Sie verstehen sich als Vertrauenspersonen, Aufklärer oder auch Störenfriede, je nachdem, wer ihnen zuhört. Über 100 ehrenamtlich Engagierte, die in den Integrationsprojekten des Soziokulturellen Zentrums „Die VILLA“ in Leipzig aktiv sind, setzen sich nicht nur für ihre Mitmenschen mit Migrationshintergrund ein. Sie sehen sich auch als Botschafter/-innen für ein soziales Miteinander in ihrem direkten Umfeld.

Zu Beginn des neuen Jahres wurden dem großen Projekt, „Willkommen in Leipzig“ inklusive der Sprachangebote, die Mittel gestrichen. Das Projekt „Willkommen in Leipzig“ (WiL) ist seit 2015 im soziokulturellen Zentrum „Die VILLA“ in Leipzig angesiedelt. Seit nunmehr fünf Jahren sind im Rahmen dieses Projektes hunderte ehrenamtlich engagierte Leipziger/-innen aktiv: Sie führen unter anderem Stadttouren für Neuleipziger/-innen durch, treffen sich zu gemeinsamen Kochaktionen, veranstalten Sprachangebote und begleiten geflüchtete Familien in ihrem Alltag und im Behördendschungel. Kurz: Sie unterstützen Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund beim Ankommen in Leipzig.

Ein zentrales Projekt von WiL sind seit 2015 die Sprachangebote, hauptamtlich koordiniert von Nora Hartenstein. Vor dem Ausbruch der Pandemie fanden im Rahmen des Projekts an zwei Standorten in Leipzig offene und niedrigschwellige Konversationsangebote statt. Pandemiebedingt wurden diese in den virtuellen Raum verlegt, die Zahlen der Teilnehmenden blieben jedoch weiterhin hoch, man arrangierte sich auch mit den neuen Bedingungen.

Das Motto: Jede/-r ist hier willkommen, egal, wie alt oder jung, welches Sprachniveau, welcher Aufenthaltsstatus. Während der letzten fünf Jahre hat sich daraus weitaus mehr als nur ein Sprachangebot entwickelt: Die Angebote wurden zum Ort der Begegnung und zum Austausch von Erfahrungen und Wissen zwischen den Geflüchteten, den ehrenamtlich Engagierten und den Projektkoordinator/-innen der VILLA. Dabei sprechen die stetig wachsenden Zahlen für sich: Allein im Jahr 2020 zählte das Projekt 960 Sprachangebote mit knapp 6.700 Teilnehmenden an allen Standorten sowie im Online-Chatraum.

Das sind im Vergleich zum Vorjahr 17 % mehr Teilnehmende, und das, obwohl das Präsenzangebot im Jahr 2020 ganze 18 Wochen lang pausieren musste. Es hat sich gezeigt: Der Bedarf besteht heute genauso wie vor fünf Jahren, vielleicht sogar noch mehr. Die Sprache lernen und nebenbei die Möglichkeit haben, Kontakte zu knüpfen und sich kennenzulernen sei ein wichtiger Faktor für das Ankommen in einer neuen Stadt und Gesellschaft. Die Angebote stärken den sozialen Zusammenhalt nach Meinung der Ehrenamtlichen maßgeblich. Schließlich funktioniere ein Zusammenleben auch, vielleicht vor allem, über gegenseitiges Verstehen und Verständnis.

Niedrigschwellig und hochkomplex

Seit fünf Jahren erhält das Projekt Fördermittel vom Freistaat Sachsen und vom Sozialamt der Stadt Leipzig, wovon unter anderem die hauptamtliche Koordination, die Anmietung der Räume, Unterrichtsmaterial, Weiterbildungsveranstaltungen für die Ehrenamtlichen, sowie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit finanziert werden.

Infolge fehlender Anschlussfinanzierung ist das Fortbestehen der Angebote seit Anfang 2021 gefährdet: Die Sprachangebote ohne jegliche Koordination auf lange Zeit weiterzuführen, scheint viel zu ambitioniert und praktisch unmöglich. Denn so niedrigschwellig die Angebote nach außen hin alle Menschen zur Teilnahme einladen, so hochgradig komplex gestalten sie sich in ihrer Organisation hinter den Kulissen.

An fünf Tagen in der Woche bieten ehrenamtlich Engagierte an zwei verschiedenen Standorten der VILLA dreimal täglich (in der Alten Messe), bzw. einmal täglich (in der Lessingstraße) Sprachangebote an. Pandemiebedingt wurde der Ausfall der Präsenzangebote durch Onlineangebote, die zweimal täglich stattfinden, aufgefangen. Zeitweise liefen Online- und Präsenzangebote parallel. Das macht zu Hoch-Zeiten 30 verschiedene Angebote pro Woche. Diese laufen auch während der Ferien, in denen Sprachschulen normalerweise schließen. Die Zahlen der Teilnehmenden steigen dann erwartungsgemäß an.

