Seit einigen Tagen hängen die Banner an den Leipziger Innenstadtkirchen: „22 ist nicht 89 – Wir leben in keiner Diktatur“. Dies geht zurück auf eine Initiative der evangelischen und katholischen Kirche in Leipzig. Damit soll dem zunehmenden, schamlosen Missbrauch des ’89er-Narrativs durch rechtsnationalistische Gruppierungen wie AfD und „Freie Sachsen“ entgegengetreten werden. Diese führen seit einigen Wochen montags ihre „Spaziergänge“ durch.

Auf denen erklären sie das, was ’89 durch die Friedliche Revolution erreicht wurde, nämlich die freiheitliche Demokratie, zur „Diktatur“, um so den „Systemwechsel“ und Regierungssturz zu fördern. Das ist ein so durchsichtiges, niederträchtiges Treiben, dass man sich nur wundern kann, dass darauf überhaupt noch jemand hereinfallen und den rechten Rattenfängern nachlaufen kann. Denen aber geht es weder um soziale Gerechtigkeit noch um Freiheit noch um Demokratie.

Sie haben nur eines im Sinn: wie während der sog. Flüchtlingskrise 2015 und der Corona-Pandemie 2020ff Menschen gegeneinander aufzubringen und ihre autokratisch-nationalistischen Absichten durchzusetzen. Wer dennoch bei diesen rechten Aufmärschen mitmacht, kann und muss wissen, wen er oder sie damit unterstützt.

Der Schriftzug „Wir leben in keiner Diktatur“ prangt an der Trinitatiskirche am Martin-Luther-Ring – der Laufstrecke diverser „Querdenker“. Foto: LZ

In der Erklärung schreiben die Initiator/-innen am 11. Oktober 2022

„Die Friedliche Revolution im Herbst 1989 ermöglichte den Weg aus der Diktatur in die Demokratie. Wir leben heute in demokratisch begründeten und verfassten Verhältnissen des Rechtsstaates. Dafür sind Bürgerinnen und Bürger damals auf die Straße gegangen und haben die Freiheitsrechte errungen. Soziale Missstände, ökologische Verwerfungen und eine desolate wirtschaftliche Lage motivierten vor 33 Jahren Bürgerinnen und Bürger, sich für ihre Belange und Interessen einzusetzen. Entscheidend war nicht, etwas von anderen zu verlangen, sondern selbst für die Gemeinschaft einzutreten.“

Weiter heißt es: „Diesen Leipziger Sinn für gesellschaftlichen Zusammenhalt braucht es heute wieder. Weniger Ich und mehr Wir: Das trägt zum Wohl aller bei! Die gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen zwingen zum Nachdenken, das in ein Umdenken führen wird. Die ökologische Krise verlangt von uns einen neuen, bescheideneren Lebensstil. Die ökonomische Krise erfordert ein faires und nachhaltiges Wirtschaften. Die bedrohte Sicherheitslage der Welt braucht eine Stärkung der Weltgemeinschaft, in der die Würde des Menschen, Freiheit und Gerechtigkeit und verteidigt werden.

2022 ist nicht 1989. Aber der Geist von 1989, schier Unmögliches möglich werden zu lassen, gemeinsam stärker zu sein, füreinander einzustehen und den anderen im Blick zu behalten, dieser Geist bewegt auch heute. Stärken wir die demokratische Ordnung, lernen wir nachhaltig und gerechter zu leben!“

Superintendent Sebastian Feydt, Kirchenbezirk Leipzig – Pfarrer Bernhard Stief, Nikolaikirche – Pfarrer Martin Hundertmark, Thomaskirche – Pfarrerin Britta Taddiken, Thomaskirche – Propst Gregor Giele, Propsteikirche St.Trinitatis

Demo und Kundgebung am 15. Oktober 2022

Der DGB Leipzig-Nordsachsen sowie alle Einzelgewerkschaften rufen auf zu einer Demonstration und Kundgebung am Samstag, 15. Oktober 2022, um 14:00 Uhr ab dem Volkshaus, Karl-Liebknecht-Straße und um 15.00 Uhr Kundgebung auf dem Augustusplatz unter dem Motto „Solidarisch durch die Krise!“.

