Die Einführung der Waffenverbotszone rund um die Leipziger Eisenbahnstraße war von Anfang an umstritten. Ob sie überhaupt hilft, Straftaten im Gebiet vorzubeugen, ist höchst zweifelhaft, auch wenn die Polizei regelmäßig lauter vor allem kleine Rechtsverstöße bei Kontrollen feststellt, die die Einrichtung der Zone erst ermöglicht hat. Auch deshalb sagt das Sächsische Innenministerium eine Evaluation zu. Doch wie die jetzt gehandhabt wird, erzählt sie einmal mehr vom Scheuklappendenken des Ministeriums.

Denn die Bewohner/-innen der Waffenverbotszone bekommen durch eine fragebogengestützte Evaluation der Hochschule der Polizei zwar scheinbar demokratische Mitbestimmungsrechte. Doch aus Sicht der Dokumentarfotografen von unofficial.pictures wird hier eine wissenschaftliche Objektivität vorgegaukelt, die nicht einlösbar ist. In einer eigenen Zeitung wollen sie jetzt diverse Stimmen aus dem Viertel zu Wort kommen lassen und suchen dafür nun nach finanzieller Unterstützung

„Bei der Evaluierung der Waffenverbotszone in der Leipziger Eisenbahnstraße durch die Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) sollen auch die Anwohner, Gewerbetreibende und Experten befragt werden.“

So verkündete es die Hochschule der Sächsischen Polizei in einer Medieninformation am 21. Januar 2020. Sie beugt sich damit scheinbar dem Druck aus dem Leipziger Stadtrat, der am 7. November letzten Jahres mit den Stimmen von mehr als zwei Dritteln der Stadträt/-innen beschlossen hatte, sich gegenüber dem Land für eine Mitwirkung an der Evaluierung einzusetzen.

Gestartet hatte den Vorstoß im vergangenen Sommer die Linksfraktion. Doch der Verwaltungsstandpunkt aus dem Ordnungsdezernat vom August las sich dann geradezu feige: „Die Evaluation der Waffenverbotszonenverordnung liegt in der Verantwortung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern (SMI). Das SMI hat für die Evaluation die Hochschule der Sächsischen Polizei beauftragt. Die Stadt Leipzig wird an dem Evaluationsprozess mitwirken. Eine Entscheidung über die Einbeziehung weiterer externer Partner obliegt nicht der Stadt Leipzig.“

Die Grünen-Fraktion legte dann mit einem Änderungsantrag nach, der den Antrag mit mehreren Einzelpunkten untersetzte, was so dann auch im November zum Beschluss wurde.

Mit dem Beschluss hat der Stadtrat mehrere Bedingungen aufgestellt, unter denen die Evaluation stattfinden sollte. Dazu gehörte auch: „Bei der Befragung ist zu beachten, dass insbesondere die Wahrnehmung von Migrant/-innen sowie prekarisierten Menschen mit einbezogen wird, weil die am meisten von der Kontrolltätigkeit der Polizei in der Waffenverbotszone betroffen sind. Die Ergebnisse der Evaluation sind in einer Anwohner/-innenversammlung öffentlich vorzustellen.“

Mit Bodycam am Gefährlichen Ort. Foto: unofficial.pictures
Mit Bodycam am Gefährlichen Ort. Foto: unofficial.pictures

Doch inwiefern die Hochschule der Polizei diese Forderungen aufnehmen wird, ist nicht aus ihrer Medieninformation zu entnehmen. Dort heißt es lediglich: „So sollen bereits im Frühjahr an die Bürgerinnen und Bürger in den beiden Leipziger Ortsteilen Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf Fragebögen verschickt werden. Insgesamt werden auf Grundlage einer Zufallsstichprobe 3.000 Personen ausgesucht und zu der Waffenverbotszone in der Eisenbahnstraße befragt. […]“

Der Versand von 3.000 Fragebögen an zufällig ausgewählte Einwohner/-innen wirkt zunächst wie ein faires und demokratisches Mittel, die Meinung der Anwohner/-innen einzuholen. In den Vierteln Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf hatten jedoch im Jahr 2017 von 25.363 Einwohner/-innen 9.938 einen sogenannten Migrationshintergrund, das sind fast 40 Prozent.

