LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 72, ab 25. Oktober 2019 im HandelRunde Geburtstage werden besonders groß gefeiert. Sie laden zum ebenso beschwingten wie auch ein bisschen kritischen Rückblick ein. suedpol steht seit einem Vierteljahrhundert für mobile Jugendarbeit im Leipziger Süden zwischen Connewitz, Lößnig und Dölitz-Dösen, also Straßensozialarbeit mit beziehungsweise für Jugendliche. Deren Problemlagen können vielschichtiger Natur sein: Stress mit den Eltern oder Freunden, in der Schule, mit Behörden, der Polizei. Außerdem Drogen, Wohnungsnot, Schulden. suedpol als ein Projekt des Jugendhaus Leipzig bietet die Hilfe da an, wo sie gebraucht wird.
Gestartet ist suedpol Mitte der 1990er in der Stockartstraße, die in Connewitz eigentlich nur als „Stö“ bekannt ist. „Wir haben damals ein besetztes Haus betreut, begleitet und legalisiert zur Alternativen Wohngenossenschaft Connewitz“, erzählt Fischer. So kam die mobile Jugendarbeit im Kiez an.
„Sehr schnell wurde uns klar, wie wichtig das Thema Wohnen für Jugendliche ist“, so der Streetworker. In den eigenen vier Wänden beginnt die gesicherte Existenz. Und es ist damit die Möglichkeit und zugleich Voraussetzung, die anderen Probleme lösen zu können. Gerade Jugendliche in Schieflage brauchen eine Wohnung. Heute, da der Wohnungsmarkt in Leipzig enger und rauer wird, kommt diese Erkenntnis endlich ins allgemeine Bewusstsein. Das war etliche Jahre ganz anders.
Dies bestätigt Lutz Wiederanders, seines Zeichens Sachgebietsleiter der städtischen Straßensozialarbeit: „Unsere Klientel der 15- bis 25-Jährigen, die aufgrund von Schicksalsschlägen oder schwierigen Familienverhältnissen nicht die normale Entwicklung nehmen können, ist beim Weg in die Volljährigkeit und in den eigenen Wohnraum wenig begleitet, bisweilen überfordert und auf Hilfe angewiesen. Es ist für sie ein Sprung ins kalte Wasser.“ Andererseits sei es oft erstaunlich, dass die Jugendlichen Hilfe abweisen und sich selbst zu helfen wissen.
Jedoch hätten sich die Rückzugsorte, um irgendwo unterzukommen, in den vergangenen Jahren stark reduziert. Ebenso die Chancen, eigenen Wohnraum zu finden. „Die Situation wird mittelfristig nicht besser werden“, so Wiederanders.
Die Gründe: Sanierung, Verdichtung und Zuzug
In der städtischen Statistik nimmt die Anzahl der Räumungen aktuell ebenso zu wie die der Wohnungsnotfälle. 2013 standen 896 Räumungen zu Buche, 2015 waren es 964 und 2017 schließlich 1.025. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der Wohnungsnotfälle von 1.438 auf 1.978.
„Diese Zahlen waren für uns ein Alarmsignal“, sagt Jens Eßbach. Er ist Teamleiter Sozialmanagement bei der LWB. Denn gerade der Anteil der jungen Menschen von 18 bis 34 Jahren ist bei den Wohnungsräumungen der LWB besonders hoch: 2012 lag er bei 61 Prozent, 2018 immerhin noch bei 42,5 Prozent.
Aus Eßbachs Erfahrung sind Jugendliche oft schwer erreichbar und nicht immer gewillt, sich ihren Themen zu stellen. Sie überschätzen sich in finanzieller Hinsicht. Und die Tragweite von Konsequenzen wird unterschätzt. Natürlich nicht von allen, aber letztlich zu oft. Denn auch wenn manche Räumungen notwendig und unvermeidbar seien – für ein kommunales Unternehmen mit einem sozialen Auftrag sei jede Räumung eine zu viel.
Gut geeignet für junge Leute sind vor allem Ein-Raum-Wohnungen. Allerdings sind diese in Leipzigs Gründerzeitarchitektur selten. Außerdem sollten sie für Jugendliche nicht zu groß, sondern vielmehr erschwinglich sein. Wer Geld vom Jobcenter oder Sozialamt erhält, muss die KdU-Kriterien einhalten – Kosten der Unterkunft. Die demnach fürs Amt zulässige Miete bewegt sich zwischen 4,79 und 4,93 Euro je Quadratmeter.
„Jugendliche mit Problemen stehen in der Schlange ganz hinten“, betont Streetworker Fischer. Und für suedpol bestand die Schwierigkeit jahrelang darin, dass begleitetes Wohnen keine Fördermittel erhielt. Das Problem jugendlicher Wohnsituationen blieb lange unter dem Radar – für die Stadtverwaltung und die Jugendlichen selbst gleichermaßen –, da preiswerter Wohnraum ausreichend vorhanden war. Sogar mit Mietschulden sei es möglich gewesen, eine neue Wohnung zu finden und „runterzurocken“.