Eine wichtige Initiative! Sie bietet allen die Möglichkeit, ihre Anliegen, ihren Protest gegen soziale Ungleichheit, ihren Gestaltungswillen in der demokratischen Gesellschaft auf die Straße zu tragen.

Zum Blog von Christian Wolff: http://wolff-christian.de

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Es gibt 5 Kommentare

Sebastian, danke für den Kuleba-Tipp (ohne Worte 🙂 )!
Ansonsten; unterschiedliche Meinungen (nur noch!) unterschiedlicher Graduierung bleiben, aber bei Ihrer jetzt hier an den Tag gelegten Sachlichkeit empfinde ich einen solchen Austausch als angenehm und konstruktiv, sodass ich darauf gar nicht mehr entgegnen möchte.

Ich interessiere mich nicht so für Demos. Meistens nerven sie mich nur, gerade wenn die Anliegen eher mäßig wichtig sind oder ich den Eindruck habe, es wird mehr gelacht und getanzt und irgendwas sinnlos blockiert. Deswegen kann ich schwer sagen, wie viele Teilnehmer von welchem Lager da montags mitlaufen. Ihre Wahrnehmung unterscheidet sich deutlich von der des Herrn Freitag, das nehme ich allerdings wahr.

Und klar lasse ich da eine andere Meinung gelten, als meine Eigene. Ich hab dabei nur keine Lust als naiv bezeichnet zu werden, oder mir lange Tiraden anzuhören. Erst recht nicht, wenn dann noch dieser unangenehme Funken Faszination für Putins Strategie dabei ist, den man manchmal unter den Landsleuten so hört.

Wo und in welchem Medium man pluralistische Meinungen bekommt? Also ich erinnere mich an viele Artikel unterschiedlicher Zeitungen, in denen es um den Brief einiger Prominenter gegen Waffenlieferungen ging. Der Inhalt und die Wirkung wurden breit debattiert.
Ich erinnere mich an Äußerungen von Frau Wagenknecht, die sehr oft abgedruckt wurden. Es gibt in LVZ und SZ jede einzelne Woche viele Leserbriefe, die abgedruckt werden und sich gegen die Sanktionspolitik richten. Erst heute groß in der Zeit: Herr Kuleba wurde offenbar reingelegt und legt mit seinen Äußerungen nahe, dass die Ukraine die Krim-Brücke und eine Stadt nahe und hinter der russischen Grenze beschädigt hat. Ein Eingeständnis, was er sich vermutlich so nicht gewünscht hat und den Ruf der Ukraine gefährdet. Berichtet wird trotzdem.
Letztens bei Maischberger: große Debatte über die Äußerung von Herrn Merz (“Sozialtourismus”) und Richtigstellung, dass es sehr wohl Pull-Faktoren nach Deutschland gibt, auch wenn der Begriff nicht schön war.
Einige Tage vorher ein Interview mit einem Landratsamt, ich glaube in Thüringen, in dem klipp und klar gesagt wurde, dass auch aus diesem Grund die Hilfen nur Bar ausgezahlt werden, statt einfach per Überweisung. Um Missbrauch einzuschränken.

Ich habe wirklich nicht den Eindruck, dass nur einseitig zu lesen ist. Sicher sollte man dann nicht nur LZ lesen, aber ich finde Ihre Behauptung nicht richtig, dass man grundsätzlich nur eine Seite berichtet bekommt.

