Nach der jüngsten Veröffentlichung des Statistischen Landesamtes betrug die Zahl der Menschen im Freistaat Sachsen mit einem gültigen Schwerbehindertenausweis zum 31. Dezember 2011 355.925. Das sind 8,6 % der Bevölkerung und reichlich 30.000 mehr als noch zwei Jahre zuvor. Ein Alarmsignal für den sächsischen Behindertenbeauftragten Stephan Pöhler.
Spitzenreiter bei den Zuwächsen sind in dieser Statistik die Städte Dresden und Leipzig mit einer Steigerung von jeweils 4.000, gefolgt vom Landkreis Bautzen mit 3.000 sowie dem Landkreis Görlitz und dem Erzgebirgskreis mit jeweils 2.500.
“Da die Steigerungen überproportional die Bevölkerungsgruppe 60 Jahre und älter betreffen, ist der Anstieg auch ein Ausdruck für die Wucht des demografischen Wandels”, erklärt Stephan Pöhler, Beauftragter der Sächsischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
“Der Statistik entnehme ich 30.000 gute Gründe, bei der Schaffung von Barrierefreiheit und dem Umbau zu einer inklusiven Gesellschaft einen Gang höher zu schalten”, so Pöhler weiter, dessen Hauptaufgabe die Beratung der Staatsregierung in Fragen der Behindertenpolitik ist.
Oder sollte man doch besser sagen: Barrierefreiheit zur Priorität in allen Infrastrukturplanungen zu machen?
Oder wäre das zu mutig gedacht?
Denn dann ginge es nicht nur um Rollstuhlrampen, barrierearme Haltestellen, Niederflurfahrzeuge, Fahrstühle und ähnliche technische Lösungen. Dann müsste sich Investitionspolitik anders denken lassen. Dann müsste der Kauf von niederflurigen ÖPNV-Fahrzeugen wichtiger sein als der Bau neuer Umgehungsstraßen. Dann müsste der familiengerechte Umbau von Innenstädten und Ortskernen wichtiger sein als die Ausweisung oder technische Erschließung von Gewerbeparks. Dann müsste die wohnortnahe Grundversorgung auch mit Verwaltungsdienstleistungen wichtiger sein als der Umzugszirkus einer auf “Effizienz” getrimmten Staatsverwaltung.
Usw.
Wer Barrierefreiheit denkt, muss zwangsläufig familienfreundlich denken.Der Rest sind Lasten, die auf die Kommunen zurollen, ohne dass dafür der geringste Puffer in den Budgets vorhanden ist. Denn die Zunahme der älteren Bevölkerung über 75 bedeutet eben auch die langfristige Zunahme von Altersarmut. Die Betroffenen müssen aber trotzdem versorgt und gepflegt werden – Kosten, die in die Kommunalhaushalte schlagen.
Der Freistaat hat seit zehn Jahren das “jüngere” Ende der demografischen Entwicklung völlig ignoriert, hat mittlerweile die schulische Ausbildung und den Ausbildungsnachwuchs für die Wirtschaft in Gefahr gebracht, weil er unbedingt glaubte, bei Kitas, Schulen und Lehrern sparen zu müssen.
Jetzt macht sich das “ältere” Ende der demografischen Entwicklung immer drängender bemerkbar. Denn Stephan Pöhler schlägt zwar Alarm. Aber auch diese Entwicklung ist seit Jahren absehbar. Bis 1999 sank zwar die Zahl schwerbehinderter Menschen im Freistaat, lag 1999 bei 269.997. Aber seitdem steigt die Zahl, erreichte 2005 die 300.000, überschritt 2009 die 325.000.
Und dazu trägt eben die starke Zunahme immer älterer Sachsen bei, die immer öfter auch zum Pflegefall werden.
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Was das nächste Thema aufgreift: Was kann eine Gesellschaft tun, ihre älteren Mitbürger so lang wie möglich auch gesund zu erhalten? Ein großer Teil der im Alter zunehmenden Behinderungen sind zwar Einschränkungen in der Funktion der Gliedmaßen. Aber auch geistig-seelische Behinderungen nehmen zu.
Die Großstädte nehmen sich in der sächsischen Statistik zwar besonders wuchtig aus. Aber das liegt schlicht an ihrer Größe. In Leipzig wurden 2011 insgesamt 42.760 Schwerbehinderte gezählt, in Dresden waren es 43.043, in Chemnitz 22.693. Auf je 1.000 Einwohner gerechnet liegen Leipzig mit 80,4 und Dresden mit 81,2 Fällen noch weit unten in der Skala. Wesentlich stärker betroffen sind statistisch die Landkreise – Bautzen etwa mit 90,1 oder Görlitz mit 96,9. Chemnitz liegt bei 93,3. Alles Zahlen, die natürlich auch ein Abbild sind der Abwanderung der jüngeren Einwohner aus den ländlichen Gebieten in die beiden attraktiven Großstädte.
Die auch noch einen Vorteil haben: Aufgrund ihrer noch dichten Infrastruktur haben sie mehr Möglichkeiten, ein familiengerechteres und barriereärmeres Leben zu ermöglichen.
Der Bericht des Statistischen Landesamtes: www.statistik.sachsen.de
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