Wahlbeteiligung, Aktivismus, Protest, Parteimitgliedschaft, Gesprรคchsabende, Bรผrgerinitiativen, Petitionen โ€ฆ โ€“ die Liste an Beteiligungsmรถglichkeiten in einer modernen Demokratie ist heute breit, und der Verweis auf bรผrgerschaftliches Engagement zur Problemlรถsung gehรถrt zu den Leitpfosten demokratisch verfasster Systeme.

Eine historisch lang gewachsene Tradition steht aber, zumindest in Deutschland, eher nicht dahinter: โ€žNoch in den 1950er und 1960er Jahren waren sowohl die junge Bundesrepublik als auch die DDR fest in obrigkeitsstaatliche Traditionen eingebettet. In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Verabschiedung des Grundgesetzes attestierten Beobachter den Bundesbรผrgern ein jenseits der Wahlbeteiligung schwaches politisches Engagement โ€“ und es gibt keinen Grund fรผr die Annahme, dass dies in der DDR anders gewesen wรคreโ€œ, schreibt der Politikwissenschaftler und Soziologe Oscar W. Gabriel in einem bpb-Beitrag von 2020.

Ausschluss und Gottesgnadentum

Doch springen wir mal kurz viel weiter zurรผck: Das Ideal einer Partizipation am Gemeinwesen ist im europรคischen Kontext bereits aus dem antiken Griechenland bekannt โ€“ schon Aristoteles (384โ€“322 v. Chr.) entwickelte ein Modell zur Beteiligung aller am politischen Alltag.

Dass diese Vorstellung in der Realitรคt einen ausschlieรŸenden Charakter hatte, zeigt sich freilich darin, dass Frauen, Sklaven und als fremd klassifizierten Menschen das Mitbestimmungsrecht damals รผberwiegend versagt blieb. Faktisch konnte also lediglich eine mรคnnliche Minderheit die Politik mitgestalten โ€“ und auch das oft nur bei Richtungsfragen, wie sie auf dem Versammlungsplatz Agora verhandelt wurden, wรคhrend die konkrete Umsetzung meist der Adelsschicht oblag.

Lange Zeit prรคgend war dann die Idee, wonach einzelne Menschen aufgrund des โ€žgรถttlichen Willensโ€œ ihre weitreichende Herrschaft praktizieren kรถnnten. Politische Einflussmรถglichkeiten blieben begrenzt, wurden im Mittelalter standesabhรคngig vor allem von Aristokratie und Geistlichkeit ausgeรผbt. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang gleichwohl die Herausbildung freier Stรคdte seit dem 12. Jahrhundert, hinter deren Mauern das hierarchische System der feudalen Gesellschaft ganz allmรคhlich zu brรถckeln begann.

Vom Untertanen zum Bรผrger

Im 18. Jahrhundert wurden Rufe nach dem Schutz des Einzelnen vor staatlicher รœbergriffigkeit, einer Bรผrgerbeteiligung bei Entwurf und Vollzug von Gesetzen sowie freiheitlichen Verfassungen immer lauter artikuliert. Die damalige Zeit der Aufklรคrung brachte eine Fรผlle an Ideen hervor, wie die Autoritรคt รผber andere Menschen รผberhaupt noch vernรผnftig zu rechtfertigen ist, ohne die รผberkommenen Narrative eines angeblichen โ€žGottesgnadentumsโ€œ zu bedienen.

โ€žVertragstheorienโ€œ beantworteten diese Frage, verkรผrzt gesagt, so: Herrschaft und Befehlsgewalt sind in gewissem MaรŸ legitim, aber nicht wegen eines โ€žgรถttlichen Auftragsโ€œ, sondern um Wohlergehen und Interessen der Gemeinschaft zu sichern. Dazu ist ein sogenannter (imaginรคrer) Gesellschaftsvertrag zu bilden, der ein politisches Gemeinwesen hervorbringt und den Willen aller in den Vordergrund stellt. Solcherlei Konzepte, wie sie prominent unter anderem der Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712โ€“1778) vertrat, blieben keineswegs unumstritten, befรถrderten aber in jedem Fall die Entwicklung einer demokratischen Kultur.

Vor dieser Kulisse spielte sich ein Umbruch ab, indem das entstehende Bรผrgertum sich der devoten Untertanenrolle zunehmend zu verweigern begann โ€“ und so die Herrschenden ernsthaft herausforderte. Manche von ihnen, wie in PreuรŸen etwa Friedrich II. (โ€žDer GroรŸeโ€œ, 1712โ€“1786) reagierten mit Reformen, die auch in Bezug auf politische Beteiligung gewisse Verbesserungen mit sich brachten, indem wichtige Anliegen z. B. รถffentlich diskutiert und in der Presse kundgetan werden konnten. Oft entlud sich die Spannung aber in kriegerischen und gewaltsamen Auseinandersetzungen, zu beobachten, beispielsweise im Zuge der Franzรถsischen und Amerikanischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts.

