Die Frage ist berechtigt, die der Koordinierungskreis der Leipziger Agenda 21 am Freitag, 25. September, gestellt hat: Wächst Leipzig nachhaltig? Dass es wächst und gedeiht, das sieht jeder, der keine Kartoffeln auf den Augen hat. Aber ist das nun ein nachhaltiges Wachstum? Oder nur eins auf Pump? - Ein 4-Seiten-Papier wird jetzt so etwas wie eine freundliche Mahnung an OBM Burkhard Jung: Da muss was passieren.
Der Koordinierungskreis der Agenda 21 versteht sich – anders etwa als gesellschaftliche Verbände oder Vereine – nicht als Kritiker der Stadtverwaltung, sondern als Partner. Hier sitzen Akteure aus Politik, Verwaltung, Unternehmen und Forschung zusammen, um die Stadt zu begleiten bei einem Umbau hin zu einer zukunftsfähigen, nachhaltig wirtschaftenden Gesellschaft. Das tut die Leipziger Agenda 21 seit 1998. Damals hat sie mehrere Dutzend Indikatoren entwickelt, um die Entwicklung auch in Zahlen sichtbar zu machen.
Einiges davon hat die Stadtpolitik auch schon beschäftigt und verändert. Klimaschutz, Bildung, gesellschaftliche Teilhabe sind solche Themen, Geschlechtergerechtigkeit, barrierefreier ÖPNV, fairer Handel usw. Das kommt auch alles irgendwie im Arbeitspapier 2020 von Oberbürgermeister Burkhard Jung vor. Aber schon der Blick aufs Jahr 1998, als der Leipziger Agenda-Prozess begann, zeigt, dass einige wichtige Themen seither ins Stocken geraten sind oder gar eine alarmierende Entwicklung genommen haben.
So etwa der Klimaschutz, den Prof. Dr. Dieter Rink, der hauptamtlich im Helmholtzzentrum für Umweltforschung (UFZ) arbeitet, mittlerweile sehr kritisch sieht. Die CO2-Emissionen sind seit dem Jahr 2008 wieder gestiegen. Das liegt zwar auch an einem neuen Berechnungsverfahren. Aber tatsächlich sorgen mehr Pkw-Verkehr und mehr Wirtschaft auch dafür, dass wieder mehr Energie verbraucht wird – und das ist in der Regel keine alternative Energie, sondern es geht um Öl, Gas und Kohle.
Tatsächlich stagnieren die Bemühungen der Stadt seit ungefähr 2000, die Energiewende tatsächlich voranzutreiben. In der Regel scheitert’s am Geld, oft auch am politischen Willen. Denn es ist nicht zwangsläufig, dass eine positive wirtschaftliche Entwicklung seit 2010 sich sofort wieder in einer höheren Belastung mit CO2 und Stickstoffoxiden zeigt. Letztere sind ja seit ein paar Tagen weltweiter Diskussionsstoff, weil der Abgasbetrug von VW in den USA aufgeflogen ist. Mittlerweile hat auch Bundesverkehrsminister Dobrindt zugegeben, dass auch in Deutschland 2,8 Millionen Fahrzeuge manipuliert sind. Was im Klartext heißt: Die Dieselfahrzeuge schaffen die EU-Abgasnorm nicht, sondern stoßen auf der Straße das Doppelte bis Achtfache an Stickstoffoxiden aus, das sie auf dem Teststand erreichen. Im Grunde müsste längst über die grüne Plakette diskutiert werden.
Denn eigentlich hätte der zunehmende Verkehr in Leipzig aufgrund der strengeren Abgasnormen nicht dazu führen dürfen, das sich die Stickstoffoxidbelastung seit 2009 kontinuierlich erhöht hat. Hat sie aber. Selbst die Messstationen bekommen mit, dass da was nicht stimmt im Verkehr.
Natürlich liegt nun gerade dieses Thema nicht auf dem Tisch des OBM oder von Umweltbürgermeister Heiko Rosenthal. Aber sie müssen mit den Ergebnissen umgehen und Lösungen suchen. Wird sich das seit 2010 spürbare Wirtschaftswachstum in Leipzig wieder in steigender Abgasbelastung niederschlagen? Das kann es nicht sein.
Negative Entwicklungen gibt es auch in den Schulen. Der sowieso schon erschreckend hohe Anteil von Schulabgängern ohne Abschluss hat sich seit 2009 von 10,8 Prozent auf 15,3 Prozent (2013) erhöht. Keine andere Stadt in Sachsen wurde von den Sparmaßnahmen des Landes bei Lehrereinstellungen so hart getroffen wie Leipzig. Das ist auch mit immer mehr Sozialarbeitern, die die Stadt bezahlt, so nicht aufzufangen.
Auch das ist einer der Gründe des Koordinierungskreises, jetzt zum ersten Mal so ein Statement zur nachhaltigen Stadtentwicklung zu formulieren und dem OBM vorzulegen. Denn an verschiedenen Punkten zeigt sich längst, dass Leipzig wichtige Probleme nicht im Alleingang lösen kann.
