Anna lebte vier Jahre ihres Lebens in einer Wohngruppe, später im Betreuten Einzelwohnen. Als sie achtzehn wurde, endete die Jugendhilfe. Dann stand sie plötzlich alleine da. Rechnungen flatterten ins Haus, eine eigene Wohnung musste gefunden werden. Entscheidungen über Ausbildung oder Studium standen im Raum und all das ohne Unterstützung durch Eltern oder Hilfesystem.

„Ich wurde als ‚fit‘ und erwachsen eingeschätzt. Deshalb dachte man, dass ich wenig Unterstützung brauche. Dabei sind Sachen auf der Strecke geblieben. Zum Beispiel Zahnarzttermine. Da wurde ich gefragt: Kannst du hingehen, brauchst ja keine Hilfe, oder? Und ich natürlich: Klar brauche ich keine Hilfe. Ich bin nicht hingegangen“, erzählt Anna.

Eine Wohnung bekam sie schließlich nur, weil die Eltern einer Freundin für sie bürgten. Dann flatterte eine Rechnung über 2.000 Euro rein, weil die Betreuer*innen ihr Bus-Abo nicht gekündigt hatten.

Anna erzählt, dass sie sich in dieser Zeit alleine und irgendwie anders fühlte. Der Kontrast zwischen Wohngruppe und eigener Wohnung war hart. Sie ging immer mal wieder zum Mittagessen in die Tagesgruppe zu ihren Erzieherinnen, vor allem um unter Leuten zu sein und „mit Erwachsenen zu reden“. Anna wollte aber nicht das Gefühl haben, ihnen zur Last zu fallen, auch weil sie wusste, dass die Betreuerinnen für die Zeit mit ihr kein Geld mehr bekamen.

Dazu kam das gesellschaftliche Stigma: Die „Heim-Kinder“, das sind die Schwererziehbaren. Obwohl es unterschiedlichste Gründe gibt, warum Menschen ins Jugendhilfesystem kommen. Man sehe aber selbst irgendwann nur die eigenen Defizite und halte sich für das Problem.

Careleaver* Kollektiv Leipzig als Anlaufstelle

Dabei liegt es am System. Vielen, die aus der stationären Jugendhilfe kommen, geht es so wie Anna. In den Wohngruppen, von Erzieher*innen oder Beiständen werden sie kaum auf Themen wie Finanzen, Ausbildung oder Wohnungssuche vorbereitet. Sich alleine in der „Erwachsenenwelt“ zu orientieren, ist kompliziert. Anlaufstellen gibt es wenige.

Als Anna nach Leipzig kam, lernte sie das Careleaver* Kollektiv kennen, bei dem sie nun ehrenamtlich aktiv ist. Das Projekt des Heizhaus e. V. unterstützt Menschen, die aus der Jugendhilfe kommen, sogenannte „Careleaver*innen“ (dt. care – Sorge, leave – verlassen) durch Beratungs-, Vernetzungs-, Informations- und Empowermentangebote.

Seit 2020 gibt es das Projekt. Finanziert wird es von der Stadt und durch Spenden. Drei Hauptamtliche und neun Ehrenamtliche setzen sich für die Unterstützung und gesellschaftliche Teilhabe von Careleaver*innen ein. Jedes Jahr geben sie einen Kalender mit Informationen für Careleaver*innen heraus, bieten Beratung für Jugendliche und ihre Familien, vernetzen und bieten eine Stimme für Careleaver*innen.

Das Careleaver* Kollektiv ist ein Projekt des Heizhaus in Grünau. Foto: Jan Käfer
Das Careleaver* Kollektiv ist ein Projekt des Heizhaus in Grünau. Foto: Jan Käfer

Anna selbst arbeitet im Rahmen des Projekts gerade an einem Kreativ-Stipendium für die HGB. Drei Careleaver*innen soll dadurch das Studium ermöglicht werden. Denn das ist keine Selbstverständlichkeit für Menschen, die aus der Jugendhilfe kommen. Der Start ins Leben außerhalb des Hilfesystems ist extrem schwierig und erfordert einen großen Willen, alles mehr oder weniger alleine zu bewältigen.