Neue Verfassungen im 19. Jahrhundert

Auch wenn die Franzรถsische Revolution in einer menschenverachtenden Terrorherrschaft gipfelte und dann durch eine neue Monarchie abgelรถst wurde, waren die Ideale von Demokratie und Teilhabe am politischen System europaweit nicht mehr wegzubekommen.

Das zeigte sich auch im 19. Jahrhundert โ€“ hier kam es unter anderem in Deutschland, das nach der Niederlage Napoleons und dem Wiener Kongress 1814/15 zunรคchst ein politischer Flickenteppich blieb, zu einer Reihe an Unruhen und Aufstรคnden. Partizipationsmรถglichkeiten gehรถrten, neben persรถnlicher Freiheit, Bรผrgerrechten und nationaler Einheit, zum zentralen Forderungskatalog der zahlreichen politischen Vereine und Burschenschaften.

Neue Verfassungen wie 1831 in Sachsen und 1850 in PreuรŸen begrenzten die kรถniglichen Machtbefugnisse durch eine gewรคhlte Volksvertretung, wobei das Klassenwahlrecht de facto der vermรถgenden Bรผrgerschaft โ€“ gemeint waren ausschlieรŸlich Mรคnner โ€“ das meiste Stimmgewicht verlieh.

Marxisten fรผr den Umsturz

Nach heutigem MaรŸstab eine Farce, wenngleich sich immerhin offenbarte, dass die liberalen Mitbestimmungsideen trotz oder gerade wegen aller Repression weiter fortblรผhten. Auch der Fehlschlag der Revolution 1848/49 und der gescheiterte Verfassungsentwurf der Paulskirche fรผr ein geeintes Deutschland konnten die Zeichen der Zeit nicht mehr dauerhaft stoppen: Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit als Elemente und Voraussetzungen von Teilhabe blieben als Forderung bestehen, obgleich die Ausรผbung dieser Freiheiten noch lรคngst nicht immer gesichert war.

Zugleich wurden Klagen laut, dass die oft im Elend lebende Arbeiterschaft im Zeitalter der Industrialisierung trotz des scheinbaren Fortschritts kaum von Freiheitsrechten und Partizipation profitierte. Teilweise propagierten marxistische Gruppen den kommunistischen Umsturz, teilweise wurde aber auch auf die weitere Verbesserung parlamentarischer Systeme abgestellt.

Als Deutschland zur Republik wurde

Die gesamtdeutsche Verfassung, die nach der Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs 1871 in Kraft trat, brachte eine wichtige Neuerung: Mรคnnliche Bรผrger ab 25 Jahren durften den Reichstag in allgemeinen, unmittelbaren, geheimen und freien Wahlen bestimmen โ€“ ein kleiner Fortschritt gegenรผber dem vermรถgensgebundenen Wahlrecht, das noch immer fรผr manche Landtage galt. Auf die explizite Formulierung bรผrgerlicher Grundrechte wurde aber nahezu verzichtet.

Einen wirklichen Sprung bedeutete dann nach Ende des Ersten Weltkriegs erst die Weimarer Verfassung, die das Land nach der Abdankung des Kaisers zur Republik machte und das Prinzip der Volkssouverรคnitรคt festlegte. Das Wahlalter wurde von 25 auf 20 Jahre gesenkt, erstmals erhielten Frauen das aktive und passive Wahlrecht. 310 bewarben sich fรผr die Wahlen zur Nationalversammlung Anfang 1919 um einen Parlamentssitz, 41 waren erfolgreich. Das entsprach rund zehn Prozent aller Abgeordneten.

Festgelegt waren รผberdies ein Petitionsrecht (das auf kleinerer Ebene in Deutschland gleichwohl teils schon lรคnger bekannt war, etwa im Allgemeinen PreuรŸischen Landrecht von 1794) sowie die Mรถglichkeit, durch Volksbegehren und Volksentscheide selbst die Gesetzesinitiative zu ergreifen. Was als gutgemeinter Gegenpol zum Reichstag und Parteiensystem konzipiert war, erwies sich in der Praxis allerdings als hรถchst anfรคlliges Missbrauchsinstrument, wenn die nicht wenigen Gegner der Weimarer Republik die Massen in ihrem Sinne zu manipulieren versuchten.

NS-Regime: Beteiligung massiv eingeschrรคnkt

Es รผberrascht wohl kaum, dass der in Krieg und Massenvernichtung endende Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 zwar verbal ein demokratisches Wesen fรผr sich in Anspruch nahm, de facto dagegen auf Fรผhrerkult, Gehorsam und der Ausgrenzung als unerwรผnscht markierter Personen basierte. Parlamentarismus, die Aushandlung politischer Kompromisse โ€“ als das wurde als Schwรคche abgetan.

