„Hallo Bundestag“ heißt das Projekt der Initiative „Es geht LOS“, die Personen aus der Bürger*innenschaft mit Abgeordneten aus dem Bundestag zum Gespräch zusammenbringt. Das Ziel: Das vorhandene demokratische System durch losbasierte, beratende Beteiligungsformate zu stärken. Seit Januar 2023 haben im Rahmen von „Hallo Bundestag“ 18 Wahlkreistage stattgefunden, an welchen Menschen mit den verschiedensten Hintergründen miteinander über aktuelle bundespolitische Themen diskutiert haben.
Wir haben mit Juliane Baruck, einer der Leiter*innen des Projekts, über ihre bisherigen Erfahrungen gesprochen und darüber, wie gelebte Bürger*innenbeteiligung in Zukunft aussehen kann.
Ihr habt ein aufregendes und ereignisreiches Jahr hinter euch, das Projekt „Hallo Bundestag“ hat noch eine letzte von drei Phasen vor sich. Wie geht es euch momentan?
Juliane Baruck: Uns geht es sehr gut. Gerade haben wir die zweite Projektphase erfolgreich und feierlich abgeschlossen. Wir sind überwältigt davon, auf welch gute Resonanz das Projekt trifft, sowohl bei den zufällig ausgelosten Teilnehmenden als auch bei den Abgeordneten. Denn es ist eine Sache, dass wir überzeugt davon sind, dass Wahlkreistage sinnvoll sind für ein demokratisches Miteinander, aber es ist eine ganz andere Sache, wenn auch die Teilnehmenden und die beteiligten Abgeordneten dieser Ansicht sind. Schließlich gibt es andere Formate, wie beispielsweise Infostände auf der Straße, mit denen die Politiker*innen in kürzerer Zeit vielleicht mehr Menschen erreichen können. Dass sie aber gerade den Mehrwert unseres Projekts sehen, das ist toll.
Kannst du die Arbeit der Initiative „Es geht LOS“ und speziell das Projekt „Hallo Bundestag“ noch einmal kurz beschreiben?
JB: „Es geht LOS“ ist eine Initiative des Vereins Demokratie Innovation e. V. Wir arbeiten daran, geloste Bürger*innenbeteiligung zu institutionalisieren. Zum Beispiel mit Projekten wie „Hallo Bundestag“. Dabei bringen wir ca. 30 zufällig aus dem Melderegister ausgeloste Menschen aus sechs Wahlkreisen deutschlandweit mit den Bundestagsabgeordneten aus ihrem Wahlkreis zusammen, um über bundespolitische Themen zu diskutieren. In einem gemeinsamen Austausch wollen wir Augenhöhe zwischen einer diversen Gruppe und den Politiker*innen herstellen.
Dieses Format nennen wir „Wahlkreistag“. Darüber hinaus gibt es den Wahlkreisrat: Oft sind Beteiligungsformate einmalig und die dann aktivierten Menschen gehen zurück in den normalen Alltag. Mit dem Wahlkreisrat versuchen wir, ein Angebot zu schaffen, um auch langfristig das Engagement der Teilnehmenden zu fördern. Dafür organisieren wir zum Beispiel weitere Treffen mit den Abgeordneten zu spezifischen Themen. Im Wahlkreis Roth (Bayern) war das neulich die Legalisierung von Cannabis. Oder aber wir gehen einfach einen Kaffee mit Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt trinken.
Kommen wir noch einmal zum Losverfahren – ihr wählt die Teilnehmenden nicht nur zufällig aus, sondern sucht sie auch in ihrem jeweiligen Wohnort auf, wenn ihr keine Rückmeldung erhaltet. Das bedeutet einen erheblichen Aufwand. Lohnt es sich? Und warum ist das Auslosen der Beteiligten so ein wichtiger Faktor?
JB: Der Zufall ist wichtig, weil sonst zu politischen Veranstaltungen mit großer Wahrscheinlichkeit immer wieder dieselben Personen kommen. Wir erleben in den letzten Jahren zunehmende Politikverdrossenheit. Viele Studien (die Mitte Studie z. B.) zeigen: Immer weniger Menschen vertrauen dem politischen Prozess. Außerdem ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich Menschen am politischen Diskurs beteiligen, sehr ungleich verteilt. So fehlt es besonders Menschen aus marginalisierten Gruppen an Vertrauen, dass ihre Stimme gehört wird.
