Am heutigen Dienstag, 15. Januar, gibt es die erste mรผndliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu den Sanktionen in Hartz IV. Das Sozialgericht Gotha hatte das Verfassungsgericht um Prรผfung gebeten, ob die Sanktionen in Hartz IV รผberhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Zu Wort kommen wird auch der seit 25 Jahren tรคtige Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles e.V., der weiรŸ, wie schnell die Geldkรผrzungen bei vielen Betroffenen zur finanziellen Katastrophe werden.

โ€žSanktionen fรผhren nicht in die nachhaltige Arbeitsmarktintegrationโ€œ, benennt Harald Thomรฉ, Vorsitzender von Tacheles e.V., den eigentlichen Grund dafรผr, warum dieses Repressionsinstrument รผberhaupt in das SGB II eingefรผhrt wurde. Dahinter steckt das alte junkerliche Denken von Leuten, die glauben, Menschen mรผssen erst zur Arbeit genรถtigt werden. Aber tatsรคchlich sorgt diese Kรผrzungsandrohung dafรผr, dass Menschen sich dazu nรถtigen lassen, auch Arbeitsstellen anzunehmen, die miserabel bezahlt sind.

Sie kommen aus der Armut nicht heraus. Thomรฉ: โ€žViel mehr unterstรผtzen sie den Niedriglohnsektor und subventionieren die Unternehmen auf Kosten der Arbeitslosengeld-II-Leistungsberechtigten. Sie entziehen den Betroffenen ihre Existenzgrundlage, was drastische Folgen hat: Obdachlosigkeit oder die Bedrohung durch Obdachlosigkeit, Stromsperren, Schulden oder und oft auch den Verlust der Krankenversicherung. Wir fordern das sofortige Ende der Sanktionen bei Hartz IV.โ€œ

Tacheles e.V. hat in Vorbereitung der mรผndlichen Verhandlung in Karlsruhe zu Beginn des Jahres eine Online-Befragung zu den Sanktionen im Sozialgesetzbuch II (โ€žHartz IVโ€œ) durchgefรผhrt. Die Beteiligung habe die Erwartungen bei weitem รผbertroffen, teilt der Verein aus Wuppertal mit. Mehr als 21.000 Menschen haben von ihren Erfahrungen mit Sanktionen im SGB II berichtet und ihre Einschรคtzungen mitgeteilt

Teilgenomen haben nicht nur Leistungsbezieher/-innen, sondern auch viele Menschen aus dem sozialen Bereich, die mit LeistungsbezieherInnen arbeiten und sie unterstรผtzen, Rechtsanwรคlte und viele MitarbeiterInnen von Jobcentern haben sich geรคuรŸert. Tacheles e.V. wird die Auswertung am heutigen Dienstag in der mรผndlichen Verhandlung einbringen und dann online zur Verfรผgung stellen.

โ€žUnsere Befragung hat ergeben, dass รผber 80 Prozent aller Antwortenden Sanktionen nicht fรผr ein Mittel halten, das geeignet ist, eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen. Sanktionen haben verheerende Auswirkungen auf die Lebenssituation der davon betroffenen Leistungsberechtigtenโ€œ, ergรคnzt Thomรฉ. โ€žNicht selten fรผhren sie unmittelbar in Wohnungslosigkeit, Energieverlust und eine Schuldenspirale. Auch die JobcentermitarbeiterInnen sind der Auffassung, dass Arbeitsuchende in erster Linie mehr Unterstรผtzung und bessere Beratung brauchen, um unabhรคngig von Unterstรผtzung zu werden.โ€œ

Entwicklung der Schuldnerberatung in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Sozialreport 2018
Entwicklung der Schuldnerberatung in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Sozialreport 2018

Das Problem ist: Fรผr diese Folgekette interessieren sich Behรถrden nicht. Auch nicht die Stadt Leipzig. Im jรผngsten โ€žSozialreport 2018โ€œ wird zwar ausfรผhrlich รผber Wohnungslosigkeit und Wohnungsnotfallhilfe referiert. An keiner Stelle aber analysiert der Bericht, warum immer noch so viele Leipziger in Wohnungsnot geraten.