Das in der Weimarer Verfassung verbriefte Petitionsrecht hatte keine Bedeutung mehr: Petitionen und Eingaben konnten weiterhin abgesetzt werden und auch Wirkung entfalten, doch wer dabei als oppositioneller โ€žQuerulantโ€œ ins Visier der Machthaber geriet, riskierte mindestens Schikanen oder seine Inhaftierung. Rechtsstaatliche Prรผfverfahren existierten nicht, ebenso wenig der Schutz des Einzelnen vor Terror und Willkรผr.

Explosion an Beteiligungsformaten vs. vorsichtiger Wandel

Wรคhrend die Wahlen in der DDR keine demokratischen Standards erfรผllten und Demonstrationen jenseits staatlicher Erwรผnschtheit unterdrรผckt wurden, entstand hier ein blรผhendes Eingabewesen, in dem Bรผrgerinnen und Bรผrger sich รผber Missstรคnde im Betrieb ebenso beklagen konnten wie รผber fehlende Konsumgรผter oder Wohnungsnot.

Ein Mechanismus, der punktuell durchaus Verbesserungen mit sich brachte, aber eben so oder so als herrschaftlicher Gnadenerweis daherkam, nicht als rechtsstaatlich begrรผndete oder anfechtbare Entscheidung.

Anders in der Bundesrepublik, wo der Generationswechsel, der Wertewandel und der Anstieg des Bildungsniveaus der Partizipationskultur in den zwei Jahrzehnten vor der Wiedervereinigung einen gewaltigen Schub gaben โ€“ qualitativ wie quantitativ.

Ob der sprunghafte Anstieg der Beteiligung an Bundes- und Landtagswahlen, das Engagement in Parteien, Verbรคnden und Initiativen, Unterschriftenaktionen, Protestbewegungen auf der StraรŸe, Blockaden und ziviler Ungehorsam: โ€žZum Zeitpunkt der Wiedervereinigung hatte die partizipatorische Revolution in der alten Bundesrepublik die politischen Einstellungen und Verhaltensweisen eines groรŸen Teiles der Menschen verรคndertโ€œ, stellt Oscar W. Gabriel fest. Schon wรคhrend der achtziger Jahre hatten Bรผrgerrechtsbewegungen wie in Polen und der DDR auch einen vorsichtigen Wandel im Ostblock aufgezeigt.

โ€žEin breiteres Spektrum als jemals zuvorโ€œ

Und heute? โ€žGegenwรคrtig verfรผgt die Bevรถlkerung รผber ein breiteres Spektrum politischer Einflussmรถglichkeiten als jemals zuvor in der Geschichte Deutschlands. Es umfasst die traditionellen, fรผr die reprรคsentative Demokratie typischen Formen wie die Beteiligung an Wahlen, die Mitarbeit in politischen Parteien und Verbรคnden sowie Politikerkontakte ebenso wie legale und nichtlegale Protestaktionen, zum Beispiel die Teilnahme an Unterschriftenaktionen, Demonstrationen und Produktboykotten.

Eingeschlossen sind ferner direkt-demokratische Verfahren wie Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide sowie zahlreiche Varianten von Dialogverfahren, zum Beispiel Planungszellen, Zukunftskonferenzen und Bรผrgerhaushalteโ€œ, so Oscar W. Gabriel mit Stand des Jahres 2020.

Die Kultur der politischen Beteiligung, wie sie fรผr eine Demokratie essenziell ist, hat sich seit der Einheit Deutschlands also in eine Fรผlle an Mรถglichkeiten aufgefรคchert. Dies wird hervorgerufen durch das Zusammenwachsen unterschiedlicher Gesellschaften seit 1990, aber ebenso durch neue Tendenzen und Konfliktlinien, die sich z. B. aus Digitalisierung, Migration, Globalisierung und Klimawandel ergeben. Welche langfristigen Auswirkungen das hat, werden wir wie immer erst in der Zukunft wissen.

Verwendete Quellen:

Oscar W. Gabriel, Partizipation im Wandel (2020), URL: https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/308683/partizipation-im-wandel/

slpb, Eine kurze Geschichte der Demokratie, URL: https://www.slpb.de/themen/staat-und-recht/politische-theorie/eine-kurze-geschichte-der-demokratie

Deutscher Bundestag, Petitionen. Von der Bitte zum Bรผrgerrecht (2019), URL: https://www.btg-bestellservice.de/pdf/20201500.pdf

Frank-Lothar Kroll, Geschichte Sachsens, 2. Aufl., Mรผnchen 2022.

Klaus Dieter Hein-Mooren, Heinrich Hirschfelder, Lorenz Maier, Wilhelm Nutzinger, Bernhard Pfรคndtner, Reiner Schell, Von der Franzรถsischen Revolution bis zum Nationalsozialismus, Bamberg 1992.

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