Dass die einstmals groรen Parteien immer weniger Zuspruch von den Bรผrgern bekommen, hat einen Grund: Immer mehr Wรคhler fรผhlen sich durch Parteien nicht mehr vertreten. Ihre Sorgen und Nรถte werden nicht mehr aufgenommen. Und die groรen Probleme der Gegenwart werden entweder vรถllig ignoriert oder bis zur Unkenntlichkeit in Kompromissen zerrieben. Deswegen engagieren sich inzwischen auch so viele Menschen in parteifernen Netzwerken. Doch gerade das empfand die deutsche Politik als hรถchst beรคngstigend. 2019 blies sie zum Halali auf diese Netzwerke.
Eigentlich schon frรผher, denn alles begann 2016 mit dem Foul des damaligen Bundesfinanzministers Wolfgang Schรคuble (CDU) auf das globalisierungskritische Netzwerk Attac, das den Kern des deutschen Modells vom โExportweltmeisterโ kritisiert.
Ein Modell, an dem Millionen Deutsche โ trotz zehn Jahren โWirtschaftsaufschwungโ โ nicht teilhaben, weil die Gewinne aus diesem Modell nicht der Allgemeinheit zugutekommen und das deutsche Steuermodell die Privatisierung dieser โGewinneโ seit Jahr und Tag begรผnstigt.
Mit der Behauptung, Attac sei zu politisch, entzog das Finanzamt Frankfurt dem Netzwerk am 14. April 2014 die Gemeinnรผtzigkeit. Insbesondere der Einsatz fรผr eine Finanztransaktionssteuer oder eine Vermรถgensabgabe diene keinem gemeinnรผtzigen Zweck, hieร es zur Begrรผndung.
Im November 2016 gab das Hessische Finanzgericht der Attac-Klage gegen den Entzug der Gemeinnรผtzigkeit voll statt. Trotz des klaren Richterspruchs wies das von Wolfgang Schรคuble gefรผhrte Bundesfinanzministerium das Finanzamt an, beim Bundesfinanzhof in Mรผnchen Revision zu beantragen. Im Januar 2018 trat das Ministerium dem Revisionsprozess auch offiziell als Verfahrensbeteiligter bei.
Und die Formel mit der das Bundesfinanzministerium dem einen Netzwerk zusetzte, in dem Bรผrger ihr Unbehagen an einem katastrophalen Wirtschaftsmodell deutlich machten, passte erstaunlicherweise auch auf andere Netzwerke, die sich fรผr Bรผrgerinteressen einsetzen, die aber nicht das Interesse der Regierungspartei sind.
Nach Attac, Campact und dem VVN-BdA droht seit Oktober sogar dem Change.org e.V., der Deutschlands grรถรte Petitionsplattform betreibt, die Aberkennung der Gemeinnรผtzigkeit durch das Finanzamt Berlin.
Seit dem 26. Oktober 2019 stellt der Change.org e. V. vorlรคufig keine Spendenbescheinigungen mehr aus. Nach einem Telefonat mit dem zustรคndigen Sachbearbeiter im Finanzamt wandte sich Change.org e. V. im Dezember an die รffentlichkeit. Denn der zustรคndige Sachbearbeiter im Finanzamt ist fest entschlossen, dem Change.org e. V. die Gemeinnรผtzigkeit abzuerkennen.
Er wartet nach eigener Aussage lediglich noch auf eine Unterschrift aus der Berliner Senatsverwaltung fรผr Finanzen. Damit droht ein weiterer Schlag gegen die aktive Zivilgesellschaft und damit die demokratische Kultur in Deutschland.
Gregor Hackmack, Vorstand vom Change.org e. V., kommentiert diese Willfรคhrigkeit in den Finanzbehรถrden so: โDie Satzung von Change.org e. V. ist als gemeinnรผtzig anerkannt fรผr die Fรถrderung des demokratischen Staatswesens. Und genau das tun wir: Wir ermรถglichen Menschen die Wahrnehmung ihres Petitionsrechts aus Artikel 17 Grundgesetz.