„Nomaden-Miet-Wohnen“ nennt dies Fischer. Selbst heute ist nicht jeder Wohnungslose nach der Räumung sofort obdachlos. Er oder sie kann bei Freunden unterkommen. Aber mit mancher Räumung landen womöglich gleich mehrere junge Leute auf der Straße. Und die nehmen die normalen Sozialangebote laut Fischer nicht an, denn die sind für eine andere, ältere Zielgruppe gemacht, die außerdem andere Drogen konsumiert. Das passt nicht.
Private Vermieter räumen Mieter heute wahrscheinlich gern, um die Wohnung umgehend teurer neu zu vermieten. Vor dem Boom waren sie froh, überhaupt Mieter zu haben. Es gibt aber auch Erfreuliches: 2001 begann das erste gemeinsame Jugendwohnprojekt von suedpol und LWB. Da es sich in Dölitz in der Straße „Bei der Krähenhütte“ befand, wurde es kurzerhand „Krähenhütte“ getauft.
Jugendliche, die auf dem regulären Wohnungsmarkt wegen ihrer Lebensumstände schlechte Karten hätten, fanden in der „Krähenhütte“ ihr Zuhause. Dabei rutschten die Streetworker von suedpol in eine spannende Zwischenposition, denn sie vermieteten den von der LWB günstig angemieteten Wohnraum an die jungen Leute weiter und begleiteten diese. Themen wie verträgliches Verhalten als Mieter, Ordnung und Sauberkeit sowie Finanzen lassen sich zusammenfassen als das „Wohnen lernen“.
Ganz Ähnliches verfolgt die LWB mit ihrer Wohnschule. Diese wurde vor wenigen Tagen mit dem Leipziger Zukunftspreis 2019 in der Kategorie Jugend ausgezeichnet. Hierbei bereiten in etwa gleichaltrige Azubis der LWB Jungmieter aufs Wohnen in der ersten eigenen Wohnung vor, erzählt Eßbach. Ein Erfolgsrezept „auf Augenhöhe“. Die Grundlagen des Wohnens werden mithilfe einer selbst erarbeiteten Ratgeberbroschüre im 2. Lehrjahr, das heißt im Rahmen der eigenen Ausbildung, vermittelt.
35 offene und kostenfreie Kurse mit jeweils etwa 15 Teilnehmern finden pro Jahr statt. Auch reguläre Neumieter versucht die LWB mit einem Bonussystem für die Wohnschulkurse zu begeistern. Ein erfahrener Pädagoge betreut das Projekt für den Fall, dass etwas aus dem Ruder läuft. Dieser Punkt wiederum geht auf die Zusammenarbeit der LWB mit suedpol zurück. Und die Wohnschule befindet sich auch nicht zufällig in der Bornaischen Straße 96. Denn hier entstand 2006 die neue Krähenhütte.
Immer noch war Wohnen für Jugendliche kein Thema, was städtische Förderung anging. Aber wie sollte das leerstehende Haus schräg hinter dem Hildebrandplatz instandgesetzt werden? König Fußball half, genauer gesagt die Fußball-Weltmeisterschaft. Denn der Wohnraum wurde, nachdem er auf niedrigem Level mit Ofenheizungen hergerichtet wurde, an Fußball-Fans vermietet. So konnten die Finanzmittel teilweise eingespielt werden.
Dennoch sollte eine Förderung für das Jugendwohnprojekt her. „Normale“ mobile Jugendarbeit mit zwei Stellen und „nebenbei“ die Krähenhütte war einfach zu stressig. Und Wohnen wurde in Leipzig zunehmend ein kostbares Gut.
2016 war das Jahr des Durchbruchs
Das Nachbarhaus Bornaische 98 wurde gemeinsam mit Jugendlichen vom Netz kleiner Werkstätten wohnbar gemacht. Das letzte LWB-Haus im Stadtgebiet, das unbewohnt und mit kleinen Wohnungen für Jugendwohnen geeignet ist, so Fischer, und nicht auf den normalen Wohnungsmarkt soll. Zusammen mit der früheren Krähenhütte entstand das Projekt „Leipziger JugendWohnen“: 19 Wohnungen in dem Doppelhaus, davon drei für junge Familien sowie eine für eine WG. Projektleiter Guntram Fischer konnte sich 2017 über Fördermittel vom Bund für den Ausbau freuen.
Die Haustechnik sanierte wie schon in der Nummer 96 die LWB und hielt dabei die KdU-Sätze ein. Ministerin Franziska Giffey besuchte ein Jahr darauf das Wohnprojekt, welches wie gesagt auch den Raum für die Wohnschule bietet. Und noch ein Jahr später zahlte sich die unermüdliche Überzeugungsarbeit im Stadtrat, im Jugendhilfeausschuss und bei den Fraktionen aus: Leipziger JugendWohnen erhielt eine städtische Förderung, junge Menschen lernten das Wohnen, suedpol feierte.
„Das Projekt Leipziger JugendWohnen ist wirklich gut geeignet. Es ist niedrigschwellig und bietet befristet eine Begleitung an“, findet Lutz Wiederanders. „Leipzig könnte gut noch so ein Projekt vertragen.“
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