Eigentlich kann ich so etwas gar nicht mehr sehen. Nicht weil es so schrecklich wäre. Oder so schrecklich schön. Sondern so schrecklich falsch. Am 24. September lud das Soziokulturelle Zentrum „Die Villa“ zu einem ganz besonderen Drehtermin nach Grünau ein. „Wir sind Grünau!“ sollte der erste Lipdub über den Stadtteil im Leipziger Westen werden. Am 18. Oktober war Filmpremiere in Grünau. Jetzt ist der Clip auch online zu sehen.
Vorbilder gibt es für diese Art des Filmclips einige im Internet zu finden – zwei eindrucksvolle Beispiele aus den USA und Österreich hatte sich „Die Villa“ zum Vorbild genommen. Einmal eine grandiose Umsetzung von „American Pie“, die als beschwingte Kamerafahrt durch das ganz und gar nicht sterbende Grand Rapids dessen singende, tanzende, fröhliche Bewohner sichtbar macht. Zum anderen eine ebenso geglückte Umsetzung von „Live is life“ im österreichischen Kapfenberg. In beiden Fällen dient der Filmclip dazu zu zeigen, was tatsächlich alles in einem Ort an Leben, Musik, Engagement zu finden ist – und wie viel Gemeinsamkeit.
Wenn andere den Ort glauben herunterschreiben zu müssen, zeigen die Bewohner hier, dass sie gar nicht daran denken, die Köpfe hängen zu lasen. Und gerade weil die Filmaufnahmen gut organisiert und sauber durchkomponiert sind, wird deutlich, wie viel Leben da zumeist unsichtbar für die Welt ist, wie Chöre proben, Orchester spielen, Schulen tanzen, Musiker rocken und selbst die Polizisten, Feuerwehrmänner und Senioren aufdrehen, wenn sie gefragt sind.
Das Schlimmste, was unsere Weltwahrnehmung verzerrt, ist immer die Ignoranz, meist gekoppelt mit tristen Vorurteilen. Man schaut nicht mehr hin, man interessiert sich nicht wirklich für das Leben der (anderen) Menschen, die Träume der Kinder und ihre oft genug frappierenden Versuche, die Grenzen zu sprengen, in denen sie aufgewachsen sind.
Genau das wollte „Die Villa“ nun auch in Grünau probieren, einem jener Leipziger Stadtteile, die ihre falschen und faulen Zuschreibungen in einigen Medien einfach nicht loswerden. Aber an denen liegt es nicht allein. Denn solche Sichtweisen entstehen ja auch, weil selbst die heutigen Medienmacher tief durchdrungen sind von der arroganten Haltung der Reichen und „Leistungsträger“: Wenn Menschen oder Regionen abgehängt sind, dann sind sie ja wohl selber schuld daran.
Wer sich umschaut, sieht das Muster dieser Verachtung überall. Die Abwertung ist verbunden mit medialer Ausgrenzung und folgender Komplettignoranz. Denn Menschen, denen man die ganze Zeit ein gefährliches Label umgehängt hat, die besucht man ja nicht mehr, mit denen spricht man nicht.
Kommt einem das bekannt vor?
Natürlich. Auch das ist Leipzig.
Am 24. September jedenfalls hat sich die Alte Salzstraße in Grünau für vier Stunden in eine quirlige Meile der Möglichkeiten verwandelt. Hunderte Beteiligte aus mehr als 35 Vereinen, Kulturprojekten und Schulen haben sich entlang der Strecke aufgebaut und sind pünktlich in die Kamera gesprungen, getanzt, gelaufen und haben eingestimmt in das Lied, das Neo Kaliske und Susann Großmann extra für Grünau geschrieben haben: „Hello Sunshine (zwischen den Blocks)“. Das ist nicht ganz so treibend wie „Live is life“ oder „American Pie“.
Aber es geht um dasselbe Thema: Zu zeigen, dass auch in einer so oft niedergeschriebenen Großsiedlung wie Grünau das Leben sprudelt, sich die Bewohner mit ihrem Stadtteil identifizieren, sich hier sogar wohlfühlen, auch wenn sie wahrscheinlich so wie zu diesem Dreh selten zusammenkommen. Obwohl der Clip deutlich macht, dass das alles zusammengehört, auch wenn man Seniorenchor und Kabarett, Rapper, Rocker und Footballer nicht unbedingt zusammendenkt, wenn man Grünau hört.