Welche zusätzlichen Problematiken dadurch bei quantitativen Erhebungen entstehen, macht schon die schiere Zahl unterschiedlicher Nationalitäten deutlich. Selbst das Leipziger Amt für Statistik und Wahlen geht davon aus, dass viele Bürger mit Migrationshintergrund die Fragebögen etwa der Bürgerumfrage nicht ausfüllen, weil sie damit überfordert sind. Deswegen werden spezielle Befragungen mit diesen Bevölkerungsgruppen in der Regel mit Muttersprachlern im persönlichen Gespräch durchgeführt.

Wie eine solche Evaluierung außerdem als vermeintlich wissenschaftlich neutrales und damit objektiv wahres Statement politisch genutzt wird, macht die Antwort der Sächsischen Staatsregierung am 10. Dezember auf eine Anfrage von Franz Sodann und Kerstin Köditz (Die Linke) deutlich: „[…] vonseiten des Staatsministeriums des Innern [werden] keine Vorgaben hinsichtlich des Evaluationskonzepts gemacht […], um nicht in die Wissenschaftsfreiheit der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH) einzugreifen. Es wird von einer Beantwortung der Fragen nach den Einzelheiten des Evaluationskonzeptes (einschließlich dessen Durchführung) abgesehen.“

Die Unabhängigkeit der Wissenschaft wird hier als Argument genommen, um der Zivilgesellschaft auch nur eine Information über die Methodik zu verweigern, während der eigene Interessenkonflikt der Landesregierung als Einführerin der Waffenverbotszone und Auftraggeberin der wissenschaftlichen Arbeit kein Problem darzustellen scheint, kritisiert unofficial.pictures.

Rafael Brix von unofficial.pictures kommt daher zu dem Schluss: „Wissenschaft im Dienste einer Regierung kann nicht unabhängig sein. Unabhängige Medien als Vierte Gewalt sind wichtig, um auch staatliches Handeln kritisch zu begleiten.“

Da von vielen Zeitungen einfach Polizeimeldungen übernommen werden und über die Eisenbahnstraße fast ausschließlich im Zusammenhang mit Kriminalität berichtet wird, haben sich Frieder Bickhardt und Rafael Brix im letzten Jahr entschieden, eine eigene Zeitung herauszugeben. Dafür haben sie sich mit Bewohner/-innen mit möglichst verschiedenen Hintergründen unterhalten.

Auch sie können keine Objektivität gewährleisten, betonen sie, sondern stellen sich bewusst parteiisch auf die Seite von Betroffenen und Anwohner/-innen. In den Gesprächen haben sie versucht, mit ihnen gemeinsam über das Viertel nachzudenken und sind dabei auf Themen tiefer eingegangen, die ihnen jeweils wichtig waren. Zudem haben sie den Interviewpartner/-innen freigestellt, in welcher Sprache sie das Interview führen wollten.

Rafael Brix dazu: „Das ist ein weiterer Punkt der bei der offiziellen Evaluierung für uns völlig unklar ist.“

In Anbetracht der aktuell anstehenden, wissenschaftliche Objektivität beanspruchenden Evaluation in Auftrag der Staatsregierung haben die beiden Dokumentarfotografen beschlossen, eine weitere Ausgabe der Zeitung „Gefährlicher Gegenstand: Eisenbahnstraße“ herauszubringen, um den quantitativen Fragebogen-Ergebnissen eine qualitative und künstlerische Untersuchung entgegenzusetzen. Auch für die Zweite Ausgabe wollen sie sich nicht von der Förderung von Stiftungen abhängig machen, sondern rufen alle zukünftigen Leser/-innen und alle, denen ein differenziertes Bild über die Eisenbahnstraße ein Anliegen ist, zur Unterstützung auf.

In einem Online-Crowdfunding haben sie bisher schon über 1.500 Euro eingesammelt. Um eine fundierte Arbeit an einer weiteren Zeitung zu ermöglichen, sind noch weitere 4.000 Euro nötig. Die Unterstützer/-innen können mit ihrem Geld u.a. die zweite Ausgabe vorbestellen, sich die Eisenbahnstraße als Großformatfotografie an die eigene Wand holen oder mit einem Vortrag inklusive Lesung eine Diskussion über die Stigmatisierung der Straße im eigenen Umfeld anregen.

Eine erste Lesung gab es am Freitag, 14. Februar, in Lindenau. Eine weitere ist am Mittwoch, 19. Februar, ab 19 Uhr in die Buchhandlung el libro (Bornaische Straße 3d, Connewitz) geplant.

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