Schon seit zehn Jahren beobachten die Leipziger Statistiker verblüfft, dass die Leipziger zwar gern und viel umziehen. Aber halt nicht mehr so sehr weg aus der Stadt, wie das in den zehn Jahren zuvor der Fall gewesen war. Bei 38 Prozent lag 2011 das Umzugspotenzial. 25 Prozent sahen einen Umzug als bald möglich an, 13 Prozent mussten umziehen. Aber von denen, die umziehen wollten oder mussten, blieben 75 Prozent im Stadtgebiet.

11 Prozent liebäugelten mit der näheren Umgebung, weitere acht Prozent wollten in an deren Teilen Sachsens oder in anderen östlichen Bundesliedern ihre Kisten auspacken. Nur noch 4 Prozent gaben die alten Bundesländer als Ziel an, nur noch 2 Prozent das Ausland.

Das sind Zahlen, die auffallen, denn noch ein Jahr zuvor lagen diese beiden Werte bei 9 bzw. 5 Prozent. Mit einem wirtschaftlichen Boom in Sachsen hat das freilich nichts zu tun. Das werden die Verantwortlichen spätestens dann spitz kriegen, wenn ganze Branchen ihre Arbeitskräftebedarf nicht mehr decken können und eine hochsubventionierte Spaßbude nach der anderen dicht macht. Dicht machen muss, weil natürlich auch klein Maxe mitbekommt, dass eine ordentliche Ausbildung als Dachdecker sinnvoller und ausfüllender ist, als beispielsweise Verträgeverkaufen im Callcenter.

Man zieht also deutlich seltener um, weil es nur noch anderswo irgendwelche einträglichen Jobs gibt. Einträglich sind zwar ein Viertel aller Leipziger Jobs auch nicht – aber es sind auch nicht diese Branchen, die jetzt schon im Winter vor Schulabschluss anfangen, um jeden guten Bewerber zu kämpfen. Und der Kampf um den ausbildbaren Nachwuchs wird mit jedem Jahr schärfer werden.

Berufliche und Ausbildungsgründe für den Umzug nennen nur noch 8 Prozent der Betroffenen als Anlass fürs Kistenpacken. Längst dominieren die ganz natürlichen Gründe für einen notwendigen Umzug: Die Wohnung wird zu klein (20 Prozent). Andere Wohnviertel sind attraktiver (18 Prozent). Das Wohnviertel ist zu laut oder zu dicht bebaut (15 Prozent). Oder eine Haushaltsausgründung oder eine Scheidung zwingen zum Packen (14 Prozent).
Und auch das Geld spielt beim Umziehen eine Rolle. Wer’s dicke hat, kauft sich Wohneigentum. Von den Haushalten, die im Monat mehr als 3.200 Euro zur Verfügung haben, leben 31 Prozent im eigenen Haus. Bei denen, die nur 2.300 bis 3.200 Euro haben, sind es schon nur 18 Prozent, darunter gerade einmal 8 Prozent. Auch wenn es immer so klingt, als würden die Bausparkassen alle Sparer ansprechen mit ihrer Mein-Häuschen-Werbung, meinen sie tatsächlich nur die für Leipziger Verhältnisse gut Verdienenden. Ungefähr 25 Prozent also. Wer weniger verdient, kommt in wirtschaftlich schweres Fahrwasser.

Wer gar noch allein alles erwirtschaften muss, hat ein Problem. Deswegen ist Hausbesitz besonders bei Paaren zu finden: Paaren mit Kindern (20 %), Rentnerpaaren (18 Prozent), Paaren ohne Kinder (15 Prozent).

Singles (2 Prozent) oder gar Alleinerziehende (4 Prozent) besitzen in der Regel kein Haus. Was natürlich auch alle Märchen konterkariert, die davon erzählen, der Wohnbesitz würde in Leipzig prozentual zunehmen im Lauf der Zeit. Tut er nicht. 87 Prozent der Leipziger leben weiterhin zur Miete. Was einen ganz wesentlichen Vorteil hat: Man ist flexibler und kann seinen Wohnort leichter den Veränderungen des eigenen Lebens anpassen. Siehe oben: Praktisch zieht der Leipziger aller 3 bis 4 Jahre um.

Junge Leute natürlich am häufigsten. Jede Vierte muss umziehen, jeder Dritte hat es im Visier.
Und so ist es kein Zufall, dass in den jüngsten Leipziger Stadtteilen am häufigsten umgezogen wird: In der Südvorstadt, in Neustadt-Neuschönefeld, in der Westvorstadt liegen die Umzugspotenziale deutlich über 50 Prozent. Im sonstigen Stadtkern über 40 Prozent. Zu den dörflichen Rändern hin sinkt der Wert unter 20 Prozent.