Die Gruppe der Ehrenamtlichen setzt sich aus den verschiedensten Menschen zusammen: Studierenden, Berufstätigen, Rentner/-innen. Begleitet wird jedes Angebot von zwei bis fünf Ehrenamtlichen, bei Krankheit oder Urlaub wird kurzfristig Ersatz gesucht und meistens gefunden. Die Teams sprechen sich untereinander per Mailverteiler ab, damit alle wissen, worüber am Vortag gesprochen wurde. Koordiniert und begleitet wird die Aufstellung der Teams, sowie die gesamte Kommunikation und Abstimmung von Nora Hartenstein, die das Projekt hauptamtlich leitet.

Hinzu kommt die Instandhaltung der angemieteten Räume und Arbeitsmaterialien, die Sicherstellung der Einhaltung der Hygienemaßnahmen, das regelmäßige und lückenlose Erfassen aller Beteiligten und der Kontakt mit dem Gesundheitsamt im Ernstfall. Nicht zu sprechen von der Organisation und Durchführung von Zusatzangeboten, Weiterbildungen und Workshops für die Ehrenamtlichen.

Eine solche Dynamik sich selbst zu überlassen, würde vielleicht noch einige wenige Wochen funktionieren, auf kurz oder lang aber – gelinde gesagt – im Chaos enden, und zwar vor allem zuungunsten der Teilnehmenden. Dabei vermittelt das Sprachangebot schon lange nicht mehr nur die Sprache, wie mehrere Ehrenamtliche bestätigen: Die zuverlässige Durchführung der Angebote bietet den Teilnehmenden auch einen Zufluchtsort. Ehrenamtliche werden als Vertrauenspersonen verstanden, die immer, verlässlich, zur gleichen Zeit am gleichen Ort bereit sind, zu unterstützen und vielen der Teilnehmenden eine wichtige Konstante im Alltag geworden sind.

„Es gibt mir die Chance, Deutsch zu lernen und Leute kennenzulernen […] es ist mein Zugang zur deutschen Gesellschaft“, schildert eine Teilnehmerin ihre Erfahrung. Sie gebe momentan ihr bestes, jeden Tag am Angebot teilzunehmen, da sie die Möglichkeit sehr schätzt. Dies ist ein weiteres wichtiges Feld, das die Engagierten während der Begegnungsangebote abdecken, sagt Frederike Börner, Psychologiestudentin und ehrenamtlich engagiert in einem der Sprachangebote. Ihrer Erfahrung nach sind die Ehrenamtlichen eine große Hilfe und wichtige Ansprechpartner für Geflüchtete. Vor allem dann, wenn deren soziales Umfeld in Deutschland bisher noch wenig bis keine weiteren Kontakte aufweist.

Aber nicht nur für die Geflüchteten würden durch eine Einstellung der Sprachangebote Vertrauenspersonen und eine Konstante im Alltag wegbrechen. Auch die Engagierten würden unter dieser Maßnahme leiden. „Nur spazieren gehen und aus’m Fenster gucken, das is nix, ne?… und deswegen wollte ich was Sinnvolles tun“, erzählt Beate.

Klaus und Eva bestätigen dies. Interessen und Hobbys habe sie genügend, sagt Eva, aber dieses Engagement mache einfach auch Spaß. Sie und ihr Mann lieben es, die unterschiedlichsten Menschen und deren Geschichten kennenzulernen, Kontakte zu knüpfen und ihr eigenes soziales Netz dadurch zu stärken. Es sei immer ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Beide Seiten profitieren also von dem Engagement, es bereichert den Alltag aller Beteiligten in hohem Maße.

Anke erzählt sogar, dass sie sich vor Beginn ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit für die VILLA „sozial isoliert und wertlos“ fühlte, ohne Sozialkontakte, ohne Struktur im Alltag. Das Willkommensprojekt gab ihr die Möglichkeit, dies zu ändern, „sich einzubringen“.

Fakt ist also: Die Einstellung der Sprachangebote, würde zu einem Zusammenbruch eines großen sozialen Netzwerkes führen, das sich in den letzten fünf Jahren dank der vielen beteiligten Kräfte in ganz Leipzig und darüber hinaus etabliert und stabilisiert hat. Vielen Menschen, die bereits jetzt im Lockdown unter Isolierung leiden, würde eine Rückkehr in ihr soziales Umfeld unheimlich erschwert werden.

