Nach den Europa- und Kommunalwahlen gab es so ein Grummeln in der Zivilgesellschaft. Unter den Kreativen und Engagierten vor allem in Leipzig aber auch weit darüber hinaus. Angesichts der überraschend hohen Wahl-Ergebnisse rechtsradikaler Kräfte vor allem in Sachsen, aber auch im gesamten Ostteil Deutschlands, kam der eine oder die andere auf seltsame Ideen. Vom Weggehen, Sachsen zu verlassen war die Rede, eine zweite Welle nach 1990 vor allem derer, die sich täglich einbringen, schien möglich. Doch da war noch dieser Ruf, welcher einst auf den Montagsdemonstrationen erklungen ist.
Schwarwel kennt ihn, diesen Ruf, er war als junger Mann dabei. „Wir bleiben hier“, riefen nicht wenige Menschen. Denn sie wollten zwar reisen, raus aus dem Mief, der Überwachung und gar nächtlicher Abholaktionen. Aber sie forderten damit auch eine Zukunft ein – in Leipzig, in Sachsen, in ihrer Umgebung. Parallel und direkt danach folgte eine Zeit, als vor allem die jungen, gut ausgebildeten Menschen und explizit die Frauen in Scharen den Osten gen West verließen.
Ein regelrechter Braindrain kam in Gang, von über 700.000 binnen kurzer Zeit ist heute die Rede, neben den guten Jobangeboten auch vertrieben von sich nur äußerst zäh bessernden Verhältnissen, erstarkendem Rechtsextremismus ab 1990, marodierenden Nazi-Banden aus Lehrers-, NVA- und Polizistensöhnen und einem Gesellschaftsklima, welches wenig Hoffnung auf rasche Besserung versprach.
Schon damals drohten die „Heimatverteidiger“ den Ruf der neuen Bundesländer restlos zu ruinieren. Aus euphorischem Aufbruch wurde rasch ein Schlagen und Treten bei den einen und ein Ausbruch gen Westen bei vielen anderen. Und so manchen, die ganz anders agierten.
Warum „Wir bleiben hier“?
Der Leipziger Karikaturist und Filmemacher Schwarwel und Film-Producerin Sandra Strauß, Initiatoren der Interviewreihe „wirbleibenhier“, haben ausgehalten, widerstanden und sind geblieben. Sie und viele andere haben oft gemeinsam mit neu Hinzukommenden etwas aufgebaut in diesem ominösen Osten, der heute, 30 Jahre später, wieder so viele – oft nur scheinbar unbeantwortbare – Fragen in seiner Radikalität und eben auch seiner Lebendigkeit aufwirft. Erste Agenturen und Unternehmen entstanden, ja, mit der L-IZ.de hier in Leipzig sogar die einzige wirklich ostdeutsche Tageszeitung.
Neue Festivals wurden aus dem Boden gestampft, Radiomacher, Musiker und Kreative fanden ihr Publikum, Kunden und neue Verdienstmöglichkeiten – bald folgten erste Forschungsinstitute, neue Unternehmen entstanden und Autobauer-Filialen, es wurde alles endlich wieder internationaler auch dank der Leipziger Messen und des Flughafens.
Die, die geblieben waren und dennoch weltoffen und wirklich gastfreundlich bis integrativ agierten, fanden peu á peu eine neue Heimat in der alten wieder. Manchmal durchaus etwas verwundert, warum man ihre Sichtweisen auf der anderen Seite des Ex-Zaunes nicht so richtig hören wollte, aber ein gutes „Ost-West-Gespräch“ oder ein schmunzelndes Abwinken half oft weiter beim Weitermachen.
Fast war man so weit, die 90er in ihrer oft gewaltsamen Kulturschockerfahrung ruhen lassen zu können, sie wurden so etwas wie Lagerfeuergeschichten. Von Überfällen auf Jugendclubs und „anders aussehende“ Menschen, totgeschlagenen Obdachlosen, wilde Fluchten und ganz viel Wut. Aber auch die Erinnerungen an den sich in den 90ern erstmals bildenden, antifaschistischen Widerstand vor allem in Leipzig verblassten, die manchmal gewaltvolle Komponente schien nicht mehr nötig, da die rassistischen Gewalttäter der Nachwendezeit zurückgedrängt schienen. Der schlimmste Nazi hieß Christian Worch, weswegen sich über 20.000 Menschen auf die Karl-Liebknecht-Straße setzten. Heute erscheint er angesichts der AfD eher wie eine Witzfigur aus ferner Zeit.
