Manchmal sind Fragen innerhalb der alljährlichen Bürgerumfrage der Stadt Leipzig nah dran am Thema, am Thema Stadt. Dass Stadt im 21. Jahrhundert neu gedacht werden muss, war auch Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) kurzzeitig bewusst, als in Leipzig 2007 der "Europäische Bürger- und Städtekongress" stattfand und er die "Leipzig Charta" mit unterzeichnete. Doch danach ging auch Leipzigs OBM lieber wieder zur Tagesordnung über.

Es gibt zwar mittlerweile ein ganzes Bündel von Wettbewerben und Awards, an denen sich Leipzig beteiligt. Vom “European Energy Award” (von dem nur 5 Prozent der Leipziger je etwas gehört oder gelesen haben) bis hin zum “Familienfreundlichkeitspreis” der Stadt, der auch nur 10 Prozent der Leipziger ein Begriff ist. Auch so ein seltsames Ding wie den “Leipziger Ruhestandskompass” fragten Leipzigs Statistiker in der “Bürgerumfrage 2012” ab. Aber der ist, wie sie dann selbst sahen, “noch nicht so im Bewusstsein”. Aber selbst das ist eine Untertreibung: Ganze 2 Prozent der Befragten kannten das Ding.

Was nicht den Sinn dieser Initiativen in Frage stellt, sondern das große Ganze. Hat Leipzig auch nur so etwas Ähnliches wie eine ganzheitliche, nachhaltige Stadtpolitik, deren Ziele und Instrumente den Leipzigern greifbar sind? Weiß Leipzigs Stadtverwaltung, wo sie hin will? Oder sind die bürokratischen Beharrungsmomente zu groß? Immerhin waren die sechs Jahre seit 2007 eine Zeit des zähen Feilschens um Millimeter. Millimeter in der Verkehrspolitik, zähes Fließen in der Familienpolitik, ratloses Suchen in der Umweltpolitik, amtliche Unentschlossenheit in der Wirtschaftspolitik. Das Fazit lautet eigentlich: sechs verlorene Jahre.

Da haben Konferenzen und Workshops nichts geändert. Im Gegenteil. Da geht die Misere weiter: Harsche Kritik an der Transparenz der Stadtpolitik, Alibi-Bürgerbeteiligungen, zähes Verharren in der Informationsfreiheits-Frage. Spürbar, wie städtische Instanzen die Prozesshoheit in jedem Schritt zu behaupten suchen. Und wenn die Leipziger Beteiligung fordern, wird gern und oft die Juristerei bemüht. Dann ist eben rein juristisch eine Umfrage oder gar Abstimmung zum EinheitsundFreiheitsdenkmal nicht möglich. Um nur das Beispiel zu nennen.

Und damit die Leipziger nicht glauben, dass gar nichts erwünscht ist an Bürgerinitiative, gibt es gern genannte Vorzeige-Projekte. Seit zwei Jahren ist die “Leipziger Notenspur” eins, mittlerweile ja auch Grundlage der Leipziger Welterbe-Bewerbung. Das wollte man in der “Bürgerumfrage 2012” auch ein bisschen untermauern. Kennen die Leipziger die “Leipziger Notenspur”? – Ja, sagen 35 Prozent der Befragten. Was für so ein Projekt durchaus ein Marketing-Erfolg ist.

Würden sie die “Notenspur” auch weiterempfehlen? – Ja, sagen 80 Prozent derer, die sie kennen, also 28 Prozent von allen Befragten. Warum eigentlich, fragt man sich? Weil sie so schön ist? Weil sie den Besucher bildet?

Schade. Danach wurde nicht gefragt. Gefragt wurde dann nur noch: Wie wird die Ausschilderung der Notenspur bewertet? – Auch hier konnten natürlich nur die antworten, die sie kennen. Das Ergebnis ist eher ein “Naja”. Nur 24 Prozent finden die Ausschilderung gut, 26 Prozent enthielten sich lieber jeden Urteils. “Kann ich nicht beurteilen”, kreuzten sie an. Was eigentlich dasselbe ist wie “teils / teils”, was 43 Prozent ankreuzten. Die Mehrzahl der Leute, die die Notenspur kennen (79 Prozent von den 35 Prozent, die die Notenspur kennen), findet die Ausschilderung also eher larifari. Auch das ist ein Ergebnis. Ein echtes Leipziger Ergebnis. Man weiß das Anliegen zu würdigen, nur die Umsetzung ist ein bisschen – naja.

Fast kann man Wetten darauf abschließen, dass es beim Einheitsundfreiheitsdenkmal genauso kommt. Ein Drittel der Leipziger wird’s kennen, wenn es steht. Und Dreiviertel von diesem Drittel werden sagen: Naja, kann ich nicht beurteilen.

Was am Anliegen nichts ändert.

Aber es illustriert die Art, wie in Leipzig solche Projekte gemacht werden: auf amtlicher Ebene, so konfliktlos wie möglich. Und dann wird’s den Leipzigern als Erfolg verkauft.Braucht man das, um sich in Leipzig wohl zu fühlen? – Natürlich nicht. Auch wenn dieser 9. Oktober 1989 so wichtig und in Leipzig sogar ein Feiertag ist. Die Leipziger leben gern in dieser Stadt, weil es (noch) eine funktionierende Stadt ist. Selbst das über 20 Jahre heftige Umzugsgeschehen kommt langsam zur Ruhe. In den 1990er Jahren dominierte als Umzugsziel der wilde, reiche Westen Deutschlands. Das ist lange her. Mittlerweile planen nur noch 12 Prozent der Leipziger einen Umzug, weitere 25 Prozent spielen mit dem Gedanken. Junge Leute natürlich noch am häufigsten. Von denen denken immerhin 58 Prozent an Umzug.