Um auch (aus welchen Gründen auch immer) politikferne Menschen zu erreichen, wurden in den letzten Jahren immer mehr Beteiligungsformate entwickelt, in welchen die Teilnehmenden zufällig ausgewählt wurden.
Klassischerweise wird das in einem zweistufigen Verfahren gemacht. Das heißt, dass zuerst eine große Personengruppe angeschrieben wird, welche gebeten wird, bestimmte Fragen zu beantworten, beispielsweise nach ihrer Staatsbürgerschaft oder ihrem höchsten Bildungsabschluss. Anhand der Rückläufe wird dann eine repräsentative Gruppe gebildet. Gerade in Formaten, die auf Bundesebene stattfinden, ist diese Repräsentativität von großer Wichtigkeit, da sie eine stärkere Legitimation der Ergebnisse schafft.
Was in dem zweistufigen Auswahlverfahren außer Acht bleibt, ist der Fakt, dass sich etwa 90 Prozent der angeschriebenen Menschen gar nicht zurückmelden. Wir versuchen, genau diese Menschen zu erreichen, indem wir sie „aufsuchen“, also an ihren Türen klingeln. Bei diesen Gesprächen können wir fragen, was die Menschen von der Teilnahme abhält und gegebenenfalls Hürden abbauen. Oftmals ist es gar nicht so, dass die Menschen keine Lust hätten, an so einem Wahlkreistag teilzunehmen.
Viele sagen zunächst, sie hätten gar keine Meinung zu dem Thema. Man muss sich auch bewusst machen: Nicht vielen fällt es leicht, allein auf eine Veranstaltung zu gehen, bei der sie niemanden kennen. Das persönliche Gespräch gibt den Personen ein Gefühl der Wertschätzung. Sie sind gemeint! Manchmal hapert es auch an der Betreuung für die Kinder für den jeweiligen Zeitraum. Oder jemand spricht die Sprache nicht. Es kommt aber auch oft vor, dass die Menschen unser erstes Anschreiben für Werbung halten. Für all das bieten wir dann Unterstützung an.
Wir losen übrigens Menschen ab 12 Jahren aus dem Melderegister aus. Dabei ist nur wichtig, wo der Erstwohnsitz ist. So sind bei uns auch Menschen dabei, die (noch) nicht wählen können – entweder weil sie nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen oder weil sie noch zu jung sind. Das ist uns wichtig, weil diese Perspektiven sonst kaum Einfluss auf die Politik nehmen können.
Ist dieses „Nicht-gehört-werden“ bzw. das „Sich-nicht-beteiligt-fühlen“ deiner Ansicht nach ein generelles Problem unserer Zeit?
JB: Ja. Das Gefühl der Dauerkrise, das durch die sozialen Medien verstärkt wird, hinterlässt seine Spuren. Ich denke, allgemein gibt es zwei Aspekte: Erstens leidet das repräsentative System darunter, dass sich viele Menschen von den Politiker*innen nicht (mehr) repräsentiert fühlen. Viele Abgeordnete sind Akademiker*innen, weiß und im Durchschnitt über 47 Jahre alt. Dadurch fehlen bestimmte Lebensrealitäten im politischen Entscheidungsprozess.
Zweitens führt das System, in welchem wir seit Jahrzehnten leben, dazu, dass viele Menschen (wenn überhaupt) alle vier Jahre ihr Häkchen setzen und sich sonst nicht mit Politik viel auseinandersetzen. Hinzu kamen verschiedene Krisen, die Verschwörungserzählungen normalisiert haben. Diese Erzählungen nutzen das Gefühl der Unsicherheit, um Misstrauen zu säen. Im Sinne von „gegen mich wird Politik gemacht“ treiben sie eine Ablehnung der Regierung voran und spalten den gesellschaftlichen Diskurs in ein Freund-Feind Bild.
Es geht meiner Meinung nach nicht so sehr darum, alle in alle Entscheidungsprozesse einzubeziehen, sondern darum, das Gefühl zu stärken, dass wir uns austauschen können, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind und auszuhalten, wenn wir unterschiedliche Ansichten, Lebensrealitäten oder Bedürfnisse haben. Wir müssen uns nicht aufgrund von Andersartigkeit gegenseitig misstrauen.
