Zwischen der VII. und der VIII. Wahlperiode des Stadtrats Leipzig fragen wir nicht nur Politiker, sondern auch Vereine, Verbände und Initiativen danach, wie sie die letzten fünf Jahre erlebt haben und was sie vom neuen Stadtrat erwarten. Wir trafen uns mit Gunter Jähnig, dem Vorsitzenden des Behindertenverbands Leipzig e.V., zum Gespräch. Gunter Jähnig war langjährig auch der Vorsitzende des Verbandes und Mitglied im Behindertenbeirat der Stadt Leipzig.
Guten Tag, Herr Jähnig! Wie schätzen Sie die letzten fünf Jahre ein? Hat sich etwas getan für die Menschen mit Behinderungen in Leipzig?
Das ist eine schwierige Frage. Es haben sich sicherlich Dinge bewegt, manchmal kriegt man das unmittelbar gar nicht mit. Aber das Bewusstsein für Barrierefreiheit, denke ich mal, ist im Schnitt gestiegen. Was aber nicht heißt, dass es überall so ist. Auf unseren Stadtrat bezogen kann ich mich nicht erinnern, dass Anträge, die vom Behindertenbeirat gestellt worden sind, nicht durchkamen.
Das waren auch nicht so viele, denn: Es wird ja nicht für jedes Problem ein Antrag gestellt. Dort wo es Reflexionen gab, meistens kam es über verschiedene Fraktionen und wurde dann vom Beirat unterstützt, hat das geklappt. Ich denke an die Forderung des Umbaus im Aquarium des Zoos Leipzig zu einem barrierefreien Zugang. Da gab es 100 Prozent Zustimmung seitens des Stadtrates, dann ist es doch nicht realisiert worden. Die Begründung waren brandschutztechnische Gründe, was ich für eine Lüge halte.
Trotz mehrfacher schriftlicher Nachfrage, man möge das bitte erklären, kam keine Antwort. Das heißt für mich, dass es einfach ein vorgeschobenes Argument war, man hatte es einfach nicht in der Planung gehabt.
Dann wurde gesagt: Wir können ja unten ein Video zeigen, nicht live, sondern eine Aufzeichnung vom Aquarium, für die Leute, die nicht hoch können. Ich fand das reichlich daneben. Es hat nicht nur mich wirklich sehr verärgert, dass man die Barrierefreiheit dort nicht berücksichtigt hat und vor allem, dass man so tut, als wäre es nicht möglich gewesen.
Das war schon sehr ausführlich zum Zoo, was gibt es noch?
Was mich auch irritiert hat, war die Sache mit den Fahrrädern in der Straßenbahn. Das Problem ist, dass es seit ungefähr einem Jahr die Regelung gibt, dass Fahrräder abends und sonntags kostenfrei mitgenommen werden können. Respektive nur, wenn Rollstuhlfahrer den Platz nicht benötigen. Es ist aber das Problem, wenn ein Fahrradfahrer im Fahrzeug ist, dann ist er einen Vertrag mit der LVB eingegangen und da können sie nicht sagen: Verlassen Sie den Wagen, ich möchte mit dem Rollstuhl rein.
Da ist aber leider nicht darauf reagiert worden, das ist nun schon fast ein Jahr her. Eine Fraktion hat geschrieben, dass sie das nicht nachvollziehen kann. Die Rollstuhlfahrer haben doch Vorrang. Das ist richtig beim Einsteigen, aber nicht, wenn jemand schon drin ist und dieses Bewusstsein nicht da ist. Die LVB hat ähnlich reagiert und es am Ende auch vom Tisch gewischt. Da würde ich mir wünschen, dass man da einfach ein Stückchen mehr überlegt. Für Rollstuhlfahrer gibt es in der Nacht nicht die Möglichkeit, lange Strecken durch die Stadt zu fahren.