2004 erreichte die NPD in Sachsen noch einmal das zweitbeste Spitzenergebnis aller Zeiten von 9,2 Prozent, danach traten die Nationalisten scheinbar den Sinkflug an. Selbst noch 2014 und 2015, als auch in Leipzig solidarisch mit der Flüchtlingsfrage umgegangen wurde, waren nur vereinzelte, letzte braune Reste, wie die einer Fackeldemonstration an der Löbauer Straße und ein kurzes Hochploppen von Montagsmahnwachen bis Legida erkennbar.
Scheinbar, denn in diesem anderen Sachsen um und hinter Dresden brannte es längst lichterloh.
Zäsur und Rückbesinnung
2017 überholte die AfD erstmals die sächsische CDU bei der Bundestagswahl in den Zweitstimmen. 27 Prozent der sächsischen Wähler waren der Meinung, nicht Parteien wie Linke, Grüne, SPD oder FDP wählen zu wollen, wenn sie die dauerregierende CDU nicht mehr haben wollten, sondern griffen zur braunen Seite. In einer Art Verkennung der gemeinsamen Kinderstube von CDU und AfD riefen da neben den offensichtlich immer vorhandenen 10 Prozent strammen Rassisten sogenannte Protestwähler nach noch mehr vom gleichen Wirkstoff.
Wenn man eine Verschärfung des Asylrechtes will, muss man Häuser anzünden, damit die CDU reagiert – das hatten sie aus Rostock-Lichtenhagen gelernt. Wo übrigens nicht „Muslime“ sondern Vietnamesen vertrieben wurden.
Seither ist auch über die Kommunal- und Europawahlen 2019 hinweg ein mediales Bild entstanden, als ob man sich immerfort um diese AfD-wählenden Menschen mehr kümmern müsse. Das mag sogar sein, denn gebrochene Erwerbsbiografien und Zurücksetzungserfahrungen können verbittern, Altersarmut tut dies überwiegend.
Doch Niederlagen tragen immer die Kernfrage von liegenbleiben oder aufstehen in sich.
Reden mit denen, die den „Karren ziehen“
Denn über die, welche ebenfalls hierblieben oder offen empfangen wurden und mitgestalteten, wo andere jammerten, spricht kaum jemand, wenn sich alles um „AfD und die Gründe“ dreht. Schwarwel und Sandra haben mehr getan. Sie haben eben jene Menschen in einer großen Interviewreihe seit Juni 2019 zu Wort kommen lassen und mit ihnen statt über sie gesprochen.
Auf der Seite „Wir bleiben hier“ heißt es dazu: „Wir stellen euch partei- und bündnisübergreifend Akteure aus unserer frei gelebten Demokratie vor, die davon erzählen, wie man sich gegen seine eigene Ohnmacht und für eine freie Gesellschaft engagieren kann, ohne dafür seine anderen Aktivitäten einschränken zu müssen – denn zivilgesellschaftliches Engagement ist für uns vor allem eines: bereichernd.“
Das dürfte dann also die andere Nachwende-Erfahrung im Osten sein, die gute. Das Lernen miteinander, das Wachsen an der Aufgabe, die positive Variante von Heimat. Und der Wille, wie schon in der DDR und den 90er Jahren, sich erneut nicht von nationalem Stumpfsinn vertreiben zu lassen. Das wäre ja auch noch schöner, denn wir alle bleiben hier oder gehen wann und wohin wir wollen.
Bis zum 1. September 2019 erscheinen ab sofort einige der Interviews auf L-IZ.de. Der Dank für die Initiative gilt dem Glücklichen Montag, Sandra und Schwarwel.
Alle Interviews finden sich hier bei „Wir bleiben hier“
Streitschrift: In einem anderen Land
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