Nach Leipzig wandern längst nicht mehr nur junge Azubis und Studenten zu. Selbst bei den Senioren hat Leipzig mittlerweile einen Wanderungsüberschuss. Nicht einmal die hält es mehr in den kleinen Dörfern und Städten da draußen, die von den sozialen Infrastrukturen des Landes immer mehr abgekoppelt werden.
Nachzulesen in Andreas Martins Beitrag im “Leipziger Quartalsbericht II/2012”. Was nicht drin steht, ist natürlich die Frage: Welche Rolle spielt dabei das Geld? Eine Frage, mit der sich auch die Landesregierung nicht beschäftigt. Denn wenn Versorgungsstrukturen aus dem ländlichen Raum verschwinden, entstehen ja Kosten – bei den Betroffenen, die nun Mehraufwand mit allem haben: beim Arztbesuch, bei Behördenanfragen, bei Vorsorge gegen Diebstahl und Feuer, bei Kultur und sozialer Teilhabe. Alles wird schwerer erreichbar.
Da liegt es nahe, gleich umzuziehen in eine betreute Wohnanlage in der Großstadt, wo alles da ist und wo man nicht mehr mit derart vielen Unwägbarkeiten rechnen muss. Möglich, das dieser Trend noch zunimmt. Denn jetzt kommen all jene Sachsen ins Rentenalter, die in den letzten 22 Jahren erleben durften, was eine “unterbrochene Erwerbsbiografie” ist. Kerstin Lehmann hat dazu einmal die nötigen Zahlen aus der Leipziger Bürgerumfrage 2011 herausgezogen und auf einzelne Altersjahrgänge aufgeschlüsselt. 20 Jahre lang war das Rentenniveau in Leipzig relativ stabil. Viele Rentner bekamen – durch ihre DDR-Erwerbsbiografie bedingt – höhere Renten, als in vielen Branchen an Gehältern gezahlt wurde. In den letzten beiden Jahren ist das gekippt.
In aller Stille im Windschatten der dramatisch sich zuspitzenden Situation am Ausbildungsmarkt, wo jetzt die geburtenschwachen Jahrgänge angekommen sind. 2011 lag das persönliche monatliche Nettoeinkommen der Leipziger Rentner schon deutlich unterm eh schon niedrigen Durchschnittseinkommen von 1.066 Euro. Mit 948 Euro standen Leipzigs Rentner in der Statistik. Und es ist absehbar, dass dieser Wert von nun an immer weiter fallen wird.
Die 69- bis 70-Jährigen, die Kerstin Lehmann aus der Statistik sortierte, kamen 2001 noch mit durchschnittlich 995 Euro über die Runden, die 67- bis 68-Jährigen mussten sich schon mit 888 Euro im Monat bescheiden, die 65- bis 66-Jährigen mit 827 Euro. Da muss niemand mehr fragen, warum immer mehr Rentner noch arbeiten und sich mit allerlei Jobs etwas hinzuverdienen. Und warum die Schlange der Bedürftigen beim Leipziger Sozialamt immer länger wird. Die Entwicklung haben sie alle unterschätzt – die ewigen Reformierer im Bund genauso wie die Aussitzer in Dresden und die Verantwortlichen in Leipzig.
Die 63- bis 64-Jährigen standen mit 844 Euro in der Statistik, die 61- bis 62-Jährigen mit 924 Euro. Man sieht, dass hier ein gut Teil noch in Lohn und Brot ist und dadurch das Einkommensniveau ein klein wenig anhebt. In dieser Altersgruppe arbeitet noch gut die Hälfte. Bei den 57- bis 58-Jährigen stehen noch 75 Prozent in Lohn und Brot, was den Einkommensdurchschnitt zumindest auf 1.192 Euro hebt.
Kann man natürlich schauen, wie das ist mit den 67-Jährigen, wo doch die Dauerreformer immer wieder von der dubiosen “Rente mit 67” reden: Von denen ist auch in Leipzig praktisch keiner mehr in einer offiziellen Erwerbstätigkeit.
Um es noch deutlicher zu sagen: Die Politiker, die diese Reform angeschoben haben, wissen nicht einmal, ob es klappt. In der Leipziger Wirklichkeit ist der vollzeitarbeitende 66-Jährige zumindest ein sehr, sehr seltenes Phänomen.
