Statistiken beweisen nicht alles. Aber sie beschreiben Zustände und Entwicklungen oft sehr anschaulich. Etwa wenn ein Land Bevölkerung verliert, was einige kluge Köpfe gern als "Schrumpfen" bezeichnen. Sie verabscheuen Schrumpfungsprozesse, beten das heilige Kalb des ewigen Wachstums an. Und machen entsprechende dumme Politik. Leipzig wächst. Zumindest in Zahlen.

Das steht auch in sinnfälligen Tabellen und Grafiken im neuesten “Monitoringbericht Wohnen”, den das Dezernat Stadtentwicklung und Bau herausgegeben hat, dem elften Bericht dieser Art seit 2000. Was auch deshalb spannend ist, weil die Statistiken in diesem 66-Seiten-Heft zeigen, dass Prognosen nichts als heißer Dampf sind. Und das jeder Planer schlecht beraten ist, mit alten Prognosen Politik zu machen.

Im Jahr 2000 prognostizierte das Sächsische Landesamt für Statistik der Stadt Leipzig noch ein Mini-Wachstum auf maximal 497.000 Einwohner. Man wusste da zwar in Leipzig schon, dass um das Jahr 1999 herum irgendetwas spürbar anders geworden war. Aber man konnte es noch nicht mit Zahlen belegen. Zu frisch war auch noch die heftige Erfahrung, dass eine Großstadt wie Leipzig binnen zehn Jahren 100.000 Einwohner verlieren kann. Die hatten in den 1990er Jahre alle ihre Trabis und Wartburgs und Reisekoffer vollgepackt und waren Richtung Stuttgart, Bingen und Regensburg verschwunden. Sehr zur Freude der dortigen Bürgermeister, Landräte und IHK-Präsidenten: So viel gut ausgebildetes Spitzenpersonal für null Investitionen, das hatte es noch nie gegeben. Dem kompletten Osten gingen so über 2 Millionen junge Menschen und ausgebildete Fachkräfte verloren.

Einfach um das auch einmal für die Sitzenbleiber in Mathematik noch einmal in Zahlen zu benennen: Wenn ein Schüler in Sachsen nach zehn Jahren mit einem guten Zeugnis die Schule verlässt, hat er 38.000 Euro an Bildungskosten verursacht. Hat er gar noch eine ordentliche Lehre absolviert, sind 50.000 Euro aufgewendet worden. Bei erfolgreich absolviertem Abitur mit anschließendem Studium steigt der Betrag auf über 60.000 Euro.

Zahlen, die auch ein sächsischer Bildungsminister eigentlich kennen müsste. Aber der letzte hat sie wohl unter Ulk verbucht, er hätte sonst begriffen, wie viel Geld ein Bundesland wie Sachsen verliert, wenn es seine jungen Leute nach der Ausbildung nicht da behält. Wer nachrechnen will: 2 Millionen mal 50.000 ergeben 100 Milliarden Euro. Und das ist nicht der einzige Posten, mit dem der deutsche Osten zur Deutschen Einheit beiträgt.
Und da Leipzig genau da liegt, war das magere 497.000-Einwohner-Szenario 2000 allen Beteiligten durchaus plausibel. Die Sanierung der Gründerzeitviertel war erst 1998 so richtig in Gang gekommen, nachdem Helmut Kohl endlich das unsinnige Steuerabschreibungsgesetz für Neubau-Investitionen im Osten kassiert hatte. Das Erbe dieses Gesetzes sind bis heute monströse “Center” aller Art draußen auf der “grünen Wiese”, die eigentlich ein wertvoller Acker sein könnte.

Mit dem seit 2000 jährlich stattfindenden Monitoring sollte der wohl doch sehr zähe Prozess der Rückgewinnung lebendigen Stadtraums begleitet und beschrieben werden. Mitsamt dem Abbau des gewaltigen Berges an leer stehendem Wohnraum. 69.000 Wohnungen standen nach Schätzungen des Baudezernats 2000 in Leipzig leer, viele davon unsaniert und nicht vermarktbar. Da ging es Leipzig nicht anders als etwa Wurzen, Wolfen oder Hoyerswerda. Die Bundesregierung sah sich gezwungen, ein regelrechtes Rückbau-Programm für den Osten aufzulegen und den Abriss von Wohngebäuden zu “fördern”.

Zwischen 15.000 und 20.000 Wohnungen sollten so auch in Leipzig abgerissen werden. Doch um das Jahr 2008 kam der Abriss fast zum Erliegen. “Was eigentlich logisch ist”, sagt Stefan Heinig, Abteilungsleiter Stadtentwicklungsplanung im Baudezernat. “Es gab ja keine Notwendigkeit mehr, noch weiter abzureißen.” Rund 13.000 “rückgebaute” Wohnungen standen am Ende unterm Strich. Seitdem ist zwar kein Wohnungs-Bau-Boom ausgebrochen. Aber wer durch die innerstädtischen Quartiere fährt, sieht, dass die Sanierungstätigkeit dort ungebrochen ist.
Was unter anderem zum Ergebnis hat, dass zwar die Zahl der Wohnungen aus der DDR-Zeit gesunken ist – von 97.887 im Jahr 2005 auf 94.559. Dafür ist die Zahl der Wohnungen aus der Zeit vor 1949 von 168.251 auf 171.825 gestiegen. Es kamen also auch wieder Wohnungen auf den Markt, die längst abgeschrieben gewesen waren.