„Jedes Kind hat ein Preisschild auf der Stirn“

Es dürfte aber gar nicht sein, dass es externe Anlaufstellen und einen starken Willen, sich alleine zu orientieren, braucht, um im Leben anzukommen. Das Careleaver* Kollektiv fordert, dass schon innerhalb der Jugendhilfe-Einrichtung eine bessere Verselbständigung stattfindet.

„Das ist eine Phase, in der man intensiv schauen müsste, was ein Mensch will und wo es hingehen soll. Aber das wird häufig nicht ausreichend gemacht“, so Anna. Die Erzieher*innen hätten oft nur wenige Stunden im Monat für Verselbständigung, nebenbei aber noch andere Sachen zu tun.

Anna entschied sich selbst für eine Ausbildung zur Betreuerin. Sie erzählt, dass sie teilweise 24-Stunden-Dienste alleine mit sieben bis neun Kindern hatte.

„In einer Familie, in der neun Kinder alleine mit einem Erwachsenen sind, würde das Jugendamt wahrscheinlich eingreifen. Aber in der stationären Jugendhilfe passiert das genau so“, erzählt sie. „Jedes Kind hat, bildlich gesprochen, ein Preisschild auf der Stirn kleben. Es wird nach Fallpauschalen abgerechnet.“

Wirtschaftlichkeit der Wohngruppen anstatt Bedürfnisse der Menschen

Dabei rücken die Bedürfnisse der Jugendlichen in den Hintergrund. So entstehen Konflikte, weil zum Beispiel Jugendliche mit Gewalterfahrungen gemeinsam mit gewaltausübenden Jugendlichen zusammenleben müssen. Flächendeckende psychotherapeutische Unterstützung in den Wohngruppen gibt es keine.

Geld wird bewilligt nach dem System: Wo hat der Jugendliche noch Defizite und wo kann dementsprechend noch Geld beantragt werden.

„Das sind teils traumatisierte Kinder und Jugendliche, die in teilweise überfüllte Wohngruppen kommen, in denen es extrem stressig sein kann. Man muss sich unglaublich schnell an neue Regeln anpassen. Kinder, die aus strukturlosen Verhältnissen kommen, hatten vielleicht gar keine Regeln. Und dann sollen sie sich von jetzt auf gleich an ein System anpassen, das gar nicht auf sie zurechtgeschnitten ist.“

Einige Erzieher*innen seien noch Methoden aus den 60ern oder 70ern verhaftet, die auf Strafe wie Zimmerarrest oder Hausarrest basierten. Verständnis für die Jugendlichen sei da wenig. Sie selbst habe gelernt, dass an ihr etwas falsch sei und dass sie sich ändern müsse.

Dabei seien die Kinder nur die Symptomträger eines Systems und einer Familie, die nicht funktionierten. Der Fokus liegt darauf, „wie man das Kind erzieht, dass es möglichst ins System reinpasst. Aber am System wird nicht gearbeitet.“ So lerne man selbst, eher die eigenen Defizite zu sein.

Ankommen in der „Erwachsenenwelt“

Natürlich gibt es auch Sozialarbeiter, die sich für Veränderungen engagieren. Es gibt Gruppen wie das Careleaver* Kollektiv. Manche Hilfen arbeiten gut mit den Familien. Standard ist das aber nicht.

„Ich werde jetzt bald dreißig und habe das Gefühl, dass sich so langsam alles für mich geregelt hat. Aber das waren wirklich viele Jahre, in denen man keine Ahnung hatte, wie das eigentlich läuft im Erwachsenenleben“, erzählt Anna. Sie studiert mittlerweile Soziale Arbeit mit Vollstipendium. Als Erzieherin arbeitet sie nicht mehr. Beim Careleaver* Kollektiv hat sie bald eine feste Stelle.

Eine Gruppe von Careleaver*innen hat das Heft „Careleaving Stories“ herausgegeben, indem sie Geschichten aus der Jugendhilfe und der Zeit danach erzählen: https://www.brueckensteine.de/stories/awake-careleaving-storys

„Nach der Jugendhilfe wird man alleingelassen: Careleaver* Kollektiv empowert junge Erwachsene“ erschien erstmals in der Juli-Ausgabe, ePaper LZ 115, der LEIPZIGER ZEITUNG.

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