Es ist tatsächlich nicht so, dass die Leipziger sich nicht einbringen, wenn es um brandheiße Themen geht. Sie organisieren Unterschriftensammlungen, Proteste, Demonstrationen. Am Mittwoch, 25. Februar, kurz vor Beginn der Ratsversammlung im Neuen Rathaus wieder exemplarisch zu sehen. Mittendrin diesmal: jene Leipziger Bürgerrechtler von 1989, die am 9. Januar 2015 aufgerufen hatten zum Dialog unter der Überschrift „Für ein Europa freier Bürger und offener Grenzen“.

Damit wollten sie auf die scheinbar “eskalierende Situation auf Leipzigs Straßen und Plätzen” im Umfeld der Legida-Demonstration reagieren. Denn eines hatte ja der Herbst 1989 gezeigt: Friedliche Lösungen gibt es nur im Dialog. Und Probleme kann man auch nur artikulieren, wenn die Gegenseite die Bereitschaft zum Zuhören mitbringt.

Eine Frage war natürlich sowohl bei Pegida in Dresden als auch bei Legida in Leipzig: Wer ist eigentlich die Gegenseite? An wen appellierten die grimmigen Bürger da eigentlich? Wem galt ihr Unmut? Und woher kam dieser Unmut?

Fragen, die Leipzigs Bürgerrechtler natürlich auch bewegten. Ist ja nicht so, dass Unstimmigkeiten in der heutigen Demokratie erst sichtbar wurden, als ein paar Leute sich zu abendlichen, von der Polizei begleiteten Spaziergängen trafen.

Ein Bericht für OBM Burkhard Jung

Aus der Gruppe der Bürgerrechtler, die am 9. Januar ihren Aufruf verfassten, entstand ein Vorbereitungskreis, der dann ein paar Offene Diskussionsforen in der Leipziger Volkshochschule veranstaltete. Aus den Erfahrungen der Gesprächsforen haben die Organisatoren ein Positionspapier erarbeitet. Sechs Seiten dick oder dünn, je nachdem, was man erwartet. Am Mittwoch, 25. Februar, nutzten sie die Gelegenheit, den “Bericht zur Situation in Leipzig im Zusammenhang mit den seit Wochen andauernden Demonstrationen”, wie ihn Uwe Schwabe beschreibt, an Oberbürgermeister Burkhard Jung zu übergeben.

Eigentlich beschreibt er weniger die Situation in Leipzig, als den Gesprächsbedarf, der mittlerweile herrscht, wenn es um das Verhältnis der Leipziger, der Sachsen, der Ostdeutschen zur Demokratie geht. Die irgendwie als großes Geschenk über sie kam 1989 – und doch noch nicht wirklich verinnerlicht wurde.

So jedenfalls interpretieren die neun Autoren des Berichts das aktuelle Problem. Sie verorten den Konflikt im Aufeinanderprall zweier Gesellschaftserfahrungen im Jahr 1989 – der westdeutschen, die Freiheit und Demokratie als selbstverständliches Gut lebte, und der ostdeutschen, die die freie Kommunikation in ihren Nischen nicht gelernt hatten.

Dabei machen sie in der bis 1989 in Ostdeutschland herrschenden Diktatur gleich mehrere Tabus aus, die gesellschaftlich nicht artikuliert werden sollten oder durften: “Nichts wurde politisch, historisch oder juristisch aufgearbeitet: Nicht der Untergang der Weimarer Republik im teilweise gemeinsamen Kampf der politischen Extreme, nicht die Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler in der Weimarer Republik, nicht die unermeßliche Schuld des Dritten Reiches und die daraus folgende moralische und finanzielle Verantwortung für alle Deutschen und deren Nachkommen, nicht das Schicksal der Vertriebenen, nicht die Ursachen des Volksaufstandes von 1953 und schon gar nicht die Folgen der quer durch Deutschland gezogenen Todesgrenze.”

Das stimmt – in Teilen.

