskussionsverweigerung einiger wichtiger Parteien. Die Botschaft lautet: Alles ist gut.

Das beruhigt, lullt ein.Die Leipziger Forscher erkundeten trotzdem, ob es einen Zusammenhang zwischen Wahlverhalten und den beiden Faktoren Ängstlichkeit und Depressivität gibt. Und den gibt es tatsächlich: Souveräne Bürger wählen anders als jene, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen.

In Kurzfassung: “Bei beiden Merkmalen sticht die Spitzenposition der Nichtwähler und der Rechten heraus: beide zeigen eine sehr hohe Ängstlichkeit und Depressivität. Auch die Wähler der Piratenpartei zeigen relativ hohe Werte bei der Ängstlichkeit. Anhänger der FDP, der Grünen, der Linken und der SPD zeigen sich sowohl durch Depressivität als auch durch Ängstlichkeit eher wenig beeinträchtigt.”

29,2 Prozent der Wähler der Rechten zeigen ein depressiv dominiertes Einstellungsmuster. Übrigens etwas, was keineswegs nur im Osten zu finden ist. 2009 veröffentlichten Elmar Brähler und Irina Mohr ein Buch, das auch die psychosozialen Dimensionen der deutschen Einheit sichtbar machte. Frank Jacobi und Jürgen Hoyer werteten diese psychischen Faktoren einmal nach Ost und West aus. Im Ergebnis sind die Werte für Depression im Westen sogar mit 10 bis 12 Prozent höher als im Osten (6,7 bis 9,4 Prozent). Da aber Menschen mit depressiven Einstellungen auch stärker dazu neigen, gar nicht zur Wahl zu gehen, muss das keineswegs den rechtsextremen Parteien zugute kommen. Den anderen erst recht nicht.

Jacobi und Hoyer fanden aber auch bei sozialen Phobien leicht erhöhte Werte im Westen. Was zumindest erstmals deutlich zeigte, dass der Osten durch die zurückliegende Diktaturerfahrung psychisch instabiler wäre als der Westen. Unzufriedener schon. Deswegen fragt ja auch die Stadt Leipzig immer wieder die Lebenszufriedenheit ihrer Bürger ab, wohl wissend, dass Leipzig auch als attraktive Großstadt im Osten eine Ausnahme ist.Aber Bundestagswahlen werden eben nicht in einer Stadt allein entschieden. Und da spielt es schon eine Rolle, wenn der Osten mit seinen allgemeinen Lebensbedingungen etwas unzufriedener ist als der Westen. Das wäre auch ein Ansatz, die im Osten höheren Werte für Die Linke, CDU/CSU und Nichtwähler zu erklären.

Aber nur einer. Denn die Dimensionen der Wählerbefindlichkeit sind komplex.

Eine sehr große Rolle spielt augenscheinlich die Ängstlichkeit – also wohl eher das Gegenteil von Selbstbewusstsein. Fast könnte man vermuten, ängstliche Menschen wählen am liebsten große, zuverlässige Parteien. Aber das ist so nicht der Fall. Die höchsten Werte erreichen hier Piraten und rechte Parteien mit je 12,5 Prozent, unter den Nichtwählern zeigen sich sogar 15,3 Prozent als ängstlich.

Am wenigsten ängstlich sind augenscheinlich die Wähler von FDP (1,6 Prozent) und Linken (5,4 Prozent) gefolgt von der SPD (7,7 Prozent).

Und was auffällt: Piraten-Wähler sind zwar überdurchschnittlich ängstlich (und das wohl nach allen Enthüllungen zu Prism und Tempora zu recht), dafür aber gesund. Zumindest fühlen sie sich so.

Piratenwähler fühlen sich mit einem Wert von über 84 am gesündesten. Auch die Anhänger von Grünen und FDP geben gute Gesundheitszustände an (82 und 80), während CDU/CSU-Anhänger, Nichtwähler und vor allem rechte Wähler über einen schlechteren Gesundheitszustand (74 bis 70) berichten. Bei der CDU/CSU ist das höhere Durchschnittsalter zu berücksichtigen, was den schlechteren Gesundheitszustand erklärt. Das höhere Alter erklärt aber nicht einen schlechten Gesundheitszustand von Anhängern rechter Parteien und Nichtwählern, die ja eher jünger sind. Wer rechte Parteien wählt oder nicht wählen geht, fühlt sich gesundheitlich deutlich beeinträchtigter als andere Menschen.

Zumindest eins ist seit 2009 klar: Der Osten wählt nicht anders als der Westen, weil er psychisch einen Knacks hat. Jacobi und Heyer brachten es seinerzeit auf die schöne Formel: “Unterversorgung psychischer Störungen insbesondere in den neuen Bundesländern”.

Das Wahlverhalten hat also weniger mit psychischen Belastungen zu tun als mit realen Voraussetzungen – vom Einkommen über Bildung, Arbeitslosigkeit und Rentnerstatus bis hin eben zum Alter.

Die Ergebnisse der Studie als PDF zum download.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar