Sie standen lange im Schatten anderer Opfergruppen, die in die Todesmaschinerie der Nationalsozialisten geraten sind: Menschen mit Behinderung. Oft steht großes Engagement und viel Geduld und Mühe dahinter, wenn Projekte der Erinnerung entstehen sollen. Doch dieser 7. Mai machte erst deutlich, welche Dimension die Verfolgung behinderter Menschen damals hatte.

Im Fall der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen wäre das Projekt „Stolpersteine“ an seine Grenzen gestoßen. Hier wurden von 1933 bis 1945 mindestens 624 angeblich lebensunwerte behinderte Kinder im Rahmen der NS-Euthanasie ermordet, 604 erwachsene Menschen zwangssterilisiert sowie 860 psychisch und/oder physisch kranke Menschen in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein deportiert. Über 2.000 „Stolpersteine“ wären hier zu verlegen gewesen. Das hätte alle Dimensionen gesprengt.

Deswegen entwarf der Initiator des „Stolpersteine“-Projekts, der Kölner Künstler Günter Demnig, eine „Stolperschwelle“. Diese wurde am Samstag, 7. Mai, um 15:15 Uhr als Erinnerungsmal für alle bekannten und unbekannten Opfer der Euthanasie-Verbrechen in Leipzig-Dösen vor der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt in den Gehweg eingelassen. Paten sind die Diakonie am Thonberg und das Erich-Zeigner-Haus e.V.

Vorher gab es eine kleine Kundgebung vor dem Haus der Demokratie, denn die Behindertenverbände der Stadt Leipzig nahmen den Tag zum Anlass, um für Barrierefreiheit in der Stadt Leipzig, in Sachsen und im Bund zu demonstrieren. Zwar ist seit 1990 einiges erreicht worden, das Wort Barrierefreiheit ist in die politische Diskussion fest eingebaut.

Aber immer wieder fallen die Belange der Barrierefreiheit den scheinbaren Zwängen des politischen Alltags zum Opfer. Mal fehlt es am Geld, mal fehlt die Geduld bei der Umsetzung. Oder die federführenden Parteien im Land und im Bund argumentieren wieder damit, dass Barrierefreiheit und Inklusion zu teuer seien. Entsprechend enttäuschend sind die vorgelegten Gesetze – so wie auch der neue Schulgesetzentwurf für Sachsen.

Und das hat auch mit einem Denken zu tun, das den Umgang mit Schwächeren in einer Gesellschaft immer wieder nur vom wirtschaftlichen Blickpunkt sieht. Als wäre der Mensch nur ein zu berechnender Kostenfaktor, der nach seinem Nutzwert beurteilt wird. Da gab es bei der kleinen Kundgebung vorm Haus der Demokratie so einige deutliche Zungenschläge. Gerade weil man bei dieser Stolpersteinverlegung direkt mit dem Nutzwert-Denken der Nationalsozialisten konfrontiert war.

Denn das sogenannte „Euthanasie“-Programm richtete sich ja gegen „lebensunwertes Leben“: Keine Gesellschaftsordnung hat die komplette wirtschaftliche Verwertbarkeit des Menschen so auf die Spitze getrieben wie der deutsche Nationalsozialismus.

Wenn jetzt sieben neue Stolpersteine vorm Eingang in das Haus der Demokratie, das einstmals Kinderheim der Stadt Leipzig war, an Kinder erinnert, die aus der Fürsorge der Stadt direkt in die Tötungsmaschine des „Euthanasie“-Programms überwiesen wurden, erinnert es auch an die Willfährigkeit der damaligen Leipziger Verwaltung, die sich zum Handlanger der Mörder hat machen lassen.

Einige der in Leipzig-Dösen ermordeten Kinder lebten zuvor in dem Kinderheim in der damaligen Elisenstraße 153, dem heutigen Haus der Demokratie Leipzig. Harry Arnold, die Zwillinge Olaf und Wolfram Eder, Robert Hutterer, Martin Nagel und Harry Zanger wurden aufgrund nur zum Teil dokumentierter Erkrankungen oder Behinderungen wie Epilepsie oder „Schwachsinnszustand“ in die Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen oder die Landesheil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz überwiesen. Nur Martin Nagel überlebte die NS-Euthanasie. Seit dem 7. Mai erinnern jetzt sieben „Stolpersteine“ im Gehweg an das Schicksal der Kinder. Pate ist das Haus der Demokratie e.V.

Günter Demnig bei der Verlegung der Stolpersteine vorm Haus der Demokratie. Foto: Ralf Julke
Günter Demnig bei der Verlegung der Stolpersteine vorm Haus der Demokratie. Foto: Ralf Julke

Und nicht nur hier und vor der einstigen Heil- und Pflegeanstalt in Dösen wird die Erinnerung an diese Kinder künftig bewahrt. Auch die Universität Leipzig hat sich endlich durchgerungen, sich diesem finsteren Kapitel zu stellen. Vorm Eingang zum Neuen Augusteum soll künftig ein Mahnmal daran erinnern, dass es Leipziger Ärzte waren, die das „Euthanasie“-Programm der Nazis ins Rollen brachten.

Dass diesmal die von den Vernichtungsprogrammen der Nazis betroffenen Kinder und Behinderten so im Zentrum standen, war natürlich kein Zufall. In intensiver Forschungsarbeit wurde über Jahre hinweg darauf hingearbeitet, diesen Menschen überhaupt erst einmal wieder einen Namen und ein in Akten nachweisbares Schicksal zu geben. Die Ergebnisse zum einstigen Kinderheim und Waisenhaus in der Elisenstraße waren erstmals in der jüngst erschienenen Chronik „Haus der Demokratie Leipzig“ nachzulesen.

Zu anderen Opfergruppen werden die Forschungen im Umfeld der „Stolperstein“-Aktion natürlich ebenfalls vorangetrieben. Zusätzlich zu den in Dösen und am Haus der Demokratie eingelassenen Erinnerungssteinen wurden am Samstag noch 25 weitere Stolpersteine verlegt, die neben einstigen jüdischen Mitbürgern auch an Gewerkschafter erinnern, die Opfer der NS-Justiz wurden.

Die komplete Mitteilung der Arbeitsgruppe „Stolpersteine“ zu den am Samstag verlegten Steinen.

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