Dort heiรt es: ,Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zustรคndigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden.โ Dazu stellen wir eine entsprechende Petitionsplattform zur Verfรผgung und beraten Petitionstarter/-innen direkt oder indirekt, wie sie ihr Petitionsrecht optimal wahrnehmen und erfolgreich sein kรถnnen. Fรผr das, was wir tun, gibt es keine passendere Bezeichnung als ,die Fรถrderung des demokratischen Staatswesensโ.โ
Dass sich just die Bundesregierung mit Petitionen schwertut, haben ja die Leipziger gerade erlebt, als die vom Bundestag befรผrwortete Petition zur โKurzen Sรผdabkurvungโ am Flughafen Leipzig/Halle vom zustรคndigen Verkehrsministerium einfach ignoriert wurde. Deutlicher kann man dem Wรคhler gar nicht zeigen, dass selbst die Willensbildung im hรถchsten gewรคhlten Gremium der Republik nichts zรคhlt, wenn die Interessen von Konzernen im Raum stehen.
โWir werden uns daher mit allen uns mรถglichen Mitteln gegen die juristisch fragwรผrdigen Begrรผndungen des Berliner Finanzamts wehrenโ, sagte Hackmack. โDas Finanzamt verkennt, dass der Change.org Verein die allgemeine Fรถrderung des demokratischen Staatswesens unmittelbar dadurch verfolgt, dass er die Ausรผbung und Wahrnehmung eines zentralen Grundrechts, das Bestandteil der demokratischen Grundordnung unseres Staates ist, ermรถglicht, fรถrdert und unterstรผtzt. Wir verwirklichen diesen Zweck genau in der Weise, wie es in unserer Vereinssatzung beschrieben ist.โ
Das Berliner Finanzamt fรผhrt an, dass die Petitionsstarter/-innen bei Change.org Einzelinteressen verfolgten. Als Beispiel werden die Kampagnen von Marianne Grimmenstein zur Bรผrgerklage gegen CETA oder die Petition von Gabi Mรผller, Mutter eines Loveparade-Opfers, mit der Forderung der strafrechtlichen Aufarbeitung der Loveparade Katastrophe angefรผhrt. Beide Petitionen wurden jedoch von jeweils mehr als 300.000 Menschen unterstรผtzt.
โDie Anliegen berรผhren ganz offensichtlich Fragen des Allgemeinwohls โ auch wenn natรผrlich stets eine Einzelperson die Initiative ergreifen muss, eine Petition zu startenโ, betont Gregor Hackmack.
Der Change.org e. V. ermรถgliche es jeder und jedem, eine Petition zu starten und zu unterzeichnen. Damit fรถrdert der Verein Change.org die Wahrnehmung demokratischer Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte von Millionen von Bรผrger/-innen. In Zahlen: 2018 hatte Change.org 6.002.997 registrierte Nutzer/-innen, es wurden 12.027 Petitionen gestartet und insgesamt 21.128.264 Unterschriften geleistet.
โAls weiteren Grund fรผhrt das Finanzamt an, dass wir uns als deutscher Verein eine globale Plattform mit anderen Lรคndern teilen und diese daher nicht selbst unmittelbar betreibenโ, sagt Gregor Hackmack.
โAuch dieses Argument ist fรผr uns nicht nachvollziehbar. Denn ohne unser deutsches Team gรคbe es keine deutsche Sprachvariante von Change.org. Wir nutzen die globale Plattform und zahlen fรผr die Nutzung eine entsprechende Lizenzgebรผhr. So spart der Verein Geld, denn die Nutzung der globalen Infrastruktur ist deutlich billiger als eine eigene Petitionsplattform zu programmieren.
Auรerdem ist die gemeinsame Nutzung wirkungsvoller, da sie globale Petitionen ermรถglicht. Wir sind solidarisch mit allen Vereinen und Initiativen, deren Gemeinnรผtzigkeit bereits aberkannt wurde oder die davon bedroht sind. Deswegen sind wir Mitglied in der Allianz ,Rechtssicherheit fรผr politische Willensbildungโ. Gemeinsam fordern wir ein modernes und zeitgemรครes Gemeinnรผtzigkeitsrecht.โ
Der Change.org Verein wird rechtlich unterstรผtzt von der Gesellschaft fรผr Freiheitsrechte e. V., die sich mit strategisch gefรผhrten gerichtlichen Verfahren fรผr Grund- und Menschenrechte einsetzt โ hier insbesondere das Petitionsrecht und die demokratische Kultur.
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Die LVZ und ihre Fliegerbombe
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Das bestรคrkt mich wieder einmal in meinem sicherlich sehr subjektiven Gefรผhl, daร wir von wirklich aufrechten Demokraten regiert werden.