Nur im Thema Schuldnerberatung blinkt ein wenig davon auf, woher die Probleme rรผhren: โ€žIm Jahr 2017 wurden 3.018 Beratungen gezรคhlt, 344 Beratungen mehr als im Vorjahr. Die Anzahl der Beratungen hat sich seit 2010 tendenziell erhรถht. Nach Rechtskreisen verlief die Entwicklung unterschiedlich. Die Beratungen fรผr SGB-Leistungsberechtigte gingen aufgrund der insgesamt rรผcklรคufigen Anzahl von Leistungsberechtigten nach dem SGB II zurรผck und stiegen 2017 wieder an, wรคhrend die Zahl der Schuldnerberatungen nach dem SGB XII stetig anstieg.โ€œ

Im Bereich SGB XII ist zu vermuten, dass hier so langsam die wachsende Zahl von Armutsrentnern sichtbar wird, bei denen selbst die Hilfe zum Lebensunterhalt nicht ausreicht, um eine schwere Verschuldung zu vermeiden. SGB II aber sind eindeutig die im Jobcenter gemeldeten Bedarfsgemeinschaften. Nur bis 2012 fiel hier die Zahl der Beratungsfรคlle. Seitdem ist sie โ€“ trotz sinkender Arbeitslosigkeit โ€“ relativ konstant. Die โ€žgute Konjunkturโ€œ kommt also bei vielen Familien in โ€žHartz IVโ€œ nicht an. Trotzdem wird emsig weiter sanktioniert, weil jedes Jobcenter ein Bringesoll zu erfรผllen hat.

Wohnungsnotfallhilfe in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Sozialreport 2018
Wohnungsnotfallhilfe in Leipzig. Grafik: Stadt Leipzig, Sozialreport 2018

Und natรผrlich muss das auch bei den Wohnungsnotfรคllen eine Rolle spielen. Deren Zahl steigt รผbrigens โ€“ was sicher auch mit den Mietsteigerungen in Teilen der Stadt und mit der Entmietungspraxis einiger Hauseigentรผmer zu tun hat.

โ€žIm Jahr 2017 wurde das Sozialamt vom Amtsgericht Leipzig รผber 1.127 eingeleitete Rรคumungsklagen informiert, 30 weniger als im Vorjahr. Die Gerichtsvollzieher informierten im Jahr 2017 รผber 1.025 angesetzte Zwangsrรคumungstermine von Wohnungen. Die Anzahl der Rรคumungstermine ist im Vergleich zum Vorjahr um 25 Fรคlle gestiegenโ€œ, heiรŸt es im Sozialreport. Insgesamt stieg die Zahl der Wohnungsnotfรคlle von 3.373 im Jahr 2015 auf 3.510 im Jahr 2017.

Was in diesem Kontext eben auch heiรŸt: Die Stadt, die ja Teil der Jobcenter-Verwaltung ist, sorgt auf der einen Seite mit Sanktionspolitik dafรผr, dass Menschen in Finanz- und Wohnungsnot geraten โ€“ und muss diese dann รผber Schuldner- und Wohnungshilfe auf der anderen Seite wieder irgendwie auffangen. Sinnloser kann bรผrokratischer Sanktionswahn eigentlich nicht sein. So werden Menschen tatsรคchlich zu hilflosen Objekten der Verwaltung gemacht.

Neben den Befragungsergebnissen, die statistisch ausgewertet werden kรถnnen, hat Tacheles fast 7.000 Mitteilungen von Betroffenen erhalten.

โ€žDiese werden wir am 15. Januar 2019 dem Verfassungsgericht komplett รผbergeben. Meist wird nur รผber die Hartz IV-BezieherInnen geredet. Wir wollen sie mit der Verรถffentlichung der Rรผckmeldungen selbst beim Gericht zu Wort kommen lassenโ€œ, sagt Thomรฉ.

Zumindest bei einigen Politikern in der Regierung ist das Thema endlich angekommen. So wie bei Hubertus Heil (SPD), dem Bundesarbeitsminister, der am 16. November erklรคrte: โ€žGรคngelnde Sanktionen mรผssen abgeschafft werden.โ€œ

Tacheles e.V. ist der Auffassung, dass die Sanktionen im SGB II nicht mit der Verfassung vereinbar sind, weil sie denen, die sie treffen, die grundlegende Anerkennung als Menschen versagen. Diese grundlegende Anerkennung steht im Kern des Menschenwรผrdegrundsatzes aus Art. 1 Abs. 1 GG. Tacheles appelliert daher an das Bundesverfassungsgericht, die Sanktionen im SGB II fรผr verfassungswidrig zu erklรคren.

Der konservative Seeheimer Kreis รผberholt die SPD jetzt links

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An der steigenden Wohnungslosigkeit ist die Stadtverwaltung beileibe nicht unschuldig. Sorgt sie doch seit Jahren mit ihren โ€œAngemessenheitsgrenzenโ€ fรผr nie endenden Arbeitsuafwand bei, Sozialgericht und fรผr รœberschuldung bei den ร„rmsten. Die Tricksereien mit den Angemessenheitsgrenzen mรผssen endlich aufhรถren.

Spart man zwar im Budget des JC ein paar 1000 โ‚ฌ ein, ist es im Budget der Obdachlosenhilfen ein vielfaches dieser eingesparten Summe, die nรถtig ist, um die Menschen wenigstens halbwegs zu betreuen.