Es steht natürlich die Frage: Warum ist nicht bei allen öffentlichen Bauten die Barrierefreiheit bis zum letzten Meter gewährleistet? Ist das eigentlich ein generelles Problem? Ich denke an den Handlauf der Freitreppe am neuen Rathaus, der wurde jetzt realisiert. Ist es generell ein Problem, dass der Denkmalschutz der Barrierefreiheit im Weg steht?
Ja, auf alle Fälle. Teilweise ist es sogar so, dass Leute die näher dran sind am Denkmalschutz, nicht wissen, dass es seit April 2014 eine Regelung gibt, dass die Belange mobilitätseingeschränkter und behinderter Menschen zu berücksichtigen sind. Die sollten nicht berücksichtigt werden, sondern sind zu berücksichtigen. Das ist definitiv vorgeschrieben. Wir sind alle zwei Jahre, als Behindertenverband, auf der Denkmalmesse, um zu zeigen, dass Denkmalschutz und Barrierefreiheit zusammen geht. Es ist erstaunlich, wie viele Leute aus dem Denkmalbereich dort immer noch irritiert sind.
Barrierefreiheit geht also regelhaft vor Denkmalschutz, oder anders: Für öffentliche Gebäude und ähnliches ist der Denkmalschutz keine Ausrede mehr?
Ich finde es erstaunlich, dass unser Völkerschlachtdenkmal im Rahmen der Möglichkeiten umgestaltet worden ist. Wir hatten das auf dem Schirm und auch der Förderverein hat von Anfang an die Barrierefreiheit, im Rahmen der Möglichkeiten, im Blick gehabt. Das hat zwar 25 Jahre mit der Rampe gedauert, aber jetzt ist sie da. Auch dort gab es große Diskussionen mit dem Denkmalschutz. Es ist manchmal wie von einer anderen Welt. Es ist schwierig, aber es hat sich auch ein Stück in die Richtung entwickelt, dass mehr Aufgeschlossenheit da ist. Nicht überall, aber vom Ansatz her.
Andere Frage: Es gab ja im Stadtrat sehr viele Initiativen, was den Straßenverkehr betrifft, zum Beispiel Parkordnungen, sprich Freihalten von Bordsteinabsenkungen, Blindenleitstreifen usw. Hat sich denn aus Ihrer Sicht dort etwas getan?
Zu diesen Absenkungen: Es ist ja seit Jahren beim Tiefbauamt Vorschrift, dass der Bordstein bei der Absenkung zur Straße hin eine Kante mit einer Höhe von 3 cm behält. 3 cm deshalb, weil ein Blindenhund eine geringere Höhe nicht als Höhe erkennt. Und dann würde der mit dem zu betreuenden blinden Menschen einfach auf die Straße laufen.
Für die Person mit dem Blindenlangstock ist das kein Problem, der kann das ertasten und der Rollstuhlfahrer kommt da ohne Probleme drüber. Das Problem ist, dass sich die Leute einfach nicht in Regelung halten. Das hat ja nichts mit dem Bauamt zu tun.
Mir ging es hier mehr ums Ordnungsamt.
Das kommt schon vor. Wenn bei uns draußen Leute stehen, die nicht berechtigt sind, geben wir einen Hinweis. Aber wir wissen nicht, ob der Sache nachgegangen wird, das teilt man uns nicht mit. Was mich verärgert hat, das war in der letzten Legislatur, dass einfach Behindertenparkplätze wegrationalisiert wurden, um dort Stellflächen zum Elektroparken einzurichten.
Solche Flächen werden gebraucht, keine Frage, aber dafür kann ich nicht Behindertenparkplätze wegrationalisieren. Angeblich haben die das dann so gelöst, dass sie diese an einer anderen Stelle eingerichtet haben. Das sind Dinge, über die sich die Betroffenen jedes Mal ärgern müssen.
Im privaten Bereich, in Einkaufsstätten, treffen die schon Vorsorge für Parkplätze für Menschen, die berechtigt sind. Dann stellen sich einfach andere Leute darauf. Ich habe das vor kurzem erlebt, da habe ich der Frau hinterhergerufen: „Sie haben ihren Rollstuhl vergessen.“ Dann blieb die stehen und war irritiert, hat wahrscheinlich ein kleines bisschen schlechtes Gewissen bekommen.
