"Jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland würde mehr Geld verdienen, wenn es einen Mindestlohn von 8,50 Euro gäbe", das war das Ergebnis einer Auswertung, die das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen (UDE) am Dienstag, 13. März, veröffentlichte. Die Forscher haben es positiv formuliert.

“Gut ein Viertel der Frauen und knapp 15 Prozent der Männer würden demnach von einer solchen Gehaltsgrenze profitieren. Momentan bekommen in Westdeutschland rund 17 Prozent weniger als diesen Stundenlohn, in Ostdeutschland ist es sogar jeder Dritte”, so die IAQ-Forscher.

Eine Nachricht, die zu den jüngsten Diskussionen in Leipzig passt. Immer mehr Leipziger melden sich zu Wort, die bei verschiedenen gut beleumundeten Unternehmen in Leipzig für Niedriglöhne arbeiten, manche in Ketten-Zeitarbeits-Verträgen, manche sogar in staatlich subventionierten Logistik-Jobs. Allen gemeinsam ist: Sie verdienen so wenig, dass sie ohne Unterstützung staatlicher Sozialprogramme nicht mal ihre Miete bezahlen könnten.

Da sehen auch die so gern gelobten Zahlen zum Sinken der Arbeitslosenzahlen in Leipzig gleich ganz anders aus. Und auch die zum zahlenmäßigen Anstieg der Beschäftigtenzahl. So stieg die Zahl der Beschäftigten in Leipzig von 2007 bis 2011 immerhin von 200.064 auf 215.886. Dazu kamen 2011 statistisch 32.082 Personen, die ausschließlich geringfügig entlohnt wurden. Das aber sind nur die Zahlen, die die Arbeitsagentur bekannt gibt.

Was die offiziell “richtig” beschäftigten Leipziger verdienen, wird statistisch nicht erfasst. Die Verdienststatistiken des Landesamtes für Statistik bilden nur den geringen Anteil der Beschäftigten ab, die mit vierteljährlichen Fragebögen bei Unternehmen und Verwaltungen erfragt werden. Hier taucht ein Großteil der Arbeitstätigen gar nicht auf. Selbst Bruttogehälter von 3.000, 4.000 Euro mögen für einige dieser Bereiche durchaus typisch sein. So typisch, dass die Betroffenen nicht einmal ahnen, für welches geringe Entgelt tatsächlich die meisten Sachsen arbeiten.

Auch die Bruttoverdienste einzelner Wirtschaftssegmente, die das Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig in seinem “Jahrbuch” veröffentlicht, haben mit der Realität der meisten Leipziger nichts zu tun. 3.268 Euro Bruttoverdienst in der IT-Branche? Da fassen sich die meisten IT-Beschäftigten in Leipzig an den Kopf. Auch 2.330 Euro im Produzierenden Gewerbe sind größtenteils utopisch. 2.219 Euro in der Logistik? Für die meisten Logistik-Unternehmen unbezahlbar.

Tatsächlich hatten 2010 nur 68.000 Leipziger ein Nettoeinkommen von über 1.700 Euro im Monat. Weitere 123.000 gingen nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben mit einem Nettoeinkommen von 1.100 bis 1.699 Euro nach Hause. Das sind – einfach mal zum Nachrechnen – schon jene Beschäftigten, die mit 10 Euro die Stunde und weniger nach Hause gehen. Alles drunter ist schon Armut. Und wenn Leipzig seine “Armutsgefährdungsquote” am eigenen Leipziger Einkommensdurchschnitt ausrechnet oder auch am sächsischen, dann lügt sich die Stadt selbst in die Tasche.Leipzig ist Teil einer nach wie vor prekären Einkommenslandschaft. Und dass der Anpassungsprozess an das gesamtdeutsche Einkommensniveau in den letzten zehn Jahren zum Erliegen kam, hat auch damit zu tun, dass gerade Leipzig zum Experimentierfeld all der “Reformen” am Arbeitsmarkt wurde, die seit Ende der 1990er ausprobiert und 2005 Teil des Hartz-Reform-Paktes wurden.