Darum haben wir die Wahlkreistage ins Leben gerufen – um wieder miteinander und mit der Politik ins Gespräch zu kommen. Und kein Wahlkreistag vergeht ohne erstaunte Kommentare der Teilnehmenden darüber, dass wir als Gesellschaft ja doch noch miteinander reden können. Manche empfinden durch die Wahlkreistage plötzlich wieder einen Glauben an die Gesellschaft, und haben das Gefühl, dass ihre Stimme auch für die Politik zählt. Das ist wirklich schön zu sehen und auch heilsam in dieser polarisierenden Zeit.
Wie hat man sich so einen Wahlkreisrat-Tag vorzustellen?
JB: An dem Tag wird jede Person erst einmal persönlich empfangen. Das mag komisch klingen, aber die Atmosphäre am Anfang ist wirklich wichtig. Und dann ist es ein Wechsel von der Arbeit in der großen und in kleinen Gruppen. Kleine Gruppen sind für die intensiven Diskussionen sinnvoll. Zum einen, weil es für viele Menschen schwer ist, sich in großen Gruppen zu äußern, zum anderen, weil so sichergestellt werden kann, dass jede und jeder etwas sagt.
Hierbei kommen auch Methoden wie das aktive Zuhören ins Spiel: Dabei darf das Gesagte nicht kommentiert werden. Es geht wirklich darum, die Sichtweise der anderen Person zu verstehen. In den Kleingruppen werden dann auch die Ideen erarbeitet, die am Nachmittag mit den Abgeordneten besprochen werden. Ein wichtiger Bestandteil ist neben der Frage, was sich politisch verändern sollte, auch die Frage: Was ist unser Beitrag als Gesellschaft zu dem Problem?
Beim Wahlkreistag liegt der Fokus auf dem Austausch mit den Abgeordneten. Deshalb kommen am Nachmittag die Abgeordneten dazu, um gemeinsam die Diskussionen vom Vormittag weiterzuführen. Dabei antworten sie auch auf offene Fragen und sagen, welche Ideen sie in ihrem politischen Handeln weiterverfolgen werden. Am Ende gibt es noch die Möglichkeit, sich bei Getränken persönlich mit den Abgeordneten auszutauschen. Für viele ist das das erste Mal, dass sie Bundestagsabgeordnete treffen.
Der Tag wird komplett moderiert. Es ist uns wichtig, eine wertschätzende Atmosphäre zu verbreiten. Wir achten darauf, dass jede*r Teilnehmende zu Wort kommt, dass es einen guten Start und ein gutes Ende gibt. Durch die Moderation können sich die Teilnehmenden auch besser in der Diskussion fallenlassen. Sie wissen: „Eine Person behält den Fokus“.
Sie müssen in dem Moment keine Verantwortung übernehmen und können einfach ihre Gedanken teilen. Außerdem gibt es zu jedem Wahlkreistag ein Begleitheft, in dem wichtige Fakten zum jeweiligen Thema stehen, sodass die Teilnehmenden kein Vorwissen benötigen, um sich an der Diskussion zu beteiligen. Außerdem sind natürlich Dinge wie genügend Essen und ausreichende Pausen wichtig.
Das klingt nach einem aufwendigen Prozess für eine relativ geringe Anzahl an Menschen, die erreicht werden. Lohnt es sich trotzdem? Und ist es realistisch, solch ein Format auch größer aufzuziehen – etwa generell als Mittel der Bürger*innen-Beteiligung in Deutschland?
JB: Beteiligung lohnt sich, meiner Ansicht nach, immer. Nicht nur stärkt sie das Vertrauen der Menschen in Politik, sie stärkt auch das Vertrauen der Politik in die Menschen und das Vertrauen der Menschen ineinander.
Aber zur Anzahl: Die kleine Gruppe hat bei uns mit dem Fokus auf den Austausch zu tun. Zum Vergleich: Der nationale Bürgerrat, der am 14.01. seine Empfehlungen an die Bundespolitik übergeben hat, ist tatsächlich mit 160 Leuten besetzt. Ziel dieses Bürgerrats war es, in einem lang angelegten Prozess (September 2023 bis Januar 2024, Anm. d. Red.) Empfehlungen zu erarbeiten.
Bei unserem ein-Tages-Format liegt der Austausch mit den Abgeordneten im Fokus, der gerade davon lebt, dass der Raum kleingehalten ist. Je größer eine Gruppe ist, desto wahrscheinlicher entsteht eine Dynamik, in welcher wenige sprechen und sich andere nicht trauen, das Wort zu ergreifen. Für uns hat sich die Anzahl von 25 bis 35 teilnehmenden Personen sehr bewährt.
