Sie sind wie die Chamäleons. Nichts ist ihnen schräg genug, es sich anzuziehen, als wären sie die Essenz des Volkes. „Wir sind das Volk“ skandieren heute eindeutig rechtsradikale „besorgte“ Bürger. AfD- und PEGIDA-Akteure verkleiden sich als Bürgerrechtler und tun so, als ob sie in der DDR schon gegen die erstarrten Verhältnisse gekämpft hätten. Auch in Chemnitz traten sie so – in brüllender Begleitung bekannter Neonazis – auf. Das steht ihnen nicht zu, stellen jetzt 60 DDR-Bürgerrechtler in einem gemeinsamen Appell fest.

Mit einer „Gemeinsamen Erklärung zu Chemnitz“ haben sich am Mittwoch, 5. September, mehr als 60 Bürgerrechtler und ehemalige DDR-Oppositionelle zum Versuch populistischer Gruppierungen, das Erbe der Friedlichen Revolution von 1989 für sich zu vereinnahmen, geäußert. Anlass dafür sind der mutmaßliche Mord an dem Chemnitzer Daniel H. vor zehn Tagen und die darauffolgenden Ereignisse in der sächsischen Stadt.

Die DDR-Bürgerrechtler kritisieren jene, „die solche Straftaten instrumentalisieren für menschenverachtende oder demokratiefeindliche Propaganda“. Davon nehmen sie – Zitat – „die große Mehrheit friedlich trauernder und teilweise zu Recht über die Versäumnisse der Politik verärgerten sächsischen Bürgerinnen und Bürger“ explizit aus.

Die „Gemeinsame Erklärung zu Chemnitz“ konstatiert, dass sich inzwischen nicht wenige Pegida- oder AfD-Sympathisanten auf die friedliche Revolution von 1989 und auch auf die am 11. September 2010 verstorbene DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley beziehen. In der „Erklärung“ heißt es dazu: „Wegen ihres Einsatzes für Frieden, Freiheit und Menschenwürde wurde Bärbel Bohley 1983 und 1988 ins Gefängnis geworfen. Den von ihr nach dem Mauerfall gesprochenen Satz ‚Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat‘ verstehen wir als Appell für mehr Gerechtigkeit für die Opfer der SED-Diktatur, für politisch Verfolgte und Benachteiligte in Ostdeutschland“.

Die Bürgerrechtler halten fest: „Der Rechtsstaat, den wir haben, ist aufgrund nicht nur unserer Erfahrungen vor allem für die Bewohner eines Unrechtsstaates ein hohes und erstrebenswertes Gut. Was zugleich bedeutet, dass es auch in diesem Rechtssystem ständig Verbesserungsbedarf gibt.“

Die „Erklärung zu Chemnitz“ fordert von den Vertreterinnen und Vertretern des deutschen Rechtsstaates: „Klagen Sie jene an, die morden und jene, die solche und andere Straftaten zum Anlass nehmen für Volksverhetzung, Aufrufe zur Gewalt oder verfassungsfeindliche Aktivitäten.“

Zum Schluss appellieren die Bürgerrechtler an die ostdeutsche Gesellschaft: „Stärken wir die Kräfte der gewaltfreien Zivilgesellschaft, das allein schafft die Voraussetzungen für eine vielfältige und zukunftsfähige Entwicklung in unserem Land.“

Der vollständige Text des Appells und die Unterzeichnerliste:

Gemeinsame Erklärung zu Chemnitz

„Chemnitz ist gleich nebenan“

Kein Mensch darf ermordet werden. Weder „nebenan“ in Chemnitz noch irgendwo auf der Welt. Trotzdem geschieht es. Wir verurteilen den mutmaßlichen Mord von Chemnitz und jede andere Mord- oder Straftat, wo auch immer sie geschieht.

Wir kritisieren aber auch jene, die solche Straftaten instrumentalisieren für menschenverachtende oder demokratiefeindliche Propaganda. Die große Mehrheit friedlich trauernder und teilweise zu Recht über die Versäumnisse der Politik verärgerten sächsischen Bürgerinnen und Bürger nehmen wir von dieser Kritik ausdrücklich aus.

