Die größte Demo fand dann doch in München statt. Bis zu 20.000 Menschen in der Bayrischen Landeshauptstadt, während sich in Leipzig 1.500 Menschen versammelten. Wenig oder viel? Die Materie ist komplex, die Zwischenstände der geheimen Verhandlungen teilweise unbekannt und die Versprechen der Politik wechseln. Greifbares ist selten. Mehr Arbeitsplätze soll der transatlantische „Freihandel“ bringen, unterdessen erklären sich immer mehr Kommunen, so auch Leipzig, in Deutschland zu „TTIP-freien“ Zonen. Die Verteidiger des Transatlantischen Freihandelsabkommens verweisen gern auf ein Mehr an Wohlstand und prognostizieren Wachstum. Doch es fällt ihnen nach wie vor schwer, dafür Argumente vorzulegen.

Am Samstag waren die Kritiker dran und äußerten in der Leipziger Innenstadt die grundlegendsten Bedenken gegenüber einem Freihandelsabkommen, dessen Entstehen bereits Anlass zur Sorge bieten muss. Grund Nummer 1 ist der nach wie vor weitgehend intransparente Status der geführten Verhandlungen durch Kommissionen der EU und der USA. Während die EU mittlerweile versucht, die eigenen Positionen in den Verhandlungen offenzulegen, schweigt die us-amerikanische Seite und macht so eine genauere Einschätzung des Verhandlungstandes unmöglich. Und so rätseln die Bürger, was da nun genau auf sie zukommt.

Bei wichtigen Fragen wie dem zukünftigen Verbraucherschutz, den geheimen Schiedsgerichten und Risikotechnologien wie Fracking oder die Nutzung von Gentechnologie in der Agrarwirtschaft ist selbst durch Parlamentarier in EU und Bundestag die Einschätzung des Verhandlungsstandes schwer bis unmöglich. Die Frage, ob neben dem EU-Parlament auch der deutsche Bundestag dem Verhandlungsergebnis zustimmen muss, ist derzeit strittig und das Votum des EU-Parlamentes soll erst am Ende der Verhandlungen über das zwischen den Kommissionen vereinbarte Gesamtpaket erfolgen. Es wird erwartet, dass dann gravierende Eingriffe in die Ergebnisse nicht mehr möglich sein werden.

Zum Start spielten die Demonstranten “Handelshemmnis” und traten die TTIP-Mauer ein

Ein weiterer Grund ist die hohe Dichte der Konzernvertreter im Umfeld der Verhandlungen und Konsultationen, während NGOs wie attac, Greenpeace und Verbraucherschutzorganisationen eine geringe Gesprächsfreude seitens der EU-Verhandler kritisieren. Was letztlich zur europaweiten Bürgerinitiative „Stop TTIP“ geführt hat, welcher sich durch ihre Unterschriften laut „attac“ bereits 1,7 Millionen Menschen anschlossen, Tendenz steigend. Allein in Deutschland unterschrieben mit Abschluss des gestrigen Aktionstages eine Million Bürger die Forderung „Stop TTIP“. Die Initiative könnte so die größte Unterschriftenaktion in der Geschichte der EU werden.

„Stop TTIP“ auch eine Machtfrage zwischen direkter und parlamentarischer Demokratie

Was die TTIP-Verhandlungen auch für die Demonstranten in Leipzig längst in den Status einer Demokratiefrage erhoben hat und die Frage in den Raum stellt: Wenn das Abkommen zwischen den USA und der EU eben jenen Segen bringt, wie ihn die Verfechter für den Arbeitsmarkt, die Handels- und Lebensbedingungen für dann 800 Millionen Menschen prognostizieren, warum wird dann nicht in Referenden und in den nationalen Parlamenten darüber abgestimmt? Das Wort „Volksentscheid“ machte am gestrigen Samstag auch in Leipzig erneut die Runde, TTIP droht längst zu einer Zerreißprobe für die Politik zu werden. „Stop TTIP“ ist indirekt auch eine Frage nach der Mehrheit des Bürgerwillens und der Mitbestimmungsmöglichkeiten, insbesondere in Deutschland geworden.

Der Zweifel jedenfalls, dass es letztlich um die Absenkung von Verbraucherstandards in Europa zugunsten der USA-Standards ebenso geht, wie die Möglichkeit von Konzernen Staaten nach dem Erlass von neuen Gesetzen auf Schadenersatz zu verklagen, konnte bislang durch die Verhandlungen nicht ausgeräumt werden.

Der Investorenschutz und die öffentliche Debatte vertragen sich irgendwie nicht

Ganz im Gegenteil – das Misstrauen am segensreichen Wirken einer transatlantischen Freihandelszone in der Größenordnung etwa der halben Weltwirtschaft wächst und Beispiele für Gefahren finden TTIP-Gegner bereits heute genug. So ist das Thema geheime Schiedsgerichte durch einen prominenten Vorgang längst aktuell. Seit 2014 verklagt im Gegensatz zu den deutschen Energieversorgern EON und RWE der schwedische Energieproduzent Vattenfall die Bundesrepublik Deutschland wegen des Atomausstieges und die Stilllegung ihrer Atomkraftwerke auf 4,7 Milliarden Euro aus dem Steuertopf vor dem nichtöffentlichen internationalen Schiedsgericht für Investitionsstreitigkeiten (ICSID) in Washington.

Ausgang derzeit offen, Informationen sind Mangelware bei diesem Beispiel, wie eine Politik den Atomausstieg beschloss und ein Konzern seine Gewinne geschmälert sieht. Denn die Öffentlichkeit bleibt vor der Tür, auch die Presse erhält so keine Kenntnis über den Verlauf und die Argumente im Streit um die stillgelegten Kraftwerke Brunsbüttel und Krümmel.

Während so die Interessen von Vattenfall im Verborgenen bleiben könnten, könnte nach dem Urteil die Politik in weitere Erklärungsnot geraten, sollte die Zahlung fällig werden. Inwieweit der einstige Zick-Zack-Kurs der schwarz-gelben Bundesregierung zu einem Schaden für die Steuerzahler führen könnte, bliebe eventuell im Dunkeln. Vielleicht sogar zur Freude einer heute noch regierenden Bundeskanzlerin, welche erst die Verlängerung der Laufzeiten betrieb.

 Wer hat etwas gegen freien Handel und Wachstum?

In den Reihen der Gegner von TTIP wurde auch in Leipzig deutlich, dass sich die Begriffe „frei“ und „Wachstum“ nicht mehr so einfach verargumentieren lassen, wie es politische Befürworter gern holzschnittartig tun. Freier Handel wurde auf der Demonstration durch „fairen Handel“ ersetzt, eine Forderung, die raschem Wegwerf-Konsum, Preiskampf und Dumpinglöhnen diametral gegenübersteht. Auch die fast schon im Gegenentwurf zu verstehende Forderung nach mehr regionaler Wirtschaft lief unter den verschiedenen Forderungen mit im Leipziger Demonstrationszug.

Wohin pures Wachstum auch führen kann, fand dabei auf Transparenten zur Massentierhaltung, der Ausbeutung ärmerer Staaten und der weltweiten Ressourcenfrage konterkariert. Zusammengefasst in der Behauptung “Mehr Produkte = Mehr Glück” ging es indirekt um den hoffnungslos überladenen Kleider- und Schuhschrank, den fettgefressenen Fastfood-Nachwuchs und das neueste Smartphone als kuriosen Weg zur persönlichen Erfüllung im eigenen Tun. Während mancher der vielen stehengebliebenen Passanten am Rande der Demonstration durch die Handelsmeilen der Leipziger Innenstadt wohl eher an Spinner und Weltverbesserer gedacht haben mag, wurde zumindest eines deutlich am „Global Trade Day“ in Leipzig.

Die Auseinandersetzungen rings um die Verhandlungen zwischen den Staaten Kanada (CETA), USA und Europa (TTIP) sowie einem weiteren „Trade in Services Agreement“ (TiSA) dürften wegweisend werden für die zukünftigen Generationen und den Lebensbedingungen, welche diese vorfinden.

Ausschnitt der Rede von Claudia Maicher (B90/Die Grünen) zu den Schiedsgerichten

Im Grunde wird die Welt gerade neu geordnet

Denn auch das weitgehend unbeachtete und kritisierte dritte große Abkommen namens „TiSA“ hat es in sich. Hierbei verhandeln inzwischen 50 Staaten mit einem weltweiten Exportvolumen von zwei Dritteln aller Dienstleistungen in geheimen Runden über die Fragen der zukünftigen gemeinsamen Regelungen unter anderem in den Bereichen Verkehr, Finanzen, Bildung oder Gesundheit. Die Befürchtung bei den Gegnern: Auch hierbei könnte der Zeiger in Richtung stärkere Privatisierungen und Konzerninteressen ausschlagen – erfahren werden sie es fünf Jahre nach Abschluss der Verhandlungen. So lange sollen der Verlauf und Teile der Ergebnisse geheim bleiben. Ergebnisse, welche auch Auswirkungen auf die deutsche Universitätslandschaft, Breitenbildung und Gesundheitspolitik haben dürften. Was die auch in diesen Bereichen angestrebte „Liberalisierung“ bedeuten könnte, kann man immerhin bereits bei der Finanzkrise seit 2007 beobachten.

Bis heute wirkt die europäische Politik gegenüber den europäischen und insbesondere französischen und deutschen Banken eher wie der Kellner, als der Koch. Spätestens mit der „Griechenlandrettung“ wurde klar, wem die Milliarden bis heute weitgehend alternativlos zuflossen und wer dafür zahlen durfte. Man darf also gespannt sein, wie sich dieses Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft durch „TiSA“ dann bei ebenfalls zur „Systemimmanenz“ wachsenden privaten Krankenhauskonzernen oder Verkehrsanbietern darstellt.

Am Montag, den 20. April möchten die Delegationen der EU und der USA weiter über TTIP verhandeln. Geheim versteht sich.

Ausschnitte der Rede von Mike Nagler (attac Deutschland) auf der Demonstration

 

1.500 schlossen sich den Protesten an (hier bei der Rückkehr auf den Marktplatz Leipzig)

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