Zur zweiten Frage: Wir sind jetzt gerade auf der Zielgeraden des Projekts. Daher widmen wir uns vor allem der Frage, wie das Format der Wahlkreistage als Instrument zur Stärkung unserer repräsentativen Demokratie verstetigt werden kann. Schließlich gibt es 299 Wahlkreise in Deutschland, in denen Wahlkreistage stattfinden könnten. Die Frage haben wir zuletzt mit Expert*innen aus Wissenschaft, Bundestagsverwaltung, Verfassungsrecht und Zivilgesellschaft diskutiert – aber auch mit den Abgeordneten und Teilnehmenden. Dass wir hierbei nur das „wie“ besprechen, beflügelt uns.
Bis zum Ende des Projekts im Juni 2024 wollen wir gemeinsam mit unserem wissenschaftlichen Beirat einen Vorschlag dazu erarbeitet haben. Dafür lassen wir das ganze Projekt auch sehr genau extern evaluieren.
Natürlich wäre diese Skalierung auch eine Herausforderung. Meiner Ansicht nach bräuchte es dafür Kompetenzzentren, die das Wissen und die Moderationsfähigkeiten vermitteln. Noch besser wären Studiengänge oder Ausbildungen, die Beteiligung und Moderationen lehren. Davon gibt es momentan noch viel zu wenig. In den letzten Jahren hat das Thema Beteiligung zwar einen größeren Stellenwert eingenommen, es fehlt aber noch an Menschen, die sie organisieren und durchführen können sowie an nötigen Qualitätsstandards.
Wie würde Beteiligung künftig in Deutschland aussehen, wenn alle Hürden, wie Finanzierung, Personalkapazitäten etc., keine Rolle spielten?
JB: In meiner Wunschvorstellung hätten wir vor 20 Jahren damit angefangen, Wahlkreistage zu etablieren und würden jetzt mit einem funktionierenden System arbeiten, in dem Wahlkreistage zum Beispiel halbjährlich stattfindet. Die Auslosung wäre dann etwas, das in den Medien angekündigt würde und worauf sich die Leute freuen. Der Austausch wird gewohnter. Auch die gewählten politischen Vertretungen sind vor Ort, hören und nehmen Impulse mit. Vielleicht erklären sie auch ihre Arbeit genauer und sprechen darüber, mit welchen Themen sie sich gerade beschäftigen.
Es wäre toll, wenn Beteiligung ganz selbstverständlich in unserer demokratischen Struktur benutzt würde. Ich glaube, dass die Menschen heutzutage einfach wenig Vertrauen oder wenig Erfahrung damit haben, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, die nicht ihrer eigenen Filterblase entsprechen. Natürlich wäre auch dann nicht alles ohne Reibungen, aber vielleicht könnte so ein stetiges Format ein viel größeres Verständnis dafür schaffen, was Politik bedeutet und was es heißt, Politiker*in zu sein. Die sozialen Medien verbreiten ein Gefühl einer gespaltenen Gesellschaft. Gerade in solchen Beteiligungsformaten aber erleben die Menschen die Gesellschaft anders: respektvoll, konstruktiv.
Vielleicht hätten die Menschen dann auch im Alltag mehr Bereitschaft, miteinander zu sprechen und nach den Gründen einer Entscheidung zu fragen. Es gäbe mehr Solidarität und der Ton, mit dem unterschiedliche Ansichten in Beziehung gesetzt werden, wäre ein anderer.
Ich habe aber keine Illusion einer konfliktfreien Gesellschaft. Auch andere demokratische Instrumente wie Demonstrationen werden immer von Bedeutung bleiben, um Themen auf die politische Agenda zu setzen und Unmut kundzutun.
Schaue ich mir die heutige Verfassung unserer Gesellschaft an, gerate ich manchmal in einen inneren Zwiespalt: Ich erlebe durch unsere Arbeit oft, wie sinnvoll ein solches Instrument der Beteiligung ist. Wird so etwas allerdings nicht in den nächsten drei, vier Jahren flächendeckend etabliert, sodass sehr viele Menschen diese Erfahrung machen können, geht es einfach zu langsam. Der gute Ton ist schon immer aufwendiger und langsamer als populistische Kritik und negative Emotionen. Beteiligung braucht viel Zeit und Ressourcen. Ich komme aber auch immer wieder zum Schluss: Die Demokratie sollte es uns wert sein.
Wie ist das Feedback, das ihr von den Politiker*innen erhaltet?
