Am Samstag, 27. April, lud die Kiezvernetzung West zu einer Podiumsdiskussion zum Thema Gentrifizierung, aktueller Stand karlhelga und Kiezvernetzung im Rahmen eines Straßenfestes im Leipziger Westen ein. Die Teilnehmer/-innen deckten in ihren Themen ein Spektrum an Erfahrungen mit urbanen Verdrängungsprozessen ab. Dabei ging es unter anderem um den Erhalt von selbstverwalteten Freiräumen sowie bezahlbaren und alternativen Wohnraum, den Umgang mit Räumungs- oder Entmietungsdruck und die kritische Teilhabe an der Entwicklung des eigenen Stadtteils.

Bei den persönlichen Schilderungen schwieriger Mietsituationen mit Eigentümer/-innen und Immobilienunternehmen, die vor nichts zurückschrecken, um Profit mit Wohnraum zu machen, wurde die Belastung spürbar. So kämpft etwa eine ganze Hausgemeinschaft in Lindenau seit Jahren um ihr Zuhause.

Dabei gingen die Mietverträge aus dem ehemaligen Leipziger Leuchtturmprojekt Wächterhaus hervor. Diese sollen nun in neoliberale Nutzungsverhältnisse überführt werden. Die fragwürdigen Mittel der Eigentümer/-innen hierfür umfassen u. a. Klage und Entmietung, ständige Mieterhöhung für unsanierten oder selbst ausgebauten Wohnraum und die Befristung der alten Mietverträge.

Entmietung im Westen

Von einer ähnlichen Situation berichten auch Bewohner/-innen eines Mietshauses in Plagwitz. Die Reaktionen auf den ersten befristeten Mietvertrag im Haus waren Überraschung und Frustration, bis hin zu Angst, als nächstes betroffen zu sein. Mittlerweile ist klar: In den nächsten Jahren sollen alle ausziehen, jeder neue Mietvertrag wird zeitlich befristet.

Die Eigentümerin plant eine erneute Sanierung des Hauses mit dem Ziel, die Mieten noch weiter zu erhöhen. Es ist keine unbedingt notwendige Entkernung, es ist eine reine Luxussanierung. Dabei holen sie und die Hausverwaltung jetzt schon so viel Geld aus den Mieter/-innen, wie sie können: Indexmietverträge sichern die jährlichen Mieterhöhungen und der Quadratmeterpreis liegt weit über dem Mietspiegel.

Geplant ist außerdem die Vermietung des Hinterhofs als kommerzielle Parkfläche. Geld und Energie könnten sie stattdessen viel lieber in neue, dichte Fenster und die Entwässerung der schimmelnden Wände stecken.

Straßenfest im Leipziger Westen. Foto: Paul Bressel
Straßenfest im Leipziger Westen. Foto: Paul Bressel

Höhere Mieten betreffen aber nicht nur direkt die Bewohner/-innen des Hauses. Sie haben auch unmittelbare Folgen für angrenzende Häuser und das ganze Viertel, wo die Mietpreise von Immobilienfirmen immer weiter in die Höhe – sie würden es „angepasst“ nennen – getrieben werden.

Ironischerweise kommentierte Susanne Schaper, Landesvorsitzende von Die Linke am Tag der Podiumsdiskussion online, dass „das Amtsgericht gerade den bewussten Verrat der Landesregierung unter Kretschmer an Mieterinnen und Mietern, nicht nur in Leipzig, bestätigt.“

Zu den Hintergründen des ausgehebelten Mietpreisgesetzes in Sachsen.

Auf die Frage zur aktuellen Situation von karlhelga, schilderte eine Bewohner/-in was hier erreicht wurde, seitdem die CG die Fläche vor drei Jahren kaufte. Dies erfolgte wenig transparent in der Coronazeit, über das Kaufinteresse der Nutzer/-innen hinweg. Kaum jemand sah Handlungsoptionen. Auch stadtpolitisch schien die soziale, kulturelle, ökologische und ökonomische Bedeutung des selbstverwalteten Freiraums im Kiez, gegenüber neuen Gewerbestandortversprechen der CG, gering.

Die Bewohner/-innen waren der Ungewissheit, dass jeden Tag die Kündigung und Räumung kommen könnte, ausgeliefert. Glücklicherweise gewannen aber weder Lethargie, berechtigte Wut, noch Angst angesichts der Ohnmacht.

Nicht klein beigeben

Was konnte getan werden? Vor allem weitermachen. Regelmäßig niedrigschwellige Veranstaltungen, wie Konzerte und Essen für alle ehrenamtlich organisieren. Auch größere Kiez- und Straßenfeste, wie 2021 das Zirkusvarieté, Beatz im Kiez oder das 15-jährige karlhelga Jubiläum im Jahr 2023.

Gleichzeitig begannen die Bewohner/-innen, ein Netzwerk zur Stadtpolitik aufzubauen. Über den Austausch mit politischen Akteur/-innen in Leipzig – die mit der SPD, Die Linke, den Grünen und Fraktionslosen eine wichtige, progressive Mehrheit im Leipziger Stadtrat bilden –, konnte Schritt für Schritt politisch nötiges Handwerkszeug erarbeitet werden, um mit gesellschaftlichen Anliegen gehört zu werden.

Dies gelang letztes Jahr mit der Petition. Zunächst ging es hier vor allem um ökologische Aspekte, wie das Stadtklima und noch nicht um Kultur und die soziale Bedeutung, die karlhelga, als Wohnraum für 60 Menschen und Veranstaltungsort im Viertel und darüber hinaus zukommt. Im Sinne des von der Stadt ausgerufenen Klimanotstand wurde das Ziel formuliert, die Grünfläche, Bäume und Biodiversität vor Bebauung zu schützen.

Wagenplatz karlhelgas - Freiräume im Kiez erhalten. Foto: Paul Bressel
Wagenplatz karlhelga –Freiräume im Kiez erhalten. Foto: Paul Bressel

Karlhelga selbst resümieren wie folgt: „Von der Wirkung einer Petition, waren wir selbst überrascht. Unser Dank gilt allen, die im September unterschrieben haben! Dank der unfassbar großen Unterstützung mit über 10 tausend Mitzeichnenden, wurde sie zur meistgezeichneten Onlinepetition, die es je in Leipzig gab. Dieser breite Rückhalt in der Bevölkerung war die demokratische Legitimation für unseren jahrelangen Einsatz für den Erhalt von karlhelga.

Die große Beteiligung hat auch die Stadtpolitik beeindruckt und galt als Zeichen und Hoffnungsschimmer in Zeiten sozialer Spaltung und Politikverdrossenheit. Vor allem als es zeitgleich mit dem Stadtratsbeschluss im Februar zu bundesweiten Protesten gegen die Hetze von rechten Akteur/-innen wie AfD kam. Für das Ergebnis der Petition stimmten dann am Ende 40 von 60 Stadträt/-innen, alle außer AfD und CDU.

Dies ermöglichte einen Interessensausgleich zwischen dem Eigentümer, dem Stadtklima und den Nutzer/-innen. Nach drei Jahren haben die Bewohner/-innen von karlhelga erreicht, dass sie auf Augenhöhe am Verhandlungstisch über die Zukunft der Fläche mit entscheiden können.”

Jede Freifläche ist wichtig

Aktuell werden im Rahmen der Verhandlungen, Gutachten erstellt, um Baumbestand, Artenvielfalt und Kaltluftentstehung zu verifizieren. Sie setzen sich weiterhin dafür ein, den selbstverwalteten Freiraum karlhelga, als Veranstaltungsort und Wohnraum im Kiez zu erhalten oder zumindest das Biotop vor Bebauung zu schützen! Und hoffen, die Fläche zu einem realistischen Preis kaufen zu können.

Derzeit hängt für viele Projekte einiges davon ab, wie die Wahlen am 9. Juni ausgehen, denn auch dank der progressiven Mehrheit im Stadtrat sind sie so weit gekommen. Leipzig kippt nicht! (Wählt und wer zur Fusion fährt, denkt daran, Briefwahl zu beantragen).

Als Grundlage für die Petition dienten auch die Ergebnisse der Stadtklimaanalyse von 2021. Darin wurde letzten unbebauten Grünflächen, wie der von karlhelga eine „sehr hohe Schutzwürdigkeit“ zugeschrieben.
Genau das trifft auch auf das Jahrtausendfeld zu, denn: „Dem Schutz und Erhalt dieser Grünflächen sollte eine sehr hohe Priorität beigemessen werden und grundsätzlich eine Bebauung ausgeschlossen werden.“

Der Grund für die Schutzwürdigkeit besteht darin, dass Freiflächen angesichts der Hitzebelastung in der Stadt schon jetzt zur Verbesserung der Luftqualität und zur Reduzierung der Sommerhitze beitragen.

Deshalb haben auch hier aktuell Anwohner/-innen eine Petition gestartet, um das Areal als gemeinwohlorientierte Fläche zu erhalten. Die Menschen wollen einen Stadtteilpark für alle, statt eine gigantische Privatschule im Schnellverfahren, ohne Bebauungsplan und Beteiligungsmöglichkeit. Das zudem im Widerspruch zu dem Stadtratsbeschluss von 2021 steht und auf Kosten von Stadtklima und Lebensqualität ginge. Zumal sich den Schulbesuch, mit im Durchschnitt 950 Euro Monatsbeitrag, kaum jemand im Viertel leisten kann.

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