Dafür steigt ein anderer Wert: der des Wohneigentums. Auf teilweise über 50 Prozent, während er im Herzen der Stadt meist unter 14 Prozent liegt – das Eigentum an Wohnungen mitgezählt.

Das hat zuweilen seltsame Effekte. Auch nach dem Image des eigenen Wohnviertels wurde gefragt. Und einige Wohnviertel scheinen derzeit – weil hier so viel passiert – wie zwischen Baum und Borke. Altlindenau und Anger-Crottendorf zum Beispiel – von den einen dauerhaft als attraktiv empfunden, von den anderen dauerhaft als unattraktiv. Es sind tatsächlich die Ortsteile mit der meisten Umzugsbewegung, wo das so ist. Sie finden sich gerade erst. Und einiges deutet darauf hin, dass sich einige Leipziger Ortsteile in nächster Zeit noch weiter ausdifferenzieren werden. Und damit ist nicht die Gentrifizierung gemeint.

Auch wenn die ganz sicher dafür sorgen wird, dass einige Teile der Stadt sich sehr seltsam entwickeln werden. Denn wenn man die Pionier-Bevölkerung verdrängt, kommt zwar ein zahlungskräftigeres Publikum – bis das aber neue Netzwerke und Gemeinschaftsprojekte geschaffen hat, vergehen Jahre. Das Viertel wird eine Art Weißer Fleck auf der gesellschaftlichen Karte der Stadt. Und entsprechend fallen die Wünsche aus, wenn die Verwaltung schon einmal nach den drängendsten Investitionswünschen im Ortsteil fragt.

Zentrum-West zum Beispiel, da, wo die Stadt einem Investor hilft beim Parkhausbauen: Straßensanierung, Parkplätze, Fuß- und Radwege. In der Reihenfolge. Straßensanierung ist ein Mega-Thema in der Stadt. An den meisten Straßen hat sich zwar nichts verschlechtert in den letzten Jahren. Einige sind so robust und holperig wie vor 20 Jahren. Aber mit den etwas strengeren Wintern der letzten Jahre gab es bei vielen Leipziger so einen Aha-Effekt: Da könnte die Stadt ja mal was tun. Am besten meine Straße als erste.

So versessen auf neue Parkplätze aber ist man fast nur im Zentrum. Was eigentlich die Vermutung nahe legt, dass immer mehr Parkhäuser das Parkproblem nur verschärfen. In Schleußig und Gohlis-Süd tickt man auch noch so schräg. Man will nicht aufs Auto verzichten, obwohl die Wegeverbindungen mit Rad und ÖPNV kurz sind. Aber nicht gut. In vielen anderen Stadtquartieren kommen die Fuß- und Radwege nämlich gleich nach dem Straßenzustand.

Das Problem ist dasselbe. Jahrelang wurde auf Sparflamme gefahren und auch im Jahr 2012 reichen die Investitionsgelder eigentlich nur für das Nötigste. Mit der Schlaglochdebatte ist das Thema augenscheinlich ins Bewusstsein der meisten Leipziger gerückt. Und da, wo es wirklich brennt, tauchen auch die anderen drängenden Investitionsprobleme auf: Schulen und Kindertagesstätten. Und – in einigen Ortsteilen am Stadtrand – die Nahversorgung.

Und ganz auffällig in Möckern, Wahren, Lützschena-Stahmeln, Lindenthal und Seehausen – diese Ortsteile leiden auch nach Einführung der kurzen Südabkurvung (die nicht mehr ganz so viele Leipziger in Mitleidenschaft zieht) unterm Fluglärm.

Dass in Lützschena-Stahmeln auch noch die Nahversorgung im Eimer ist, verweist auf ein anderes Problem: Die Center-Politik der Nahversorger, die mittlerweile nicht nur Dörfer im ländlichen Raum von jeder Grundversorgung abhängt, sondern auch erste städtische Randgebiete.

Man versteht schon, warum die Leute dann lieber ihr Auto behalten und nach Günthersdorf zum Einkaufen fahren. Nachhaltig oder umweltverträglich ist das nicht.

Also geht’s morgen an dieser Stelle mal wieder um Einkaufs-Center, Einkaufsfahrten und das Wörtchen Fußläufigkeit.

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