Und dass die Stadt auch nicht die Augen verschließen kann vor der Tatsache, dass sie auf Kosten anderer wächst. Und zwar vor allem auf Kosten der umliegenden Landkreise und Regionen, indem immer weiter junge Leute aus den ländlichen Regionen in die große Stadt Leipzig umziehen und hier nicht nur das Bevölkerungs-, sondern auch das Wirtschaftswachstum antreiben, geht Leipzig in Wirklichkeit im Lauf weniger Jahre das lebendige Hinterland verloren. Mit dutzenden Grafiken hat der Koordinierungskreis sein Statement illustriert, um auch der Verwaltungsspitze deutlich zu machen, dass Leipzig handeln und ein lebendiges Interesse daran haben muss, dass auch die Städte, Gemeinden und Landkreise ringsum wieder Stabilität und Wachstum bekommen.
Eine Kurve zeigt die Entwicklung besonders drastisch: Der Zuwanderungsgewinn bei den 25- bis 35-Jährigen. Das sind die jungen Familiengründer, die schon ausgelernt haben und die in der Regel wegen der Arbeit nach Leipzig ziehen und hier ihre Kinder bekommen und sie in Kita und Schule schicken.
Vor ein paar Jahren spielten sie bei der Zuwanderung noch kaum eine Rolle, da dominierten die 18- bis 25-Jährigen. Aber seit 2010, seit Leipzigs Wirtschaft ins Brummen gekommen ist, ist der Saldo von zu- und abwandernden 25- bis 35-Jährigen in Leipzig ständig gestiegen, von 415 auf 3.369 im Jahr 2013. Das heißt: Den ländlichen Regionen geht nicht nur die Jugend verloren, jetzt ziehen auch noch die jungen Familien weg. Was die Dörfer und Kleinstädte noch mehr veröden lässt. Und damit fehlen dort wieder Arbeitskräfte, Gründer, junge Unternehmer, Kunden, Patienten. Schulen und Kitas lassen sich nicht mehr wirtschaftlich betreiben.
Das ist keine gute Vision, findet auch Dieter Rink. Im Grunde ist es höchste Zeit, dass Leipzig auch die Verantwortung für “sein Hinterland” übernimmt. Wie das aussehen könnte, ist noch offen. Der Koordinierungskreis jedenfalls mahnt mehr Obacht auf die Entwicklungen rings um Leipzig an. Es braucht eine “kooperative Stadt-Umland-Beziehung”, die die gesamte regionale Entwicklung stärkt.
Und – na hoppla – da wird sehr wohl sichtbar, dass Leipzig mehr tun kann: Der Koordinierungskreis benennt eindeutig die überörtlichen ÖPNV-Verbindungen als Arbeitsfeld. Eine leise, aber deutliche Kritik an der Arbeit des MDV.
Und eben so leise aber deutlich ist die Kritik an der touristischen Vermarktung: Bei ausländischen Touristen ist das Interesse an Leipzig nur marginal gestiegen – die vielen teuren Werbeaktionen der letzten Jahre haben wenig bewirkt. Die Werbestrategien scheinen nicht zu greifen. Vielleicht sind es die falschen.
Wirtschaftliche Situation: Die hohen Zahlen bei Leistungsempfängern zeigen, dass der wirtschaftliche Aufschwung bei über 70.000 Leipzigern nicht angekommen ist – die Zahlen sprechen sogar von 90.000, denn nachdem die Zahl der Empfänger im SGB II (Hartz IV) nun langsam sinkt (aber viel langsamer als im Land), steigen sie im Bereich des SGB XII, wo dann immer mehr Leipzigerinnen und Leipziger im Alter landen, wo es ohne “Hilfe zum Lebensunterhalt” mit kärglicher Rente einfach nicht geht.
“Wir haben nicht alle Parameter der Nachhaltigkeit untersucht”, sagt Rink. “Wir haben uns nur einige herausgesucht, von denen wir der Meinung sind, dass sie jetzt Priorität haben.”
Und bei drei Punkten spricht der Koordinierungskreis von aktuellen Herausforderungen:
1. Dass 15 Prozent der Schulabgänger ohne Abschlusszeugnis bleiben, sei schlicht unverantwortlich.
2. Wenn Leipzig wirklich die versprochenen CO2-Senkungen schaffen will, dann muss sich die Intensität der Bemühungen sichtbar verändern. Ralf Elsässer, Leiter der Geschäftsstelle der Agenda 21: “Mit den Maßnahmen, die bis jetzt angelaufen sind, kommen wir zu keinem qualitativen Sprung.”
3. Stärkung der lokalen Wirtschaftsstruktur unter den Aspekten des nachhaltigen Wirtschaftens. Denn nur, wenn sich Leipzigs Wirtschaft selber trägt, kann sie auch ein stabiles Beschäftigungsniveau sichern.
Aber schon der Verweis auf die umliegenden Regionen zeigt, wie komplex die Schaffung einer nachhaltigen Stadt ist. Und die Antwort auf die Frage, ob Leipzig schon nachhaltig wächst, lautet bislang eigentlich: nein. Die Stadt wächst nach wie vor auf Kosten anderer. Und das Wachstum ist ein geborgtes. Das geht auf Dauer nicht gut.
Und weil wichtige Weichenstellungen überfällig sind, will der Koordinationskreis der Agenda 21 jetzt jedes Jahr so eine Stellungnahme abgeben. “Wahrscheinlich jedes Jahr mit neuen Indikatoren”, sagt Rink. Wohl wissend, dass es in Verwaltungen und gar der Politik oft sehr lange dauert, bis daraus wirklich die richtigen Weichenstellungen erfolgen.
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