Kann sich aber ändern, die Zeichen deuten darauf hin. Peter Dütthorn hat in seinem Beitrag “Arbeitsmarkt und ältere Menschen” einmal die Altersgruppe vor jenen kritischen Jahren des Renteneintritts untersucht. Immerhin galt jeder, der auch nur seinen 50. Geburtstag gefeiert hatte, in Leipzig bis zur Jahrtausendwende als unvermittelbar (es sei denn, er kam aus dem Westen und saß schon in zehn Aufsichtsräten).
Neue Leipziger Quartalsstatistik (1): Über Wachstum, Babys und Leipzig in der Quasselbude
Der neue Quartalsbericht ist da …
Neue Leipziger Quartalsstatistik (2): Ein bisschen was zum verblassenden Speckgürtel
Es gibt sie noch, die Suburbia …
Neue Leipziger Quartalsstatistik (3): Schlafparks, Gentrifizierung, Connewitz
1999 und 2000 wurde ja ein Teil des in …
Aber noch ehe die Knappheit des Nachwuchses ab 2010 akut wurde, begannen Leipziger Unternehmen vorsichtig umzudenken. Seit 2003 hat Dütthorn die Zahlen erfasst. Seit 2003 steigt der Anteil der 50- bis 65-Jährigen in Leipzig, die noch in Lohn und Brot sind. 2003 waren es noch beschämende 36,2 Prozent. 2007 waren es schon 41,2 Prozent, 2010 dann 46,2 Prozent. Natürlich spielt hier auch der frühere Renteneintritt der Frauen eine Rolle.
Aber was die Arbeitsmarktstatistik so direkt nicht ausweist, ist die Tatsache, dass auch immer mehr Ältere in geringfügig entlohnten Jobs arbeiten. Und 7.878 Leipziger zwischen 50 und 65 Jahren taten das 2011 ausschließlich. Was eigentlich schon alles heißt: Sie werden ohne Zwischendecke in eine Armutsrente rauschen. 2.273 Leipziger in dieser Arbeitsgruppe hatten die Kleinstjobs noch neben ihrem Haupterwerb. Was zumindest ahnen lässt, dass der Haupterwerb eigentlich auch nur ein Hungerjob sein kann.
Da sinken dann zwar Jahr um Jahr die offiziellen Arbeitslosenzahlen auch in dieser Altersgruppe. Aber Politiker, die sich darüber noch freuen wie die Schneekönige, haben gar nichts begriffen. Wirklich nichts. Die Betroffenen schuften zwar für jeden sauren Euro, aber sie müssen dann trotzdem im Alter bei der Stadt um Unterstützung betteln. Nichts ist so verheerend für den Leipziger Stadthaushalt wie die feuchtfröhliche Niedriglohnpolitik der letzten Jahre.
Dass jetzt ausgerechnet die demografische Entwicklung die Folgen dämpft, sollte nicht wirklich stolz machen. Denn auch das Verständnis dafür, dass Arbeitsplätze in Leipzig familiengerecht und altersgerecht sein müssen, ist erst spät gewachsen. Viele, gerade kleinere Unternehmen, werden das Ganze im rasenden Übergang lernen müssen. Denn wo sich die Ausbildungsjahrgänge halbiert haben, werden die qualifizierten älteren Arbeitnehmer immer wertvoller – auch wenn sie der Rücken schmerzt und sie bei Manchem schon langsamer sind. Aber der Lerneffekt kommt zwangsläufig: Lieber einen langsamen Profi als einen nicht existenten Junggesellen.
Und nicht nur Unternehmen müssen quasi in aller Eile lernen, was barrierearmes Arbeiten ist, auch die Stadt muss eigentlich im laufenden Prozess umgebaut werden zu einer wirklich generationenfreundlichen Stadt. Am kompliziertesten ist diese Aufgabe an den Hauptverkehrsstraßen, die vor wenigen Jahren noch von jedem gemieden wurden, der auch nur noch ein bisschen Lust am Leben hatte.
Mehr dazu morgen. An dieser Stelle.
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