Viele Mietschulden sind erst durch das Handeln bzw Nichthandeln des JC entstanden. Da sind dann extrem lange Bearbeitungszeiten bei Neuantrรคgen, wenn die eben nicht ins Schema F passen, wenn WG-Bewohner sich zurecht weigern ihre Mitbewohner zu benennen und fรผr sie die Formulare zur Haushaltsgemeinschaft und Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft auszufรผllen. Dann wird eben einfach gar keine Miete anerkannt, mit etwas โ€œGlรผckโ€ erhรคlt man dann aber den Regelsatz. Oft stockt aber der ganze Antrag viele Monate lang.

Sanktionen tun dann noch das รœbrige. Bei einem Single bedeuten 30% des Regelsatzes einen Betrag von rund 127โ‚ฌ, das ist fast so viel, wie fรผr Ernรคhrung vorgesehen ist. Selbst 10%, was 42,40โ‚ฌ ausmacht, ist fรผr viele nur schwer stemmbar. Der Regelsatz ist ja von der Regierung so knapp auf Kante genรคht, dass er eben nicht ausreichen SOLL, um eben die Aufnahme jedweder Arbeit zu erzwingen. In diesem Kontext sei die Frage erlaubt, was denn nun dieser Regelsatz nach SGB II mit dem Regelsatz nach SGB XII zu tun hat? Im SGB XII ist man erwerbsgemindert/erwerbsunfรคhig oder nicht im erwerbsfรคhigen Alter. Und diese Menschen werden dauerhaft mit einem Regelsatz abgespeist, der Erwerbsfรคhige zur Aufnahme einer Arbeit โ€œmotivierenโ€ soll. Da lรคuft doch was gewaltig schief!

Die JC und das Arbeitsministerium feiern sich fรผr die โ€œErfolgeโ€ der Sanktionen, dass die Menschen, besonders die unter 25jรคhrigen, sich ja dadurch Arbeit suchen wรผrden, sich nach der Sanktion oftmals nicht mehr im JC melden. Es mag auf einige zutreffen, dass sie aus der Not heraus dann eben doch irgendwo prekรคr arbeiten, aber viele gehen in die Obdachlosigkeit, Schwarzarbeit, tippeln durchs Land etc., sind durch die Sanktionen verschuldet

Selbst durch eine 10%ige Sanktion entstehen im Haushalt schon Probleme. Ein Regelsatz, der politisch so dermaรŸen klein gerechnet wurde, bei dem dermaรŸen getrickst wurde um ihn politisch โ€œakzeptabelโ€ zu machen, in dem seit 2011 eben kein Ansparbetrag mehr enthalten ist, kann nur das absolute Minimum darstellen, und dieses darf niemals gekรผrzt werden!

Wenn auch immer wieder betont wird, dass die meisten Sanktionen ja auf MeldeverstรถรŸen beruhen, dann frage ich mich ja schon, warum das so viele sind. Mal ganz davon abgesehen, dass sehr viele der sogenannten โ€œEinladungenโ€ rechtswidrig sind, werden auch manche Verhinderungsgrรผnde nicht anerkannt. Und wie die Beratungspraxis zeigt, werden gegen sehr wenige Sanktionen Widerspruch und Klage gefรผhrt. Obwohl die Erfolgsaussichten recht hoch sind.

รœbrigens: wer sanktioniert ist, auch wer bis auf 0โ‚ฌ sanktioniert ist, muss trotzdem die Auflagen aus der Eingliederungsvereinbarung erfรผllen, also eine Mindestanzahl an Bewerbungen unternehmen, zu Vorstellungsgesprรคchen fahren, an einer MaรŸnahme weiter teilnehmen usw. Das JC sagt dann zwar immer, dass man im Jobclub ja kostenlos Bewerbungen schreiben kรถnne. Ja. Und wie kommt man da hin? Womit geht man in Vorleistung fรผr Fahrtkosten zum Vorstellungsgesprรคch? Nochzumal es ja fรผr innerรถrtliche Gesprรคche keine Kostenerstattung gibt, man kรถnne ja das Sozialticket nutzen? Hier sind die nรคchsten Sanktionen vorprogrammiert, woraus der von den JC genannte โ€œharte Kernโ€ der immer wieder sanktionierten Menschen rekrutiert.

Ganz zum Schuss: wenn immer vom fleiรŸgen Niedriglรถhner, der ja trotz wenig Lohn arbeitet und frรผh aufsteht (was รผbrigens die meisten ALG2-Bezieher auch tun) die Rede ist, der nicht versteht, warum jemand ohne Arbeit nur unwesentlich weniger bekommt als er mit Arbeit, dann sollten wir doch endlich mal darรผber reden, was Arbeit eigentlich wert ist. Wir sollten รผber gerechte Besteuerung nicht รผbers Einkommen, sondern รผbers Produkt reden. Nochzumal durch Automatisierung seit den schlesischen Webern schon immer mehr Arbeitsplรคtze im produzierenden Bereich wegfallen.

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