Wie nimmt man eigentlich den Menschen die Angst vor Alter und Armut? Seit Januar hatte man ja ganz sachte das Gefühl, der neu gekürte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz habe sich über Weihnachten mal hingesetzt und nachgedacht, was alles in seinem Paket „Gerechtigkeit“ stecken muss, damit es einer ernst nehmen kann. Hat er leider nicht. Schade, Herr Schulz. Auf wen rechnet dann eigentlich der DGB?
In den frühen Morgenstunden des Mittwochs, 31. Mai, machten sich in Leipzig aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter auf, um am Zugang zur S-Bahn-Station Hauptbahnhof Pendler zu einem Kaffee oder Tee „to go“ einzuladen.
Alle, die von einer guten Rente nur träumen können, müssten spätestens jetzt aufwachen, stellt der Deutsche Gewerkschaftsbund nicht zufällig fest. „Die Menschen waren uns gegenüber sehr aufgeschlossen. Wir haben allein in Leipzig über 1.000 Beutel mit Kampagnenmaterialien in nur 1 ½ Stunden verteilt. Das Thema Rente hat für viel Gesprächsstoff am Bahnsteig gesorgt. Für uns ist das ein Zeichen dafür, dass die Stärkung der gesetzlichen Rente für die Politik Priorität haben muss“, resümiert Erik Wolf, DGB Regionsgeschäftsführer Leipzig-Nordsachsen.
Unter dem Motto „Rente muss zum Leben reichen – Für einen Kurswechsel in der Rentenpolitik“ läuft seit Ende 2016 die Rentenkampagne der DGB Gewerkschaften. Auf dem Weg zur Bundestagwahl haben auch immer mehr Parteien das Thema Rente für sich entdeckt. Denn einiger Unmut auch und gerade bei jüngeren Erwerbstätigen resultiert aus der Tatsache, dass sie allesamt wissen, dass sie im Alter zu Almosenempfängern werden. Trotz Arbeit.
Denn Millionen haben in den letzten Jahren nicht nur gebrochene Berufskarrieren erlebt (die allesamt wertvolle Rentenpunkte gekostet haben), sie stecken gerade in Ostdeutschland oft immer noch in Einkommensverhältnissen fest, die bestenfalls am Ende aller Arbeitstage ein Rentenniveau auf Sozialhilfehöhe ergeben. Wenn überhaupt.
Denn mit ihren Basteleien an den Prozentsätzen, die künftig an Rentenempfänger ausgeschüttet werden, hat der bundesdeutsche Gesetzgeber gerade die Bezieher von niedrigen Einkommen das nächste Mal bestraft und zur Kasse gebeten. Erst wurde ihnen mit Gerhard Schröders „Agenda 2010“ ein massiver Einkommensverlust schon mitten im Berufslebens beschert, die Rentenkürzungen (denn um nichts anderes handelt es sich ja) bestrafen dieselbe Erwerbstätigengruppe ein zweites Mal.
Die meisten Menschen haben zwar Kafka nicht gelesen. Aber genau solche Zustände, wie sie Kafka schildert, sind für die Niedrigentlohnten der Normalzustand im Leben: niedrige Einkommen verbinden sich mit zum Teil krankmachenden Arbeitsbedingungen. Millionen haben den Canossa-Gang ins Jobcenter hinter sich und wissen, was die Kürzung des Lebensnotwendigen bedeutet.
Und dann zeigt ihnen jeder Rentenbescheid, dass sie mit politischer Ignoranz trotzdem immer weiter sanktioniert werden. Nun halt noch für den „Rest des Lebens“. Denn nach unten haben die deutschen Rentenversprechungen ja keine Grenze. Immer wenn die Diskussion auf die existenzsichernde Mindestrente kommt, tauchen ganze Parteien ab, die sich zuvor eifrig selbst beklatscht haben, weil sie „die deutsche Wirtschaft“ so toll in Schwung gebracht haben.
Aber in Schwung gebracht haben die deutsche Wirtschaft klug agierende Unternehmer und hochqualifizierte Belegschaften, die immer wieder auf Einkommen verzichtet haben.
Nur so als kleiner Randgedanke zum Thema Gerechtigkeit: Wer 12 und mehr Jahre immer wieder verzichtet, damit die Wirtschaft in Deutschland floriert und die Steuereinnahmen sprudeln, wann wird der für seinen Verzicht eigentlich belohnt?
Tatsächlich wirkt die Kampagne des DGB noch irgendwie wie zwischen den Zeiten. Denn dass die Gewerkschaft jetzt auch für die Alterseinkommen der Selbstständigen kämpft, ist eine durchaus wichtige Note. „Den Schutz der Rentenversicherung auf die Selbstständigen ausweiten und Erwerbsminderungsrenten verbessern!“, heißt es im Rentenappell des DGB. Wobei trotzdem auffällt, dass man die Rente nicht der Prozenthuberei der alten Politik überlassen kann, vor allem einer Politikergarde, die sich weder um ihre Rente kümmern noch auf regelmäßige Diätenanpassungen verzichten muss. Man sitzt ja an der vollen Schüssel und kann sich die Sorgen, in die man die vielen prekär Beschäftigten und Verdienenden in den beiden letzten Jahrzehnten gestürzt hat, nicht einmal vorstellen.
Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften wollen jetzt im Vorfeld der Wahl noch stärker die Forderungen für einen Kurswechsel in der Rentenpolitik thematisieren.
„Wir werden die Entwicklung der Rente in der Region zum Thema machen. Die Parteien und Kandidaten zur Bundestagswahl können sich darauf einstellen, dass wir sie fragen werden, wie sie Altersarmut vieler Menschen hier verhindern wollen“, betont Erik Wolf.
Denn wenn das nicht geklärt wird – und zwar ehrlich und nachhaltig – dann kommt ein ganzes Land ins Rutschen, weil die vorherrschende Politik sichtlich unwillig ist, ein Mindestmaß an Gerechtigkeit herzustellen. Ohne diesen Kurswechsel, so der DGB, drohe vielen Beschäftigten sozialer Abstieg im Alter und bei Erwerbsminderung. Dem bundesweiten Pendleraktionstag am 31. Mai sollen jetzt noch weitere Informations-Aktionen folgen.
In der kommenden Woche wird es Infostände in Wurzen (07.06., vormittags), Borna (08.06., vormittags) und Leipzig (09.06., nachmittags) geben. Das DGB Rentenrad und das ver.di Rentenspiel geben an den Ständen Auskunft über die persönliche und allgemeine Rentenentwicklung.
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