Aber von allen Umzugswilligen wollen nur noch 10 Prozent Sachsen verlassen (davon 4 Prozent ins Ausland und 3 Prozent in die älteren Bundesländer). Weitere 6 Prozent wollen sich im Leipziger Umland niederlassen.

Der Rest – 84 Prozent – will innerhalb Leipzigs umziehen, also in dieser manchmal seltsamen Stadt bleiben. Leipzigs Statistiker fragen zwar jedes Jahr nach Gründen für den Umzug – aber eigentlich wartet unsereiner die ganze Zeit auf die simple Frage: Warum wollen Sie in Leipzig bleiben? Was hält sie hier? Sind es die berühmten schönen Mädchen? Ist es die Gose? Oder sind es die Bäckerbrötchen?

Weiß ja keiner.

Nur die Gründe fürs Umziehen kennt man. Und sie ändern sich auch nicht wirklich. Den einen ist die Wohnung zu klein (29 %), bei den anderen die Familie der Grund (von Gründung bis Scheidung, 28 %), die nächsten ziehen wegen Studium oder Ausbildung um, anderen wird die Miete zu teuer (24 %).

Deutlich wird, wie sehr die Befragten an der Stadt und vor allem an ihrem Wohnviertel hängen oder auch wegen eines schöneren Wohnviertels umziehen (19 %) und dafür ein zu lautes oder zu dicht bebautes Viertel verlassen (13 %). Aber wenn man sich schon eingelebt hat, dann will man auch nicht so weit weg. 30 Prozent der Befragten wollen im selben Wohnviertel bleiben, weitere 30 Prozent im selben Stadtbezirk. Hier kennt man die Leute, die Läden und die Hundewiesen. Und natürlich könnte man auch hier fragen: Was hält Sie in Ihrem Wohnviertel? Was ist daran besonders schön?

Da wäre man nämlich auf der Suche nach den Dingen, die eine Stadt für ihre Bewohner attraktiv macht. Erstaunlich, dass das nicht abgefragt wird. Es könnte in der Stadtplanung geradezu eine Bestseller-Liste werden.

Sind es die gepflasterten Stadtplätze, die die Bewohner so toll finden? Oder die Quartiersgaragen? Oder gar die schönen “Stadtteilzentren”? – Kann ja sein. Wir geben Irrtümer ja gern zu. Vielleicht gibt’s auch Leute, die die Flugzeuge über ihrem Haus mögen, und andere, die lieber Kindertagesstätten haben und nicht gleich eine Bürgerwehr gründen, wenn welche gebaut werden sollen?

Das weiß ja alles keiner. Und die Stadtverwaltung fragt nicht nach. Die Fragen zum Wohnen hat übrigens das Stadtplanungsamt ausgesucht. Das übrigens auch die Fragen zur “Wasserstadt” ausgesucht hat, nicht das Umweltamt, wie Mancher schon vermutete. Was auch egal ist. Wo auch sechs Jahre nach der “Leipzig Charta” eine Vision für eine wirklich nachhaltige Bürgerstadt nur als Puzzle existiert, bleibt sowieso alles Stückwerk. Hier ein bisschen Lärmaktionsplanung, dort ein bisschen Luftreinhaltung, hier ein Stück Radweg, dort ein neues Parkhaus.

Das Problem ist – wie so oft – das Ganze auch als Ganzes zu denken. Das wird selbst in den Fragen der “Bürgerumfrage 2012” deutlich. Beispiel: Man hat nach Jahren des Diskutierens und Prüfens endlich mal so ein Thema wie alternative Verkehrsarten auf die Agenda gesetzt und will entsprechend auch einheitliche Mobilitätsstationen im Stadtraum platzieren. Also liegt der Fragefokus jetzt ganz auf diesen speziellen Angeboten zu Leih-Fahrzeugen. Das Ergebnis scheint selbst die Rathausmitarbeiter zu entmutigen: “Leihsysteme für Fahrzeuge werden momentan (noch) sehr selten genutzt. Am ehesten in Anspruch genommen werden Autovermietungen. Immerhin 10 Prozent der Befragten nutzen entsprechende Angebote zumindest gelegentlich. Car-Sharing und Leihfahrräder werden jedoch kaum durch die Leipzigerinnen und Leipziger nachgefragt.”

Man kann neue Verkehrssysteme nicht künstlich implementieren. Sie wachsen erst mit den Bedürfnissen. Aber Bedürfnis nach Car-Sharing haben augenscheinlich erst 4 Prozent der Leipziger, nach Leihfahrrädern 3 Prozent. Wichtiger wäre – das zeigen ja die nach wie vor schlechten Noten fürs Radwegenetz – ein Ausbau der simplen Radfahrmöglichkeiten. Wäre ein logischer Schritt: Man fängt erst mal mit dem Einfachen an. Das Komplizierte kommt von ganz allein.

Der umfangreiche Ergebnisbericht “Kommunale Bürgerumfrage 2012” kann im Amt für Statistik und Wahlen gegen eine Gebühr von 15 Euro erworben oder im Internet unter www.leipzig.de/statistik unter der Rubrik “Veröffentlichungen” eingesehen werden.

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