Nach dem Motto „Wir waren damals gegen den Staat auf der Straße und wir sind es heute wieder“ berufen sich inzwischen nicht wenige Pegida- oder AfD-Sympathisanten auf die friedliche Revolution von 1989. Ein Anführer der Wählergruppe „Pro Chemnitz“ bezieht sich dabei direkt auf die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley.

Wegen ihres Einsatzes für Frieden, Freiheit und Menschenwürde wurde Bärbel Bohley 1983 und 1988 ins Gefängnis geworfen. Mit anderen hatte sie die Gruppe „Frauen für den Frieden“ gegründet. 1989 gehörte sie zu den Hauptakteuren der Bürgervereinigung „Neues Forum“, die die damalige Staatsführung zum Dialog aufrief.

Den von ihr nach dem Mauerfall gesprochenen Satz „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ verstehen wir als Appell für mehr Gerechtigkeit für die Opfer der SED-Diktatur, für politisch Verfolgte und Benachteiligte in Ostdeutschland.

Wir sagen: „Der Rechtsstaat, den wir haben, ist aufgrund nicht nur unserer Erfahrungen vor allem für die Bewohner eines Unrechtsstaates ein hohes und erstrebenswertes Gut. Was zugleich bedeutet, dass es auch in diesem Rechtssystem ständig Verbesserungsbedarf gibt.“

Wir fordern die Vertreterinnen und Vertreter dieses Rechtsstaates auf: Handeln Sie, klagen Sie jene an, die morden und jene, die solche und andere Straftaten zum Anlass nehmen für Volksverhetzung, Aufrufe zur Gewalt oder verfassungsfeindliche Aktivitäten.

Stärken wir die Kräfte der gewaltfreien Zivilgesellschaft, das allein schafft die Voraussetzungen für eine vielfältige und zukunftsfähige Entwicklung in unserem Land.