Und es stimmt nicht, weil alle diese Themen auch westwärts der Grenze jahrzehntelang nicht aufgearbeitet wurden. Die Aufzählung erklärt nicht die grimmige Sprachlosigkeit im Dezember 2014/Januar 2015. Bei einigen Menschen. Auch das muss man mitbedenken. Auch nach Wochen des Demonstrierens blieben die Demonstranten bei Legida und Pegida eine Minderheit.

Und den Unmut nur bei den “Untertaninnen und Untertanen” des Ostens auszumachen, verklärt das Problem. Dass im Westen bei solchen Demonstrationen weniger Menschen mitliefen, bedeutet nicht, dass die Sympathie dort geringer war. Die Wellen, die das Phänomen Pegida im Internet schlug, erzählen etwas anderes.

Nur scheinbar sah der Pegida-Spaziergang in Dresden wie ein Bittgang aus, oder wie es die neun Autoren in ihrem Bericht schreiben: “In ihren Anfängen ähnelte vieles bei Pegida in Dresden dem Wertesystem und den Vorstellungen dieser überwunden geglaubten ‘Eingabengesellschaft’. Wurde hier Demokratie als einseitige Dienstleistung seitens der Gewählten für die Wählenden (oder für die Nichtwählenden) verstanden? Als Souverän selbst etwas für das Gemeinwesen tun? Zu schwierig, zu kräftezehrend, unvorstellbar?”

Recht haben sie, wenn sie betonen:

Demokratie macht Mühe – von beiden Seiten

Aber mit der Vermutung, das Ganze sei ein spezifisch ostdeutsches Problem, könnten sie komplett falsch liegen.

Denn die Probleme im Umgang mit den Spielräumen der Demokratie gibt es in Ost und West (und anderen Ländern der EU) genauso. Überall fassen populistische Bewegungen Fuß, die vor allem damit Stimmen sammeln, dass sie für die komplizierten Probleme der Gegenwart einfache, erschreckend platte Lösungen anbieten.

Das, was die neun Autoren des Berichts an die Politiker in Sachsen gerichtet schreiben, gilt im Grunde für alle demokratisch gewählten Politiker in Europa, die sich oft genug und gern auf die unangreifbare Position des Experten und des “Machers” zurückziehen, wenn ihre Politik in die Kritik gerät: “Die auf Zeit gewählten Regierenden müssen sich fragen, was bei allem Gelingen auch schief gegangen ist. Die Regierten müssen sich fragen, was sie versäumt haben. Anders als in der DDR herrscht Meinungsfreiheit, können jederzeit Parteien gegründet werden, gibt es unzählige Möglichkeiten der Teilhabe sowie des Ein- und Mitmischens.”

Manche Probleme, die bei den diversen Demonstrationen, aber auch bei den Foren in der Volkshochschule thematisiert wurden, sind tatsächlich drängend. Wenn Menschen (selbst in einer Minderheitenposition) das Gefühl haben, dass sie auf die aktuelle Politik keinen Einfluss mehr haben, auch nicht durch demokratische Teilhabe, dann ist das ein echtes Glaubwürdigkeitsproblem für die so schwer errungene Demokratie.

Die Autoren benennen es so: “Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner sehen grundlegenden Klärungsbedarf bei: der Wahrnehmung, der Teilhabe und der Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie. Werden die Prinzipien zur Einmischung und deren Wirkungsweise überhaupt verstanden? Oder gibt es eine unüberbrückbare Distanz zwischen der Politik und der Bevölkerung? Wenn nicht, wie soll eine Vermittlung erfolgen? Sollen zusätzliche Elemente wie mehr direkte Demokratie z.B. durch Volksentscheide Eingang finden? Wenn ja, auf welcher politischen Ebene gäbe (oder gibt) es welche Handlungsoptionen?”

Leipziger Demokratieforum 2015. Screenshot, Montage: L-IZ.de
Screenshot, Montage: L-IZ.de

Das ist auch Thema in Sachsen – und in Leipzig

Und das betrifft eben auch und gerade sächsische Politik. Beim Thema Asylunterbringung ganz exemplarisch durchexerziert: Zu wenig oder sogar völlig fehlende Kommunikation sorgte dafür, dass Bürger vor Ort das Gefühl bekommen mussten, dass einfach über ihre Köpfe hinweg regiert wird.

