„Russland im Zangengriff“ – so lautete einst der griffige Buchtitel eines Werks aus der Feder des verstorbenen Publizisten Peter Scholl-Latour. Eine ganz ähnliche Diagnose wurde am Sonntag auch der Europäischen Union beim nunmehr dritten Leipziger Treffen der Initiative „Pulse of Europe“ gestellt, bei der zunehmend auch kritische Aspekte zur Sprache kamen.
Das Wetter meinte es an diesem Sonntagnachmittag nicht allzu gut – die hohe Zahl aufgespannter Regenschirme legte davon Zeugnis ab. Dennoch wohnten geschätzt 200-250 Menschen der dritten Zusammenkunft der proeuropäischen Initiative „Pulse of Europe“ auf dem Nikolaikirchhof bei. Barbara Rucha (44), Initiatorin des Ablegers für Leipzig, äußerte sich erleichtert über den Wahlausgang in den Niederlanden und sprach von mehr als 150 Versammlungsteilnehmern, anders als beim Demogeschehen vom Samstag. Der kleine Seitenhieb auf die national gesonnenen Kräfte war unverkennbar.
Der Künstler Michael Fischer-Art hielt eine kurze Ansprache, sprach von einer Rundreise mit seinen Kindern unter anderem nach Prag und Budapest, vom Tauschhandel als mögliche Währung der Zukunft, teilte gegen Geert Wilders und Marine Le Pen aus und erzählte, wie er einst aus der grünen Partei austrat, weil ihm das Rotationsprinzip fehlte. Und wie könne es sein, dass man Atomkraftwerke abstellen will und gleichzeitig Kernwaffen in Europa stapelt?
„Ich werde dafür kämpfen, dass der Scheiß verschwindet“, sagte Fischer-Art auch mit Blick auf die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, die sich unter das Publikum gemischt hatte. Die Politikerin steckte das scheinbar locker weg.
Barbara Rucha unternahm einen kleinen Ausflug in die Geschichte, spannte den Bogen vom Gedanken des Supranationalen in der Aufklärung bis zur heutigen EU mit ihren 28 Mitgliedern – nicht ohne an die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. März 1957 zu erinnern, die sich am Samstag zum 60. Mal jährt.
Aber ja, es gebe Probleme: Die internationale Finanzkrise von 2008, das Straucheln von Mitgliedsstaaten am Rand der Zahlungsunfähigkeit, das die Menschen etwa in Griechenland leidvoll erfahren, der Umgang mit geflüchteten Menschen, das angespannte Verhältnis zur Türkei, die vor einer neuen Diktatur steht, der Brexit. In zahlreichen Ländern befänden sich rechte und rechtspopulistische Kräfte im Aufwind, während die EU von links als unreformierbares Gebilde unter dem Diktat des internationalen Finanzkapitals gesehen wird. „Es gibt also von rechtsaußen und linksaußen eine Zange, in der sich die EU gefangen fühlt.“
Zudem warteten auch auf formeller Ebene ungeklärte Fragen auf eine Antwort – etwa die fehlende demokratische Legitimierung der EU-Kommission oder die Abtretung von Kompetenzen an das Parlament. Auf diese Art Kritik ging auch ein junger Mann am offenen Mikro ein, nach eigenen Angaben ehemals Praktikant in der EU-Volksvertretung. Lobbyismus? Das sei ein Parlamentsphänomen und kein speziell europäisches, zudem auch nur im Übermaß problematisch. Bürokratie?
Europa habe so viele Beamte wie Sachsen, konterte der Redner, monierte die Faktenresistenz mancher Nörgler und das viele Lästern, ohne reale Schwierigkeiten erkennen zu wollen. Die machte der Sprecher etwa im Kompetenzgerangel und im fehlenden Initiativrecht des EU-Parlaments aus, das erst auf Anstoß der Kommission Gesetzesvorlagen einbringen kann. Hier sieht er dringenden Reformbedarf.
Auch Tilman A. Schenk, ehemals an der Universität Leipzig für das Erasmus-Programm zuständig, richtete einen Appell ans Publikum: „Reden wir bitte nicht nur von einer Million Paragraphen und EU-Vorschriften, redet doch auch mal von einer Million Erasmus-Babies, die in Europa geboren wurden!“ Chancen wie der europaweite Studentenaustausch und anderes würden unter Verkennung ihres Ursprungs mittlerweile als selbstverständlich hingenommen.
Weitere Reden und Musikeinlagen, unter anderem polnischer Klezmer und der Hit „A Night Like This“ der niederländischen Sängerin Caro Emerald hallten über den Platz. Zudem wurden Postkarten verteilt, auf denen Interessierte ihre Vision für die Zukunft Europas mitteilen konnten. Die Vorstellungen sollen auf einem zentralen Treffen der „Pulse of Europe“-Städte im April in Frankfurt am Main diskutiert werden.
„Es bietet sich die einmalige Chance, den Wandlungsprozess der EU durch eine Graswurzelbewegung mitzugestalten“, zeigte sich Barbara Rucha überzeugt. Das nächste Treffen in Leipzig ist erneut für kommenden Sonntag geplant.
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