Und dann sah ich, wie ein Mann, der noch dem Auto saß, weggefahren ist. Es gibt auch Reaktionen, wo dann Leute zu einem kurz und knapp sagen: „Du Arsch.“ Das habe ich auch schon erleben müssen. Das ist so eine Umgangsform, die ich nicht nachvollziehen kann.
Es gab über die Jahre immer viele Beschwerden über die Arbeit der Ämter, ob das jetzt die Ausstellung des Behindertenausweises mit Kennzeichen „AG“ ist, oder die Bereitstellung von Parkplätzen für Rollstuhlfahrer. Hat sich dort etwas getan?
Nicht, dass ich wüsste. Ich bekomme nach wie vor mit, dass es unwahrscheinlich viel Zeit in Anspruch nimmt. Und hier in Leipzig ist es so geregelt, dass diese Parkplatznutzung, nur für den Personenkreis möglich ist, der das „AG“ im Ausweis ist. Hier in Leipzig das „AG“ zu bekommen ist schwierig, sobald Menschen nur ein, zwei Schritte laufen können, haben sie keine Chance. Das wird in anderen Städten etwas großzügiger geregelt.
Fakt ist: Es dauert lange und es ist schwierig. Viele Leute müssen erst in den Widerspruch gehen, um etwas erreichen zu können. Das kann man ruhig verallgemeinernd sagen. Wobei wir natürlich immer nur die Sachen mitkriegen, die negativ sind. Positive Sachen kommen uns kaum zu Ohren. Das muss man auch sagen, das ist leider das Normale.
In der letzten Frage geht es um etwas Vorausschau auf die neue Wahlperiode. Es gibt einen anders zusammengesetzten Stadtrat und jeder Verband oder Verein hat ja für die nächsten Jahre, ich nenne es mal ganz plakativ, eine Wunschliste. Was sollte aus Ihrer Sicht, durch die politischen Akteure, beschleunigt werden?
Das Thema Barrierefreiheit muss oben aufliegen. Bei sämtlichen Planungen muss das berücksichtigt werden. Nicht nur im Baugeschehen, sondern überall dort, wo es um uns Bürger geht. Und da gehört die Kommunikation, die Orientierungshilfe, die Zugänglichkeit natürlich dazu. Zum Beispiel, dass es für gehörlose Menschen zur Normalität wird, dass bei Großveranstaltungen die Möglichkeit besteht, Gebärdensprachdolmetscher einzusetzen.
Zum Beispiel beim Lichtfest. Ich habe das über Jahre versucht, mir wurde dann gesagt: Wir haben doch schon eine Bühne für Rollstuhlfahrer. Und da hat es bei mir wieder Klick gemacht. Ich sagte: Sie haben vollkommen recht, aber es gibt gehörlose Menschen. Dann hat es auf der anderen Seite Klick gemacht. Man denkt nicht in dem Maße tiefgründig darüber nach.
Wir haben dieses Jahr 35 Jahre friedliche Revolution, da geht es um die Veranstaltung im Gewandhaus. Die Rede zur Demokratie, da sind diesmal der Bundeskanzler da und die Frau Birthler. Und da habe ich auch ein paar Mal gebeten, dass Gebärdensprachdolmetscher dabei sein werden. Vor fünf Jahren war das nicht der Fall.
Ich habe auch darum gebeten, dass jemand vom Stadtverband der Hörgeschädigten mit eingeladen wird. Denn: Die waren genau so beteiligt. Wir sind ja seit Jahren gemeinsam im Gespräch, um die Belange von Menschen mit besonderen Situationen, mit Behinderungen, zu thematisieren und auf etwas Aktuelles zuspitzen. Kommunikation, Information, Orientierung. Das sollte einfach Normalität sein.
Herr Jähnig, ich bedanke mich für das Gespräch.
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