Und das einfach mal als notwendige Einlassung: Manches an der heutigen Politik erinnert zuweilen erschreckend an die Funktionärspolitik vergangener Zeiten. Da kann man auch dieses Grummeln bei Pegida verstehen, dieses Gekränktsein und das artikulierte Gefühl, dass man “denen da oben” wieder mal nicht glauben kann.

Und das betrifft auch Medien – Thema beim letzten Forum in der Volkshochschule, wo dann auch dieser mittlerweile zum Kampfbegriff der Neuen Rechten gewordene Slogan von der „political correctness“ wieder auftauchte, gepaart mit der Frage nach der “öffentlichen Darstellung durch Medien. Hier wird besonders aggressiv hinterfragt, wem Medien verpflichtet und wovon sie wirklich abhängig sind. Gibt es in der Summe aller Medien tatsächlich keine Vielfalt? Gibt es in den einzelnen Medien keine voneinander abweichenden und sich teilweise widersprechenden Auffassungen?”, fragen die Autoren.

Eine Antwort geben sie nicht. Weil es komplizierter wird, als es sich der Bürger auf der Straße so denkt. Was auch viele engagierte Journalisten in Sachsen immer wieder merken, wenn sie besonders brisante Geschichten verfolgen und dann unverhofft vorm Kadi landen. Oder die Geschichten in ihrem Medium nicht veröffentlichen können, weil es die Geschäftsleitung nicht für opportun hält.

Es gibt wahrhaftig eine Menge zu tun, wenn es jetzt tatsächlich um Reparaturarbeiten an der gelebten Demokratie gehen soll.

Vier Empfehlungen der Autoren

Die erste ist eigentlich ein Appell an die Landes- und die Bundesregierung: endlich ein modernes Zuwanderungsrecht für Deutschland zu formulieren und das Asylrecht zu stärken.

Die Institutionen der politischen Bildung sollen evaluiert werden – auch die Schule.

Und dann ist da die Sache mit der Beteiligung: Die moderne Bürgergesellschaft muss gestärkt werden, “weil wir alle die engagierte Bürgerin und den engagierten Bürger brauchen, die beide gut wissen, was die offene Gesellschaft ihnen bietet. Sie müssen ausreichend Möglichkeiten haben mitzubestimmen, wie sich diese Gesellschaft im Rahmen des Grundgesetzes entwickelt.”

Das Demonstrationsrecht soll für alle gewahrt sein.

Und am Ende gibt’s dann noch zwei dicke Empfehlungen: Den Bürgerinnen und Bürgern wird empfohlen, von ihren demokratischen Rechten tatsächlich Gebrauch zu machen – auch wenn das oft ein zäher Prozess ist.

Und den Medien – so im allgemeinen – wird “eine Abkehr von hysterisch anmutenden Berichterstattungen und die Stärkung sachlicher Berichterstattung”, empfohlen, “damit für die Lesenden, Hörenden und Sehenden (…) wieder klarer unterscheidbar ist, was wirklich ein Bericht und was eine persönliche journalistische Meinung oder Kommentierung ist. Das Gefühl von Indoktrination führt im Zweifel zu Ablehnung des Mediums bis hin zu einer Solidarisierung mit sogar unter berechtigter Kritik stehenden Vorgängen. Die Öffentlichkeit lehnt Parteipresse genauso ab wie eine oberlehrerhaft daherkommende Beschreibung gesellschaftlicher Prozesse.”

Nächstes Forum in der Volkshochschule: Das Offene Gesprächsforum “Für ein Europa freier Bürger mit offenen Grenzen” wird mit einer Veranstaltung zum Thema “Asyl” am Dienstag, 3. März,  um 19 Uhr in der Volkshochschule Leipzig fortgeführt. Veranstalter sind die Stiftung Friedliche Revolution und das Archiv Bürgerbewegung Leipzig in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Leipzig.

Wer’s selber lesen will: der komplette Bericht als pdf zum Download.

Der Aufruf vom 9. Januar als pdf zum Download.

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