Das sinnfällige am Monitoringbericht sind die vielen farbigen Karten im Mittelteil, die zeigen, wie die Entwicklung in den city-nahen Ortsteilen in den letzten Jahren verlief, wie hier die Einwohnerzahl drastisch anstieg, der Altersdurchschnitt sank, die Bautätigkeit zunahm und – als letzter Effekt – die Mieten und die Kaufpreise anzogen.

Denn nichts zeigt ja sinnfälliger als eine Stadt, wie ein Markt funktioniert: Da, wo das Angebot attraktiv und begrenzt ist, findet es nicht nur schneller seine Käufer – in diesem Fall also Bewohner – es verknappt sich auch schneller. Das Ergebnis ist: Der Leerstand verringert sich. In Ortsteilen wie Schleußig tendiert der Leerstand mittlerweile gegen Null. Was nun auch dem dort seit Jahren hohen Bevölkerungswachstum auf einmal einen Stopp verpasst. Aktuell wächst Schleußig hauptsächlich über die Geburtenrate – die jungen Familien werden größer.

Ähnliche Alles-ist-voll-Erscheinungen gibt es in der Südvorstadt, im Waldstraßenviertel, in Gohlis-Süd. Und da neue Wohnungen hier mit einer höheren Miete angeboten werden können, animierte es die gelehrigste aller Leipziger Zeitungen in den letzten Monaten zu richtigen Ojemine!-Serien: “Die Mieten explodieren!”

Ist natürlich Quatsch. In den city-nahen Lagen ist das so. Diese Quartiere, die auch in Leipzigs historischen Zeiten die bevorzugten Wohnquartiere des reicheren Bürgertums waren, liegt das Mietniveau jetzt tatsächlich über 5,70 Euro bei Neuvermietungen. Im Stadtdurchschnitt selbst liegt es weiterhin bei 5 Euro. Mit Aufwärtstendenzen in jenen Ortsteilen, die wie Schleußig, Connewitz oder Plagwitz nun langsam “voll” sind. Vor 12 Jahren, als das EXPO-Projekt in Plagwitz gerade umgesetzt wurde, hätte niemand in Leipzig damit gerechnet, dass das so schnell passiert. Mittlerweile weichen die jungen Re-Urbanisierer nach Lindenau, Neulindenau, Reudnitz und Stötteritz aus, in Gohlis-Mitte, Möckern und Eutritzsch gibt es deutlichen Zuwachs.

Und die Stadtplaner beobachten auch erstaunliche Wieder-Bezugstendenzen in Leutzsch und Schönefeld. Was natürlich damit zu tun hat, dass Leipzig heute schon über 30.000 Einwohner mehr hat, als noch 2000 prognostiziert. Was nicht nur an der gestiegenen Geburtenzahl liegt (2011: 5.602), sondern vor allem am Zuzug junger Menschen aus dem Umland.

Im Gegenzug hat das natürlich den gewaltigen Leerstand deutlich verringert. Aus den 69.000 leer stehenden Wohnungen von 2000 sind nach Schätzungen der Stadtplaner 34.000 geworden. “Genauere Zahlen bekommen wir erst durch den Zensus”, sagt Heinig. Aber das entspräche nun einer Leerstandsquote von 10,5 Prozent, die natürlich in den Leipziger Ortsteilen deutlich differiert.

Und sie differiert auch im Wohnungsbestand. Im Altbau (bis 1949) gehen die Stadtplaner heute von einem Leerstand von 14 Prozent aus. Im Plattenbau aus DDR-Zeiten ist der Leerstand auf 9 Prozent gesunken, in Neubauten nach 1990 auf 3 Prozent geblieben.

Der Monitoring-Bericht weitet den Fokus auch auf die umliegende Region, erfasst auch in einigen Grafiken die Entwicklung in Halle und im Saalkreis mit. Was zumindest deutlich macht, dass auch der einst zum Tummelplatz der Hallenser Neureichen gewordene Saalkreis mittlerweile ebenso heftig an Bevölkerung verliert wie die Landkreise Nordsachsen und Leipzig. Der Grund ist ein simpler: Es sind vor allem die jungen Leute, die wegziehen – vor allem zur Ausbildung. Und weil sie am Ausbildungsort meist auch Familie gründen und eine Berufskarriere starten, bleiben die einstigen häuslebauenden Eltern in ihrem Häuschen allein.

Und da dort in der Regel auch die Infrastrukturen fehlen oder sogar zurückgebaut werden, die junge Familien mit Kindern brauchen, bleiben die jungen Leute in der großen Stadt. Die damit ihre jährlichen Zuwachsraten sammelt.

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