Die Erwerbsloseninitiative Leipzig (ELO) hat gemeinsam mit weiteren Initiativen zur Demo in Leipzig geblasen. Am heutigen 2. Oktober soll es vor dem Jobcenter zu einer Protest- und Informationsveranstaltung kommen, bei der es bis 12 Uhr darum gehen wird, über beabsichtigte Änderungen im SGB 2 und weiteren Sozialparagrafen zu informieren. Doch was ist eigentlich die tägliche Arbeit der ELO, was ist die "Charta der Selbstverständlichkeiten"? Und wie fühlt sich der Alltag als Mensch an, der auf Hilfe vom Staat angewiesen ist? Kathrin Rösler und die ELO im Teil 2 des L-IZ - Interviews.

Die Erwerbloseninitiative bietet mit einer Art “Begleitdienst” Alltagshilfe für die Begegnung mit dem Jobcenter. Wie funktioniert der Begleitdienst der ELO für neue Arbeitslose und warum gibt es ihn?

Der Begleitdienst ist ja nicht nur für neue Arbeitslose. Die Mitglieder der ELO begleiten sich gegenseitig. Wenn genug personelle Kapazitäten frei sind können wir auch andere Hilfesuchende begleiten. Die Rechtsgrundlage für den Beistand ist der § 13 des SGB 1. Ein Beistand darf nicht abgewiesen werden. Der Beistand ist neutraler Begleiter, er gibt moralische Unterstützung und ist aufmerksamer Zuhörer und Protokollant. Viele Betroffene erzählen, dass Gespräche mit Beistand meist viel positiver ablaufen als ohne Beistand.

Leider können wir aus personellen und Zeitgründen nicht jede Anfrage berücksichtigen. Deshalb freuen wir uns über jeden, der seine aktive Mithilfe anbietet. Jeden ersten Donnerstag im Monat bieten wir Interessierten eine entsprechende Schulung an, nicht nur für Beistände, sondern für jeden der mehr wissen will zum SGB 2.

Die Beratungssituationen und die Verschärfungen betreffen ja nicht nur die direkt Betroffenen, sondern auch die Berater an den Jobcentern. Wie sehen Sie deren Situation bei der Umsetzung der kommunalen und bundesweiten Vorgaben?

Eine ausführliche und sachgerechte Beratung findet im Jobcenter selten statt. Stattdessen erleben wir seit einigen Wochen eine verschärfte Gangart insbesondere gerade zu den Themen, die von der Bund-Länderkommission vorgeschlagen wurden. Die Einführung der Software ALLEGRO wurde zB. benutzt um Vorschüsse auf im selben Monat zu erwartende Leistungen einfach abzubügeln, teils mit hanebüchenen Begründungen.

Sie werden verstehen, dass ich für Sachbearbeiter, die wider besseres Wissen so handeln, nur mäßiges Verständnis aufbringen kann. Weiterhin bemerke ich eine zunehmende Aggressivität gegenüber Sachbearbeitern. Sind sie es doch, die diese sogenannten “Internen Anweisungen” umsetzen. Wenn die geplanten Veränderungen tatsächlich beschlossen werden, ist eine weitere Häufung von Übergriffen zu befürchten.

Das klingt nicht gut.

Durch die geplanten Einschränkungen bei Widersprüchen und Überprüfungsanträgen wird der Willkür Tür und Tor geöffnet. Jeder Sachbearbeiter, der noch ein Gewissen hat, müsste sofort seinen Job hinwerfen, zumindest sich mit den Betroffenen solidarisieren. Eine Gesellschaft wird getragen von ihrem Umgang mit den Ärmsten. Wer auf der Persönlichkeit der Betroffenen so mittels Verwaltungshandeln herumtrampelt verliert jede Achtung.

Sachbearbeiter scheinen nicht zu bemerken, dass sie aus genau dem gleichen Steuertopf leben wie die Betroffenen.
Am 2. Oktober gings ab 8 Uhr in der Frühe vors Jobcenter Leipzig zur Protestveranstaltung. Was wollen Sie konkret erreichen?

Als Erstes wollen wir erreichen, dass die sogenannten Rechtsvereinfachungen öffentlich als das bezeichnet werden was sie sind: Rechtsverschärfungen, Rechtseinschränkungen, Sonderrechtszone SGB 2 fern vom Grundgesetz. Diese Vorschläge zeugen von dem abwertenden Bild der Verwaltung gegenüber den Betroffenen.

