Derlei Äußerungen aus wissenschaftlichem Hause sind selten. Wissenschaftler halten sich eher zurück, wenn es um Gefühle geht. Dafür sind sie mit Prognosen gern vorneraus. Wirtschaftsprognosen zum Beispiel, von denen es in Deutschland praktisch jeden Tag eine neue gibt. In keinem gesellschaftlichen Feld wird so gern orakelt wie auf dem der Wirtschaft.
Und so schickte am 16. April das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) eine Meldung aus mit der knackigen Überschrift: “Datenrevision der amtlichen Statistik – ärgerlich, aber wohl unausweichlich”.
Es ging dabei um die aktuelle Veröffentlichung zum Wachstum des Bruttoinlandsproduktes in den deutschen Bundesländern im Jahr 2012. Der Arbeitskreis “Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder” hat dabei zum Teil erhebliche Korrekturen der Berechnungen für die Jahre 2010 und 2011 gemeldet. Das Niveau der Produktion in den einzelnen ostdeutschen Flächenländern wurde für die beiden Jahre (mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt für 2011) jeweils um rund 1 % bis 3 % angehoben.
Was dann rein statistisch in der Folge ein stärkeres Wachstum unmittelbar nach dem Krisenjahr 2009, aber ein Abbremsen im darauffolgenden Jahr ergibt.
“Besonders hart traf dies das Wachstumsprofil der Wirtschaft in Sachsen-Anhalt, in dem im Lichte der neuen Daten auf ein starkes Wachstumsjahr 2010 eine Stagnation im Jahr 2011 folgt. Die vorläufigen Daten hatten für 2011 ein Wachstum von 2,4 % ausgewiesen”, kritisiert das IWH den Effekt. Und macht dabei aber auch deutlich, auf welchem schwankenden Grund in Deutschland und anderswo eigentlich wirtschaftliche Wachstumsprognosen getroffen werden. Und das oft zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht einmal die Abschlussdaten für das vergangene, geschweige denn das laufende Jahr vorliegen.
In Halle ärgert man sich nun eher darüber, dass diese späteren Änderungen die Prognosebasis in Frage stellen. “Bei solchen Änderungen verlieren Prognosen von Wirtschaftsforschern an Wert, und das Vertrauen in ihre Voraussagen wird erschüttert. Denn sie setzen auf die amtlichen Ergebnisse für die vergangenen Jahre auf, und Korrekturen der Ausgangsdaten bringen die Prognosen nachträglich ins Wanken. So erweist sich im Lichte der revidierten Daten der von uns zuletzt für 2012 vorausgeschätzte Rückgang des Bruttoinlandsproduktes für die Neuen Länder als Fehlprognose”, schreiben sie.
Was ja schön ist für die neuen Bundesländer. Aber an der Fragwürdigkeit der Prognosen nichts ändert. Zwar staunen Bundesbürger landauf, landab immer wieder, mit welcher Genauigkeit hinterm Komma allerlei Experten und Kommissionen immer neue Wachstums- oder Schrumpfungsraten fürs nächste Jahr berechnen können. Aber dass die Ausgangsbasis immer auf “vorläufigen” Zahlen beruht, wissen die Experten eigentlich noch besser als die Politiker und Medien, die dann das Volk mit Glücksverheißungen fürs nächste Jahr überschütten.
“Die amtliche Statistik genießt in Deutschland ein hohes Ansehen, nicht zuletzt, weil sie hohe Qualitätsstandards erfüllt. Bei zeitnahen Veröffentlichungen volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen steht sie jedoch im Dilemma zwischen der späten Verfügbarkeit der Ausgangsdaten und dem Bedürfnis der Öffentlichkeit, insbesondere der Wirtschaftspolitik, an schnellen Informationen”, benennt das IWH das Dilemma. Ob die “Öffentlichkeit” tatsächlich ein Bedürfnis danach hat, zu wissen, in welcher Prozentgröße die heimische Wirtschaft im nächsten Jahr wächst, darf wohl zu recht bezweifelt werden. Das lässt sich aus den Daten zurückliegender Jahre nur mit ganz großer Unsicherheit voraussagen.Da sind selbst die Konjunkturbefragungen der Wirtschaftskammern zielgenauer, denn wenn die Unternehmenschefs ihre Prognose fürs nächste halbe Jahr abgeben, dann schauen sie vorher in ihre Auftragsbücher und wissen, wie die Auftragslage ist. Das ist in der Wirtschaft das einzige, was zählt.
Was am Ende dabei herauskommt, das sammeln dann die Statistiker nach Abschluss des Bilanzjahres ein. Die frühesten belastbaren Zahlen zu dem, was ist, weisen sie in der Regel im Frühjahr eines Jahres aus. Das heißt, frühestens im Frühjahr können die ersten vagen Prognosen für das Jahresende vorgenommen werden. Alles was davor passiert, ist bestenfalls eine Fortschreibung der Vergangenheit aber keine belastbare Prognose.
Das IWH: “Das betrifft vor allem die Ermittlung des Bruttoinlandsproduktes auf Länderebene. Erst mit zweijährigem Verzug können die Ämter hier mit Originärberechnungen aufwarten. Aktuell gilt das für das Jahr 2010. Angaben für die darauffolgenden Jahre werden durch Fortschreibungen der originär berechneten Ergebnisse ermittelt. Fortschreibungen sind jedoch nichts anderes als wohl begründete Prognoseverfahren”, meinen die Forscher des IWH. Stellen dann aber doch fest, dass es so einfach nicht ist: “So entpuppen sich die früheren Veröffentlichungen der amtlichen Statistik zum Bruttoinlandsprodukt der Bundesländer für die Jahre 2010 bis 2011 bei genauerem Hinsehen als Ex-post-Prognosen. Und als solche sollten sie auch eingeordnet werden. Die Korrekturen der Wachstumsdaten belegen einmal mehr, dass Prognosen eben nicht nur unsicher sind, wenn sie die Zukunft, sondern auch, wenn sie die Vergangenheit betreffen.”
Die logische Folgerung daraus: “Für die Wirtschaftspolitik ist dies unbefriedigend. Sie möchte und sollte ihre gesamtwirtschaftlichen Entscheidungen auf sicherer statistischer Basis treffen. Wie kann man das Dilemma lösen? Die regionale Wirtschaftspolitik ist gut beraten, bei ihren Entscheidungen auch andere, rascher verfügbare Messgrößen zu Rate zu ziehen, z. B. Beschäftigungsdaten. Nichtsdestotrotz sollten auch die Anstrengungen verstärkt werden, die Ausgangsdaten für Originärberechnungen und Prognosen rechtzeitiger bereitzustellen und das Instrumentarium für Ex-post- und Ex-ante-Prognosen ständig zu überprüfen. Allzu viel Hoffnung auf baldige Verbesserungen im Datenbereich besteht jedoch angesichts der Einsparungen an Personal und Erhebungen unter dem Banner des Bürokratieabbaus nicht. Also empfiehlt sich ein gesunder Abstand der Entscheidungsträger von der Zahlengläubigkeit im öffentlichen Raum.”
Was für ein wahres Wort. Das geht einem besorgten Journalisten doch runter wie Butter.
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