Hatten Juliane Nagel und Tilman Loos recht, als sie im Oktober 2011 den Fragenteil zu Ausländern in der "Bürgerumfrage 2011" kritisierten? Werden Migranten durch die Fragen auf bestimmte Gruppenvorurteile reduziert? Oder ist es nicht eher so, dass die Fragen die schwelenden Vorurteile der Befragten sichtbar machen? Die der Leipziger selbst? Unsere? - Das Antwortverhalten jedenfalls gibt zu denken.
Im Schnellbericht zur Bürgerumfrage 2011 sind zumindest die globalen Antwort-Prozente veröffentlicht. Die Details fehlen noch und werden dann hoffentlich mit der Auswertung der gesamten Bürgerumfrage spätestens im Juli vorliegen. Denn bei globalen Prozenten bleibt immer die Frage: Wer steckt eigentlich hinter welchen Aussagen?
Die diversen Studien des Leipziger Professors für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie Elmar Brähler und seiner Studienpartner zum Thema sind ja seit Jahren immer wieder Diskussionsgegenstand. Auch seine Erkenntnisse zur Verbreitung nationalistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Es sind nicht nur die Armen, Dummen und Arbeitslosen, die ihren Frust und ihre Ängste um die Existenz hinter Ressentiments gegen Andersfarbige, Andersdenkende, Andersseiende verstecken.
Es sind Ressentiments, die auch von anderen Parteien als eben nur den rechtsextremen angesprochen und instrumentalisiert werden. Nicht nur in Frankreich, wo das gerade einmal wieder den Präsidentenwahlkampf überschattet. Dass es eben mal nicht die Juden sind oder wie in Frankreich die Sinti und Roma, sondern auch gern mal die Türken, macht die Sache nicht besser – es zeigt nur, dass die Wahl des Opfers in diesem Aggressionsbild völlig egal ist. Die Mechanismen sind immer die gleichen. Und wie leicht sie zu bedienen sind, hat der Abschaff-Experte Thilo Sarrazin ja gezeigt.
Sind die Leipziger anders? – Klare Antwort: Nein.
Inwieweit die Antworten den Antworten aus anderen Großstädten im Schema der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) entsprechen, werden uns Leipzigs Statistiker bestimmt auch noch erzählen.
Wichtigstes Ergebnis: Die meisten Leipziger sind keineswegs fremdenfeindlich. Ein paar aber sind’s doch. Inwieweit das mit Alter, Bildungsgrad, Erwerbstätigkeit direkt oder indirekt zusammen hängt – wir werden es hoffentlich erfahren.
Aber die Zahlen zeigen auch: Ein gewisses Potenzial für Rattenfänger ist da. Ungefähr 15 Prozent, wenn man es im Gesamtschnitt betrachtet.
Etwa bei der nun wirklich deutlichen Aussage “Man sollte Ausländern jede politische Betätigung in Deutschland untersagen.” Hier stimmten 9 Prozent der Teilnehmer der Bürgerumfrage “voll und ganz” zu, 5 Prozent “eher”. Und so wirklich gut lesen sich 25 Prozent bei “teils / teils” auch nicht. Die Mehrheit – 62 Prozent – stimmt der Aussage eher oder überhaupt nicht zu.Und wie ist es mit der klassischen NPD-Aussage “Ausländer nehmen die Arbeitsplätze in Leipzig weg.”? – Hier stimmten 5 Prozent der Befragten “voll und ganz” zu, 4 Prozent “eher”. Vielleicht auch, weil viele der wirklich Betroffenen erleben, dass selbst bei den hundsmiserabel bezahlten Jobs weißhäutige Bewerber bevorzugt werden. Die Arbeitslosenquote bei Ausländern in Leipzig lag 2010 zum Beispiel mit 27,5 Prozent fast doppelt so hoch wie der Gesamtdurchschnitt von 14 Prozent.
Eher scheinen manche Leipziger durch die Präsenz von Menschen verunsichert, deren Sprache und Kultur sie nicht verstehen. 23 Prozent der Befragten sagten zum Beispiel, sie würden die Ausländer nicht oder eher nicht als kulturelle Bereicherung empfinden. 20 Prozent meinen, man fühle sich durch die in Leipzig lebenden Ausländer zunehmend als Fremder in seiner Stadt.
Eine mögliche Antwort wäre: Diejenigen, die so antworten, haben mit Ausländern tatsächlich eher nichts zu tun. Ihnen fehlen die Möglichkeiten der Begegnung.
Immerhin 57 Prozent der Leipziger geben an, dass sie regelmäßig Kontakte zu Ausländern haben. 54 Prozent kommen mit Ausländern am Arbeitsplatz in Kontakt, 38 Prozent im Freundes- und Bekanntenkreis, 36 Prozent in der Nachbarschaft, 18 Prozent in Schule, Studium und Ausbildung.