Und genau das ist das Problem, worauf der Clip eigentlich das Augenmerk richtet: dass die Menschen, die sich in so einem Stadtraum zusammenfinden, mehr vereint, als dass sie da wohnen und sich vielleicht mal in der Schlange im Supermarkt treffen. Oder bei etwas heftigeren Begegnungen auf der Straße. Manchmal braucht es erst genau so ein Projekt, um auch die Mauern und Wände im Alltag der Menschen niederzureißen – auch wenn der Clip deutlich zurückhaltender wirkt als selbst das Übersprudeln in Kapfenberg. Noch ist die (vielleicht sogar typisch ostdeutsche) Scheu zu spüren, bei so einer Sache richtig aus sich herauszugehen, einmal nicht so verdammt brav zu sein, wie das augenscheinlich noch immer in vielen Leipzigern steckt.
Als hätten sie irgendwie kein Recht darauf, die öffentlichen Räume mit Fröhlichkeit und Ausgelassenheit in Anspruch zu nehmen. Das scheint tief zu sitzen und wahrscheinlich mehr mit der augenblicklichen sächsischen Politik zu tun zu haben, als so Mancher wahrhaben will. Denn wer nicht ohne Scheu auf der Straße tanzen und „Live is life“ singen kann, der geht sichtlich vorsichtiger und ängstlicher durch den Raum, der eigentlich seiner ist. Wenn man frech wäre, würde man sagen: „Heimat“. Aber das klingt in Sachsen immer wie Holzmichel und „Rasen betreten verboten!“
Da schaut man sich die Clips aus Kapfenberg und Grand Rapids an und ahnt, dass dieser eigentlich von Leben, Freude und Bewegung überquellende Clip aus Grünau erst der Anfang sein kann. Ein richtig guter Anfang, nicht nur für das Lebensgefühl der Grünauer und ihren Umgang miteinander und den vielen Möglichkeiten, die ihr Lebensort bietet. Sondern eigentlich auch für Leipzig, Sachsen, den kompletten Osten. Der überall dieses vertrackte Problem einer anerzogenen Bravheit und Untertänigkeit hat. Man sieht es selbst im Clip, wie einige Protagonisten sich jedes Mal ängstlich umschauen, weil sie fürchten, über die Stränge zu schlagen oder gar anderen den Platz zum Tanzen wegzunehmen.
Das ist es, was die Sache so schwer auszuhalten macht. Diese tief verwurzelte Ängstlichkeit, die in Sachsen bis heute gepflegt wird. Es ist die Kehrseite einer obrigkeitlichen Arroganz, die immer noch „guter König“ spielt, obwohl es einer Menge Sachsen gar nicht gutgeht und sie immer noch (oder wieder) das Gefühl haben, zu stören, nicht gefragt zu sein, wieder nur Zaungast zu sein, während ihr Leben an ihnen vorüberrauscht.
Auf der unten angegebenen Website kann jeder, der will, sich den Clip anschauen. Wer Grünau kennt, wird einige Akteure vermissen, denn da ist noch viel mehr, was tanzen könnte, wenn auf der Straße gefilmt wird. Aber auch das, was die vielen hundert Beteiligten hier zeigen, drängt eigentlich nach mehr. Nach noch mehr Frechheit und Ausgelassenheit und Unverfrorenheit.
Denn auch das trifft ja zu: Die Grünauer haben die ihnen zugeschriebenen Rollen oft genug hingenommen und meist nur gegen diese falschen Zuschreibungen protestiert, als es eben genau so zu machen, wie es die Leute aus Grand Rapids vorgemacht haben: zu zeigen, dass ihnen die ganzen verdammten Zuschreibungen scheißegal sind und sie mehr zu zeigen haben, als in den üblichen Klatschblättern zu lesen steht.
Genug der Emotionen für heute? Genug.
Unterm Clip eingeblendet findet man die Namen der mitwirkenden Solisten und Gruppen. Sie sind auch alle noch einmal extra aufgelistet, so dass man gleich zur richtigen Stelle im Clip klicken kann. Womit Grünau jetzt etwas hat, was die anderen Leipziger Stadtteile (noch) nicht haben. Und die Sache ist steigerbar, da bin ich mir sicher. Aber vielleicht lassen wir den Clip jetzt einfach mal wirken. Außer den Titel – „Wir sind Grünau“. Der ist Käse. Das ist wieder dieses sächsische: „Wir sind alle liebe Häschen.
Aber da fällt denen, die das nächste Mal so etwas planen, bestimmt noch was ein. Was Mutigeres. Lasst euch nicht kleinkriegen. Bleibt dran.
Die DVD mit viel Zusatzmaterial ist ab sofort im Komm-Haus, Selliner Straße 17, 04207 Leipzig, oder unter Tel. (01637) 844908 für 5 Euro erhältlich.
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