5. September 2018

Unterschriften: Gesine Oltmanns (Vorstand Stiftung Friedliche Revolution, Mitarbeiterin der Bürgerrechtsakademie Leipzig), W. Christian Steinbach (Regierungspräsident a.D., Leipzig), Gisela Kallenbach (ehem. MdEP und MdL Sachsen, Leipzig), Stephan Bickhardt (Vorsitzender EuropaMaidan Leipzig e.V.), Konrad Weiß (Mitgründer von „Demokratie Jetzt“, Regisseur, ehem. MdB, Berlin), Rainer Eppelmann (Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, ehem. MdB, Berlin), Almut Ilsen (ehem. DDR-Bürgerrechtlerin, wiss. Bibliothekarin, Fotografin, Berlin), Werner Schulz (Kuratorium Stiftung Friedliche Revolution Leipzig, ehem. MdB und MdEP), Gerold Hildebrand (Sozialwissenschaftler, ehem. Umwelt-Bibliothek Berlin), Rüdiger Rosenthal (Autor, Berlin), Wolfram Tschiche (Philosoph, Klinke), Esther-Marie Ullmann-Goertz (Theologin und Personalentwicklerin, Berlin), Prof. Dr. Rainer Eckert (Historiker, ehem. Direktor Zeitgeschichtliches Forum, Leipzig), Wolfgang Templin (Publizist, ehem. Initiative für Frieden und Menschenrechte, Berlin), Jutta Seidel (ehem. „Frauen für den Frieden“, Mitgründerin des Neuen Forums, Berlin), Dr. Eberhard Seidel (Mitgründer des Neuen Forums, ehem. „Ärzte für den Frieden“, Berlin), Hans-Jürgen Fischbeck (Mitgründer von „Demokratie Jetzt“, Berlin), Reinhard Weißhuhn (ehem. Initiative für Frieden und Menschenrechte, Vorstandsmitglied Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin), Dr. Martin Böttger (Vorsitzender des Martin-Luther-King-Zentrums Werdau e.V., Zwickau), Christian Dietrich (Landesbeauftragter des Freistaats Thüringen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Erfurt), Sigrid Rothe (Psychologin, Erfurt), Aribert Rothe (Theologe, Erfurt), Siegbert Schefke (Journalist, Leipzig), Uwe Schwabe (Vorstandsvorsitzender Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V.), Wolfgang Stadthaus (ehem. Bausoldat, Mitgründer des Friedenskreises Berlin), Christa Sengespeick-Roos (ehem. Pfarrerin in der Auferstehungskirche Berlin-Veranstaltungsort der Politischen Nachtgebete der „Frauen für den Frieden“), Axel Holicki (Diplompsychologe, Leipzig), Andreas Bertram (ev. Pfarrer und SDP-Gründungsmitglied, Leipzig), Matthias Voigt (ehem. Umwelt-Bibliothek, Berlin), Gunter Weißgerber (SDP-Gründungsmitglied, ehem. MdB, Leipzig), Bettina Rathenow (ehem. „Frauen für den Frieden“, Berlin), Eckart Hübener (Diktaturfolgen-Beratung von Caritas und Diakonie, Rambow), Heiko Lietz (ehem. Neues Forum, Mitbegründer des Sozialforums West-Mecklenburg, Schwerin), Martin Klähn (Mitgründer des Neuen Forums, jetzt Politische Memoriale e.V., Schwerin), Mario Schatta (Psychotherapeut, ehem. Friedenskreis Berlin-Weißensee), Britta Albrecht-Schatta (Gemeindepädagogin, Berlin), Michael Heinisch-Kirch (Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer, Berlin), Joachim Goertz (Pfarrer, Berlin), Wolfgang Rüddenklau (Mitgründer der Berliner Umwelt-Bibliothek), Frank Batsch (ehem. Bausoldat, Abteilungsleiter im Gesundheitswesen, Berlin), Rudi-Karl Pahnke (Theologe, Berlin), Dr. Maria Nooke (Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur), Bernd Albani (ehem. Pfarrer Gethsemanekirche, Berlin), Manuela Albani (Berlin), Peter Neumann (Neues Forum und Arbeitsgruppe Sicherheit am Runden Tisch, Berlin), Lothar Rochau (Diakon, Halle), Kathrin Mahler Walther (ehem. Bürgerrechtlerin in Leipzig, Geschäftsführerin Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft Berlin), Wolfgang Musigmann (Diakon und Leiter der Ev. Offenen Arbeit, Erfurt), Andreas Schönfelder (Umweltbibliothek Großhennersdorf e.V.), Frank Ebert (DDR-Oppositioneller, jetzt Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin), Tina Krone (DDR-Oppositionelle, jetzt Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin), Michael Frenzel (Geschäftsführer des Sozialdiakonische Kinder- und Jugendarbeit im Verbund e.V., Berlin), Martin Jankowski (Schriftsteller, Berlin), Hansjürg Schößler (Sozialtherapeut, Berlin), Barbara Sengewald (ehem. DDR-Bürgerrechtlerin, Gesellschaft für Zeitgeschichte e.V., Erfurt), Matthias Sengewald (Diakon, Gesellschaft für Zeitgeschichte e.V., Erfurt), Rolf-Dieter Hansmann (Pfarrer, Leipzig), Friedemann Seidel (ehem. DDR-Opposition, Dispatcher, Berlin), Johann-Georg Jaeger (ehem. Neues Forum, Landesvorsitzender Bündnis90/Die Grünen Mecklenburg-Vorpommern, Rostock), Dr. Christoph Wonneberger (Theologe, ehem. Arbeitsgruppe Menschenrechte, Leipzig), Rainer Kühn („Lindentaler – Gemeinsam Wandeln“, Leipzig), Rolf Sprink (Leiter der Volkshochschule a.D., Leipzig), Gottfried Böhme (Lehrer, Leipzig), Bernd Oehler (Bündnis Buntes Meißen, Pfarrer), Liane Plotzitzka-Kämpf (ehem. „Frauen für den Frieden“, Mitglied im Kuratorium der Stiftung Friedliche Revolution Leipzig, Bad Düben), Thomas Lehmann (Fraktionsvorsitzender Bündnis90/Die Grünen im Chemnitzer Stadtrat), Peter-Christian Bürger (Vorstandsmitglied des Vereins Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V., Chemnitz).

 

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar