Am Dienstag, 15. Januar, begann die Anhörung beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu den Sanktionen bei Hartz IV. In Vorbereitung hatte der Erwerbslosenverein Tacheles eine umfangreiche Umfrage zu den Folgen und Wirkungen von Sanktionen durch die Jobcenter durchgeführt. Die Umfrage wurde am Dienstag dem BVerfG übergeben und die Ergebnisse in das Verfahren eingebracht. Und sie erzählt eine andere Geschichte als etwa Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), der immer noch glaubt, arbeitslose Menschen müssten mit Bestrafung zur Arbeit genötigt werden.
Damit ist er ja in der Bundesregierung nicht allein. Das Trommelfeuer neoliberaler Thinktanks hat in den vergangenen 30 Jahren Wirkung gezeigt und selbst in der SPD die Vorurteile verfestigt, arbeitslose Menschen seien einfach nur zu faul zum Arbeiten und bräuchten quasi die Zuchtrute, damit sie auch noch den letzten miesen Job annehmen.
Dabei haben die Sanktionen ganz andere Effekte. Und man darf davon ausgehen, dass genau die beabsichtigt sind – auch wenn Hubertus Heil das vielleicht nicht begreifen wird. Einer, der in der Befragung auch sichtbar wurde, ist die abschreckende Wirkung des Sanktionssystems: Es bringt Tausende Menschen dazu, lieber gar nicht erst zum Jobcenter zu gehen.
An der Befragung haben Leistungsbezieher/-innen, Sozialarbeiter/-innen, Anwältinnen und Anwälte, aber auch viele Jobcentermitarbeiter/-innen teilgenommen.
„Von der hohen Anzahl von über 21.000 Umfrageteilnehmer/-innen sind wir noch immer überwältigt. Auch, wenn die Umfrage nicht als empirisch repräsentativ gilt, können wir daraus durchaus wichtige Schlüsse ziehen. Insbesondere in Bezug auf die dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt, der Gefahr einer Dequalifizierung sowie die Folgen von Sanktionen“, erklärt Harald Thomé, Vorsitzender von Tacheles e.V.
Einige Ergebnisse:
86,9 % aller Befragten hielten Sanktionen „nicht für geeignet“, um eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Vielmehr führen die Sanktionen nach Meinung von 80 % der Umfrageteilnehmer/-innen zu schlechter entlohnten und prekären Jobs. Fast genauso viele (79,2 %) sehen eine konkrete Dequalifizierung für ihre weitere erfolgreiche berufliche Laufbahn.
Dass Sanktionen auch ganze Haushalte, sogenannte Bedarfsgemeinschaften, treffen sehen 83,9 % der Befragten. Besonders betroffen sind demzufolge mit rund 77,9 % alleinerziehende Eltern von sanktionierten Jugendlichen/jungen Erwachsenen sowie deren Geschwister.
Und das hier ist dann auch etwas für Leipzigs Sozialpolitik, die sichtlich auf einem Auge blind ist:
Weit über die Hälfte (64,9 %) der Befragten bestätigten, dass Sanktionen zu Wohnungsverlust geführt haben und 69,6 % haben in diesem Zusammenhang Kenntnis von Stromsperren. Für rund drei Viertel der Teilnehmenden (70,3 %) waren/sind die Geldkürzungen der Beginn einer Verschuldungsspirale und mehr als jeder Zweite (56,3 %) hat erlebt, dass Sanktionen zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes geführt haben.
63,3 % aller Befragten erklärten, dass Sanktionen zu Resignation und Motivationsverlust führen. Als Gründe gaben 44,5 % „Überforderung aufgrund psychischer Erkrankung/Belastung“ an. Dass eine Zuweisung für eine berufliche oder persönliche Qualifikation nicht immer passgenau ausgeführt wird, bemängeln 40 % der Teilnehmenden. Mängel bei der Beratung der Jobcenter vor Ort kritisieren 37,4 % der Befragten und mehr als jeder Dritte (38,0 %) erlebte „rechtswidriges oder willkürliches“ Verhalten“ durch die Jobcenter.
Zu diesem Befund ergänzt Thomé: „Diese Zahlen spiegeln massive Menschenrechtsverletzungen wieder. Sanktionen dürfen niemals zu Wohnungs-, Energielosigkeit oder gar dem Wegfall der Krankenversicherung führen. Sie belegen, dass die Leistungsberechtigten arbeiten wollen, aber nicht die notwendige Unterstützung durch die Jobcenter erhalten. Selbst jede/r zweite Jobcentermitarbeiter/in (50,3 %) bemängelte die schlechte Beratung der eigenen Behörde.“
Die Blase Jobcenter
Die Detailergebnisse sind noch erschütternder, weil sie zeigen, wie sehr gerade Jobcentermitarbeiter/-innen in ihrer Blase leben und mehrheitlich daran glauben, dass die Sanktionen tatsächlich helfen. Während auch Sozialberater und Rechtsanwälte sehen, dass das Gegenteil der Fall ist. Haben Betroffene familiäre, gesundheitliche oder psychische Probleme, wird ihnen das im Jobcenter fast immer als Faulheit und Bequemlichkeit ausgelegt.
Augenscheinlich auch, weil der Jobcenter-Kosmos das reale Leben der Menschen, die von Kürzungen betroffen sind, nicht wirklich interessiert. Auch nicht, wie die Geldkürzungen gleich noch auf die Familienmitglieder in den Bedarfsgemeinschaften durchschlagen. Die werden dadurch einfach mitbestraft.
Und auch den Verlust der Wohnung oder gar den Sturz in die Schuldenspirale nehmen die meisten Jobcenter-Mitarbeiter/-innen lieber nicht wahr. Während nicht nur die Betroffenen, sondern auch Rechtsanwälte und Sozialberater/-innen sehr wohl sehen, in welche unlösbare Lebenssituation die Betroffenen gezwungen werden. Eine Situation, die eigentlich ein Zwang ist, der nur das „Gehorchen“ und Gefügigmachen zum Ziel hat.
Erstaunlich, dass ein SPD-Minister das nicht sehen will. Ist unsere politische Ebene tatsächlich schon so blind? Die Jobcenter unterstellen den Betroffenen auch gleich noch, sie würden sich ohne Sanktionen nicht mehr fortbilden wollen. Das Gegenteil ist der Fall, sagen die Betroffenen. Die freilich auch davon erzählen können, dass sie nicht nur in miserabel entlohnte Jobs gezwungen werden, sondern auch in ihrer Berufslaufbahn völlig dequalifiziert werden. Es zählt nicht, was sie gelernt und wie viel Berufserfahrung sie haben – sie müssen auch noch die unqualifizierteste Stelle annehmen, bloß damit die Jobcenter ihr Bringesoll erfüllen.
Tacheles e.V. fordert die Abschaffung aller Sanktionen im Arbeitslosengeld II (Hartz IV). Sie verstoßen gegen die Menschenwürde, gegen die Berufsfreiheit, führen zu existenziellen Notlagen und zum eklatanten Vertrauensverlust gegenüber den Jobcentern und deren Mitarbeiter*innen. Der Verein ist zuversichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht diese Probleme bei seiner Entscheidung ernsthaft berücksichtigen wird.
Bundesverfassungsgericht verhandelt ab heute Sanktionen in Hartz IV
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