Fakt ist auch, dass die Stadt Leipzig bereits im März 2019 dem Bündnis „Seebrücke – Schafft sichere Häfen!“ beigetreten ist. Sie ist und bleibt damit bisher leider der einzige sichere Hafen für geflüchtete Menschen in ganz Sachsen, sollte aber gerade deswegen vorbildlich handeln. Ziel des Bündnisses und der lokalen Gruppen ist unter anderem eine Solidarisierung „mit allen Menschen auf der Flucht“.

Akteure und Mitglieder „erwarten von der deutschen und europäischen Politik sofort sichere Fluchtwege, eine Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine menschenwürdige Aufnahme der Menschen, die fliehen mussten oder noch auf der Flucht sind“. Zur Sicherheit geflüchteter Menschen gehört nach einem Ankommen im Hafen eben neben einem sicheren Wohnort auch ein sicheres soziales Leben und die Möglichkeit, in der Stadt und ihrem Umfeld menschenwürdig anzukommen. Der Punkt „Kommunales Ankommen Gewährleisten“ aus den Forderungen der Seebrücke an die Stadt Leipzig als sicheren Hafen ist bisher leider weder entschieden, noch umgesetzt.

Die Stadt Leipzig soll demnach „ein langfristiges Ankommen [gewährleisten], indem alle notwendigen Ressourcen für eine menschenwürdige Versorgung, insbesondere in den Bereichen Wohnen, medizinische Versorgung und Bildung, zur Verfügung gestellt werden.“ Die Sprachangebote der VILLA haben bisher im Bereich Bildung einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Sie bieten nicht nur ein freies Angebot für Erwachsene, sondern auch eine feste Tagesstruktur für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die ab dem zweiten Tag nach ihrer Ankunft in Leipzig am Sprachangebot in der VILLA teilnehmen, bis ein Schulplatz gefunden wird.

Dieses Bild spiegelt sich auch in Klaus’ Auffassung zur Rolle der Ehrenamtlichen in Bezug auf die Arbeit mit und für Geflüchtete wider: „Die Ehrenamtler halten das Flämmchen der Willkommenskultur am Flackern. Es ist wirklich so. […] Wir haben gesehen, dass mit 2015 zwar die Grenzen geöffnet worden sind, es gab aber keine Rahmenbedingungen“.

Vor allem dank der enormen Vielzahl freier Angebote, die zum großen Teil durch ehrenamtlich engagierte Menschen gestützt werden, seien bundesweit die Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Miteinander geschaffen worden, so Klaus. Dennoch, oder genau deswegen „müsste sich der Staat um viele Dinge mehr Gedanken machen“, sagt er überzeugt. Ein guter Gedanke des Staates und der Länder wäre beispielsweise, den vielen Projekten im Bereich der Integrationsarbeit nicht einem nach dem anderen die Mittel zu kürzen, möchte man meinen.

Nora Hartenstein präzisiert: „Es sollte im Interesse der Stadt Leipzig sein, die Sprachangebote zu finanzieren – insbesondere unsere Ersatzschule für unbegleitete Minderjährige. Die Inobhutnahmeeinrichtung für Jugendliche, welche von der Stadt Leipzig betrieben wird, ist sehr froh, dass es uns gibt. Es gibt kein nennenswert vergleichbares Angebot in Leipzig.“

Für die Sprachangebote heißt das konkret: „Die Kosten der Sprachangebote belaufen sich auf 5.000 Euro monatlich. Das deckt das Gehalt der Koordinatorin samt Arbeitsplatz, Miete und Material für die Sprachangebote. Weitere Kosten für Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltung sind dabei noch nicht berücksichtigt“, so Nora Hartenstein.

Bis März laufen die Angebote dank vieler Spenden weiter, was danach kommt, ist noch ungewiss. Weitere Anträge auf Fördermittel sind bereits gestellt. Auch Gespräche mit den zuständigen Stellen der Stadt sind mittlerweile angelaufen. Während diese geführt und die Anträge geprüft werden, gilt es, Brücken zu schlagen und die Angebote auch finanziell zu unterstützen, bis eine langfristige Förderung bewilligt wird. In diesem Prozess sind wir – Teilnehmende, Ehrenamtliche und Projektleitende – für jede Hilfe dankbar!

Unterstützen kann man die Sprach- und Begegnungsangebote zum Beispiel mittels Spende auf Betterplace.org.

Möglich sind auch Spenden auf dem Spendenportal der Villa.

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