Und: 65 Prozent derjenigen, die solche Kontakte haben, bewerten sie als positiv. Weitere 29 Prozent meinen “teils / teils”. Nur 5 Prozent bewerten die Kontakte als negativ.
Und das ist der Punkt, da sollte man Juliane Nagel und Tilman Loos wohl recht geben: Das Gegenstück fehlt. Man kann mit diesen Bewertungen nichts anfangen, wenn nicht parallel nach dem Verhältnis zur mitlebenden deutschen Mehrheit gefragt wird. Es würde nicht verwundern, wenn auch hier 29 Prozent der Befragten sagen würden: Nuja, was Besonderes ist das eigentlich nicht. Und vielleicht sogar mehr als 5 Prozent: Das sind alles grässliche Leute.
Eher schwieriger sind natürlich Aussagen wie: “Die in Leipzig lebenden Ausländer sind eine kulturelle Bereicherung für die Stadt.” Woran misst man so etwas? – Man sollte ja auch nicht vergessen, dass Ausländer mit 6 Prozent Anteil an der Bevölkerung immer noch eine kleine Minderheit sind.
Welchen Wert hat dann die Aussage von 33 Prozent der Leipziger, Ausländer seien eine kulturelle Bereicherung? Ist hier ihre bloße Anwesenheit als Bereicherung gemeint oder ihr wirkliches Teilnehmen am kulturellen Angebot?
Mal ehrlich: Auch Sozialwissenschaftler haben zuweilen Tomaten auf den Augen. Diese Aussage ist wie Watte. Und so ähnlich werden das auch die Teilnehmer der Umfrage gesehen haben. Da haben 44 Prozent lieber bei “teils / teils” ihr Kreuzchen gemacht. Wohl ahnend, dass diese scheinbar so harmlose Frage einen Bandwurm wirklich wichtiger Fragen nach sich zieht. Zum Beispiel diese: Was für eine Kultur haben wir eigentlich? Ist die nicht selbst schon ein Gemix aus haufenweise ausländischen Einflüssen – vom indischen Yoga über griechische Demokratie bis hin zu dem Müll aus Hollywood?
Und – noch viel drängender: Sind die Ausländer nicht längst Teil unserer Kultur? Wer will sie da heraussubstrahieren?
Dass die meisten Teilnehmer der Umfrage hier in die Bredouille kamen, zeigt die Zustimmung zur Aussage “Die Ausländer sollten ihren Lebensstil an den der Deutschen anpassen.” – 52 Prozent stimmten zu. 38 Prozent fühlten sich wohl wieder mal veralbert und kreuzten “teils / teils” an.
Bei all den Fragen aus ALLBUS müsste es eigentlich immer eine sechste Spalte geben, die man ankreuzen kann: “Ich fühle mich verarscht.”
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Denn wissenschaftlich ist das alles nicht. Eben noch wurde nach “kultureller Bereicherung” gefragt, jetzt geht es um Lebensstile. Was ist denn – sozialwissenschaftlich betrachtet – ein “deutscher Lebensstil”? Weißwurst, Lederhose und Schuhplattler? Preußische Arbeitswut und Moralstrenge? BMW-Fahren, Fitness-Studio und Opernball? Fußball-Gucken, Bratwurst und Bier? Oder gar schwarze Klamotten, Springerstiefel und Ausländer-Verprügeln?
Wer von “Lebensstil der Deutschen” faselt, hat selbst ein Problem.
Selbst die Soziologie definiert ganze Gruppen von unterschiedlichsten Lebensstilen. Die unter anderem durch Einkommen, kulturelle Teilhabe, Bildungsgrad, Wohnmilieu usw. definiert sind.
Egal wie man’s dreht und wendet – der Versuch, die komplexe Gemengelage mit den Fragen aus dem ALLBUS-Katalog zu erleuchten, geht schief.
Und auch hier drängt sich die Frage auf: Warum wird dasselbe nicht auch für die deutsche Bevölkerungsmehrheit abgefragt? Warum sollen die Leute mit den anderen Lebensstilen nicht ihr Leben an meinen Stil anpassen? Wäre doch viel sinnvoller. Gäb’s keine vermüllten Parks mehr, keine rasenden Autofahrer, keine grölenden Fußballfans – um mal ein paar Lebensstile anzudeuten, die man ja irgendwie als deutsche bezeichnen muss, weil sie so üblich sind.
Jetzt kann man eigentlich nur gespannt sein, wie die detaillierte Auswertung der “Bürgerumfrage 2011” ausfallen wird. In der Ausländer-Frage tendiere ich dazu, die Kritik von Juliane Nagel und Tilman Loos für berechtigt zu halten.
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