JB: Vor allem positiv. Die Abgeordneten sind oft begeistert von der Vielfalt der Menschen, mit denen sie im Wahlkreisrat diskutieren. Denn auf eigens organisierten Veranstaltungen werden ja oft immer dieselben Personen erreicht. Im Wahlkreistag steht die Qualität über der Quantität. Normalerweise folgen Politiker*innen eher der Logik, möglichst viele Menschen in kurzer Zeit zu erreichen. Uns geht es allerdings um die Intensität der Diskussion und die Wertschätzung. Eine der Abgeordneten sagte einmal am Ende des Wahlkreistags, die Erfahrung mit unserem Projekt wäre heilsam gewesen und dass es eine solche Gesprächskultur auch im Bundestag bräuchte.
Die meisten sind wirklich begeistert und nutzen die Gelegenheit auch, um zu lernen, was die Bevölkerung und ihren Wahlkreis gerade eigentlich wirklich beschäftigt. Daran können sie sich auch in ihren politischen Entscheidungen orientieren. Gerade in der Politik ist es extrem wichtig, dass die verschiedenen Lebensrealitäten im Blick behalten werden. So eine diverse Gruppe, die nicht geschlossen ein Interesse vertritt, eröffnet die Sicht auf verschiedene Standpunkte.
Als Letztes würde ich gern noch wissen: Hast du ein Erlebnis aus der Projektzeit, das dir vielleicht als besondere Erinnerung im Kopf geblieben ist?
JB: Davon gibt es tatsächlich viele. Als wir das erste Mal einen Wahlkreistag veranstalteten, erinnere ich mich noch an eine Pflegekraft, die sich selbst als unpolitischste Person des Wahlkreises bezeichnete und eigentlich nicht teilnehmen wollte. Nach dem Wahlkreistag war die Person so überzeugt vom Format, dass sie weiterhin im Wahlkreisrat dabei ist, wenn es der Schichtplan zulässt und unser Anliegen vehement unterstützt.
Dann sind es aber auch kleine Situationen: Neulich beim Wahlkreistag in Erfurt hat ein 12-Jähriger beispielsweise die Meinung der Gruppe durch eine einzige Aussage verändert. Dann gibt es auch immer wieder Momente, die emotional sehr bewegend sind. Zum Beispiel gab es bei einem Wahlkreistag eine aus Afghanistan geflüchtete Teilnehmende, die mit ihrer Geschichte und seinen Perspektiven sehr viel mehr Verständnis für die Realität von Geflüchteten unter den Teilnehmenden erzeugt hat.
Sie hat auch Menschen dazu bewogen, ihre Annahmen zu hinterfragen. Dann ist es manchmal auch die schiere Vielfalt der Teilnehmenden: Da kommen eine 14-Jährige aus der Ukraine geflüchtete Jugendliche, ein um die 50 Jahre alter russischer Gastarbeiter, ein spanischer Amazon-Lieferant, eine Bürgergeld beziehende alleinerziehende Mutter, ein Mensch, der Verschwörungstheorien nicht abgeneigt ist und eine 91-Jährige in einem Raum zusammen und sprechen miteinander.
Am meisten beeindruckt mich nach wie vor eine Teilnehmende, die in einer betreuten Einrichtung wohnt und die unsere Briefe zunächst gar nicht erreichten, weil sie von der Betreuerin nicht weitergegeben wurden. Als wir dann vor ihrer Tür standen, war sie ganz begeistert und gleichzeitig unsicher, ob sie sich sicher fühlen würde. Wir haben dann alles in unsere Macht Stehende getan, damit sie teilnehmen kann. Zu Beginn der Veranstaltung war sie überwältigt von den vielen Menschen. Im Verlauf des Tages aber ist sie richtig aufgeblüht.
Sie hat sich sogar getraut, vor der großen Gruppe mit dem Abgeordneten zu sprechen. Am Ende des Tages dankte sie uns, weil es so selten sei, dass sie so sein kann, wie sie ist. Und noch viel mehr: Wenige Monate später reiste sie zum ersten Mal in ihrem Leben allein mit dem Zug und übernachtete allein im Hotel, um an unserer Abschlussveranstaltung in Berlin teilnehmen zu können. Dort hat sie vor hundert Menschen über ihre Erfahrungen gesprochen. Das war sehr bewegend zu erleben, wie dieser eine Tag ihr Leben verändert hat. Sie hatte plötzlich so viel Mut.
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