Diese Vorschläge dürfen nicht Gesetz werden! Auch wenn es für unter 25jährige kleine Erleichterungen geben soll, so bleibt doch das Unrechtssystem Sanktion weiter bestehen und soll gar noch verschärft werden.

Wir wollen erreichen, dass das Leipziger Jobcenter und jedes Jobcenter in diesem Land die Charta der Selbstverständlichkeiten annimmt und verinnerlicht. Diese Charta will keine Sonderrechte einfordern, sondern nur normales menschliches verantwortungsbewusstes und gesetzmäßiges Handeln der Mitarbeiter. Jeder Mitarbeiter im Jobcenter sollte sein Gegenüber so behandeln, wie er selbst behandelt werden möchte.

Die Charta der Selbstverständlichkeiten – was versteht Ihr als ELO darunter?

Selbstverständlich für jedes Jobcenter sollte sein, ein Klima des Willkommens, ein freundlicher Umgangston und Hilfsbereitschaft zu schaffen – nach dem Motto: Hartz IV und Sozialhilfe: Ihr gutes Recht! Selbstverständlich sollten sein: gute Beratung und schnelle Hilfe durch gut qualifizierte Mitarbeiterinnen in ausreichender Zahl und natürlich eine umfassende Information über zustehende Leistungen (z. B. Warmwasserkosten). Und eine vollständige Ermittlung des Hilfebedarfs eines Menschen.

Selbstverständlich sollte sein, dass es Möglichkeiten für persönliche Vorsprachen ohne langes Warten und schnelle und umfassende Hilfen in dringenden Fällen gäbe. Oder eine Eingangsbestätigung für eingereichte Anträge und Unterlagen bekommt Mensch ganz automatisch. Natürlich werden Termine nach Absprache und nicht von oben angeordnet und die Beistände für die Betroffenen sind überall willkommen.

Ganz selbstverständlich geht es um Angebote zu hochwertigen beruflichen Hilfen, die eine Perspektive bieten und freiwillig sind. Und dass Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, ohne Wenn und Aber und ohne Abstriche gewährt werden. Hilfen zur Überwindung von Sprachbarrieren (einschließlich der Kostenübernahme für Dolmetscher) ist auch eine der Selbstverständlichkeiten.

Was habe ich vergessen zu fragen, was Ihnen als Initiative wichtig ist?

Wenn technischer Fortschritt so manchen Arbeitsplatz überflüssig macht, dann darf der Mensch nicht darunter leiden. Dann müssen die Gewinne aus dem Fortschritt der Existenzsicherung der Überflüssigen dienen. Es wird keine ausreichend bezahlte Arbeit mehr für alle geben. Von daher ist der ganze Irrsinn mit dem SGB 2 eine einzige Verschleierung der wirklichen Situation auf dem Arbeitsmarkt. Es hat sich eine ganze Armutsindustrie um dieses System herum gebildet, die hervorragend funktioniert. Auf Kosten der Steuerzahler und der Betroffenen.

Also eine Grundsicherung gänzlich frei von Sanktionen?

Eine sanktionsfreie Grundsicherung könnte den Betroffenen ein Stück weit ihre Würde zurückgeben. Den so gewonnenen Freiraum kann jeder so gestalten wie er will. Ob durch Ehrenamt, Weiterbildung, künstlerische Beschäftigung oder Minijobs. Auf jeden Fall würde niemand mehr durch dieses herabwürdigende System erkranken und stünde dem Arbeitsmarkt weiter zur Verfügung.

Info: Die Demonstration am Donnerstag, den 2. Oktober vor dem Jobcenter Leipzig war der Höhepunkt der bundesweiten Aktionswoche, die unter anderen von der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), der Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen (BAG PLESA), dem Erwerbslosenforum Deutschland, dem Netzwerk und der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), der Initiative Soziales Europa, Tacheles e.V. Wuppertal und den ver.di-Erwerbslosen getragen wird. Die Erwerbsloseninitiative Leipzig e. V., die Autonome Erwerbsloseninitiative und die Erwerbslosenberatung Zweieck haben sich angeschlossen.

Mehr Informationen, Treffen und Unterstützungsangebote für Erwerbslose unter

www.elo-leipzig.de

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