Ermittelt hat das IAQ die Ergebnisse auf der Basis von Daten des sozio-ökonomischen Panels, einer repräsentativen Befragung von mehr als 12.000 Privathaushalten in Deutschland. Und dabei zeigte sich das, was die üblichen Statistiken eben nicht ausweisen: dass fast jeder vierte abhängig Beschäftigte im Jahr 2010 für weniger als 9,15 Euro pro Stunde arbeitete.

Im Durchschnitt verdiente ein Niedriglöhner 6,68 Euro pro Stunde in West- und 6,52 Euro in Ostdeutschland. Bezieht man Schüler, Studierende und Rentner ein, sind fast 8 Millionen Beschäftigte in Deutschland von Niedriglöhnen betroffen, errechneten die IAQ-Forscher Thorsten Kalina und Dr. Claudia Weinkopf.

Dass die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten seit 1995 um 2,33 Millionen zugenommen hat, geht dabei fast ausschließlich auf die Entwicklung im Westen zurück: Hier stieg die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten zwischen 1995 und 2010 um 68 Prozent, in Ostdeutschland nur um drei Prozent.

Gut 2,5 Millionen Beschäftigte in Deutschland hatten 2010 einen Stundenlohn von weniger als 6 Euro, 1,4 Millionen sogar weniger als 5 Euro.

Vor allem Ostdeutsche, Frauen und Beschäftigte in Minijobs waren von derart geringen Gehältern betroffen. Aber auch 789.000 Vollzeitbeschäftigte verdienten im gleichen Jahr nach IAQ-Berechnungen weniger als 6 Euro pro Stunde und kamen damit auf einen Monatslohn, der mehr oder weniger deutlich unter 1.000 Euro lag. Nach den IAQ-Berechnungen arbeiten 39,1 % der Ostdeutschen unterhalb der Niedriglohnschwelle von 9,15 Euro (Westdeutschland: 19,9 %).

“Solche niedrigen Stundenlöhne sind auch häufig die Ursache dafür, dass das Erwerbseinkommen nicht zur Existenzsicherung reicht und aufstockende Leistungen des Staates in Anspruch genommen werden müssen”, kritisiert Dr. Claudia Weinkopf, Vize-Chefin des IAQ. Und warum der Sozialetat in Leipzig von Jahr zu Jahr mehr aufgebläht wurde, obwohl die “Arbeitslosigkeit” sank und obwohl sich renommierte Unternehmen in Leipzig ansiedelten. Auch sie nutzten die Möglichkeiten der “Liberalisierung des Arbeitsmarktes” aus. Nicht ohne Grund hat die Gewerkschaft ver.di gegen die Ketten-Zeitarbeits-Verträge eines Leipziger Autobauers geklagt. Und das ist nicht das einzige Unternehmen, das in diesen Tagen heftig in die Kritik gerät. Denn allzu sehr kontrastieren die Nachrichten von “Rekordgewinnen” mit den Entlohnungen vieler Beschäftigter.

Ein gesetzlicher Mindestlohn sei auch in Deutschland dringend erforderlich, um Niedrigstlöhne wirksam zu unterbinden, stellen auch die IAQ-Experten fest. Allerdings müsste eine solche Untergrenze für alle Branchen und Beschäftigtengruppen gelten und nicht nur für die wenigen Bereiche, in denen es keinerlei tarifliche Regelungen gibt.

Wer übrigens die Leipziger Zahlen näher betrachtet, wird feststellen, dass der hiesige Arbeitsmarkt geradezu auf den Kopf gestellt ist: Nur etwa die Hälfte der Beschäftigten bekommt mehr als Niedriglohn. Und das hat Auswirkungen auf alle Bereiche des städtischen Lebens – auf die niedrigen Steuereinnahmen, auf die niedrige Kaufkraft, auf die gesellschaftliche Teilhabe – bis hin zu den Bildungschancen.

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