Naja, Sebastian, dass gerade Sie das Wort Meinuungs-Hardliner in den Mund nehmen… Wo differenzieren Sie, nicht nur, aber auch bei den Montagsdemos? Wo sehen Sie Alternativ-Ansätze für eine Konflikt-Lösung…? Inwiefern haben Sie Ihre Meinung mal überprüft, oder geändert in den letzten Monaten?
Der totale Vernichtungskrieg war auf das Ergebnis bezogen überspitzt, da haben Sie Recht. Denn, und daran sollte man vielleicht noch mal erinnern, über das Ziel des Rückzug Russlands aus der Ukraine sind wir uns ja einig. Nur zu welchem Preis, das unterscheidet uns deutlich. Sie fordern, das solle um jeden Preis geschehen, egal wie lange es dauern mag, und was da hinten raus ggf noch alles passieren kann. Und an dieser Maximalforderung lassen weder Sie, noch die Medien, noch die Politiker eine andere Meinung gelten, und halten so einen innepolitisch enorm starken Druck auf dem Kessel. Wo Sie neben dieser hochgeheizten alternativlosen Kriegs- und Sanktionsstimmung eine pluralistische Meinungsvielfalt sehen, erschließt sich mir nicht. Aber Sie haben da sicher eine Idee, in welchen Medien konkret diese zu finden ist?

Die Debatte ist viel pluralistischer, als Sie es darstellen. Überall sind solche Meinungsäußerungen zu hören, die tendenziell putinfreundlich sind. Das Einzige was Probleme macht, das sind Hardliner, die ihre eigene Meinung als einzig gültig betrachten und dabei senden, senden, senden. Solche Leute nerven aber themenunabhängig. Und sie wollen auch keinen Dialog, machen ihn also dementsprechend selbst unmöglich.

Richtig schlimm finde ich Ihre Eskalation, Herr Reif. Um das mal richtig zu stellen: Es gibt einen Vernichtungskrieg, aber der geht von russischer Seite aus. Noch mal: Es geht nicht und ging nie um einen Einmarsch in Russland! Wozu auch? Was möchte Belgien, Frankreich, Deutschland oder Polen denn am Ural oder in Moskau, oder irgendein anderes NATO-Mitglied? Lassen Sie doch einfach diesen eskalativen Unsinn sein, Sie erreichen hier niemanden damit. Es geht darum, dass die Ukraine ihr Staatsgebiet wieder bekommt, und sich das autoritäre Russland nicht durchsetzt. Dabei ist nicht seine “Vernichtung” das Ziel, sondern der Rückzug hinter eigene Grenzlinien.
Schon grenzwertig, was Sie hier inszenieren.

Das ist richtig; wir hatten weder Freiheit, Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit. Ergänzen möchte ich bei den Motiven für die Demos unbedingt die immer größer werdende Unzufriedenheit über die Resistenz von Honecker und Co. gegen die Probleme im Land. Alles wurde schön geredet, obwohl die Realität eine ganz andere war. Deshalb hieß es im Aufruf auch:
“Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.”
Allerdings ist gerade letzteres uns heute wieder vollständig abhanden gekommen. Wer die Sanktionen, oder den totalen Vernichtungskrieg hinterfragt, oder montags wegen verschiedener Ängste auf die Strasse geht, ist sofort ein Rechter, ein Putinfreund, ein Neonazi.
Diese völlig unangebrachte, krass unsachliche Stigmatisierung verhindert jeglichen vernünftigen Dialog, und somit eine breite gesellschaftliche Debatte um alles, was mit diesem Krieg zusammenhängt. Die Debatte darüber ist nicht nur ungewollt, sondern soll um jeden Preis schon im Keim erstickt werden. Und das ist nun allerdings eine Gefahr für die Demokratie. Nicht nur, weil sie zum Zulauf im rechten Lager, sondern auch zu einer Unterdrückung jedes auch nur kleinsten anderen Dankansatzes, den sich mal einer mal zu äußern wagt, führt. Das Zerreißen Merkels und Münternichs letzter Meinungen sind zwei Beispiele von jenen, die sich in der Öffentlichkeit das überhaupt noch trauen. Und genau das ist gewollt, und somit eine zunehmende Gefahr für die Demokratie, was ich mit großer Sorge betrachte; man muss sich nur hier auf l-iz unsere “Dialoge” zu den Montagsdemos seit 3. Oktober anschauen, die stellvertretend für die aufgeheizte, völlig unversöhnliche Stimmung in unserem Land stehen.

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