„… denn er war deeskalierend“: So beendete René Demmler den Satz. Fast drei Wochen nach dem Einsatz sieht er sich genötigt, zu den Vorfällen rund um den Tag X im Lina E.-Prozess Aufklärung zu leisten und Stellung zu beziehen. Mit Deeskalation meint Demmler die Demonstration am Alexis-Schumann-Platz, die nicht loslaufen durfte. Nach kurzweiligen Angriffen auf die Beamten zogen diese einen Kessel um geschätzt 1000 Menschen und hielten sie rund 11 Stunden über Nacht fest. Für viele gibt es gute Gründe, Demmlers Einschätzung nicht zu teilen.
Im Ergebnis der Einsätze rund um den berüchtigten Tag X wurden zwölf Haftbefehle erlassen, sechs davon vom im Kontext des Kessels am Alexis-Schumann-Platz. Elf Personen sind mittlerweile auf freiem Fuß, der dringende Tatverdacht besteht jedoch nach Angabe der Behörden in allen Fällen weiter. Die Daten der Personen aus dem Kessel wurden wegen eines Anfangsverdachts des schweren Landfriedensbruchs an die Staatsanwaltschaft übergeben.
Laut eigener Einschätzung der Polizei am Anfang der Kundgebung seien jedoch nur 200 bis 300 tatsächlich gewaltbereite Personen Teil der etwa 2000 Menschen umfassenden Demo gewesen. Die Gewaltbereitschaft zeigte sich laut Polizei durch Vermummen und das Aufheben von Steinen. Wie viele dieser Personen im Kessel waren, ist unklar, solange Ermittlungen noch laufen. Vorbereitet hatte sich die Polizei auf insgesamt 4000 Demo-Teilnehmende.
Bedrohungslage Antifa?
Laut Demmler seien auch einige Menschen, die im Kessel ID-behandelt wurden, im Kontext von G20-Protesten bereits registriert worden. Kritiker werfen der Polizei eine eigene Taktik vor: Man wollte demnach möglichst viele Personen, von denen sich nur ein kleiner Teil nachweislich strafbar gemacht haben kann, erfassen, um im Nachhinein rasterfahndungsähnlich vorzugehen. Denn womit die Polizei momentan beschäftigt sein dürfte, ist die Auswertung von Bild- und Videomaterial der Ereignisse, zumindest rund um Tag X.
Ob das aus Polizei- oder Strafverfolgungsperspektive ein „guter Einsatz“ ist, lässt sich also diskutieren. Das Narrativ von einem „brutalen Höhepunkt linksextremistischer Gewalt in Leipzig“, wie es Ronny Wähner nannte, innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag, dürfte für viele aber schwerlich haltbar sein.
Auch Armin Schusters Zunahme der linken Gewalt lässt sich in die Geschehnisse nicht hineininterpretieren. Eine internationale Vernetzung jedenfalls scheint sich nicht nachweisen zu lassen: Nur zwei Prozent der Personen im Kessel waren aus anderen Ländern. 38 Prozent waren aus Leipzig, sieben Prozent aus dem Rest von Sachsen und 51 Prozent aus anderen Bundesländern.
Situation im Kessel
Was René Demmler in sein „gut“ kaum einfließen lässt, ist die Situation der betroffenen Menschen im Kessel. Deren geschilderte Erlebnisse stehen der Erzählung, alles sei in Ordnung gewesen, deutlich entgegen. Dass Demmler dazu nun detailliert in einer Presseinformation und im Sächsischen Innenausschuss Stellung bezog, ist das Resultat der Kritik an diversen polizeilichen Maßnahmen in Presse und auf Social Media.
Dabei ging es vor allem um die Länge des Kessels, die unmenschlichen Bedingungen für die Eingeschlossenen, zu denen sogar Amnesty International Stellung bezog, Minderjährige in der Maßnahme sowie diverse Übergriffe.
Man habe natürlich Fehler gemacht, räumt Demmler ein. Zum einen habe man die Zahl der Menschen im Kessel unterschätzt. Die Polizei war zu Anfang von ungefähr 300 anstatt den tatsächlichen 1000 Menschen ausgegangen. Durch die Büsche und Bäume im Park, wo gekesselt wurde, sei das nicht zu erkennen gewesen. Man habe die ID-Behandlung dann beschleunigen müssen, um innerhalb der erlaubten 12 Stunden zu bleiben.
Außerdem habe man unzureichend kommuniziert. Man habe nicht klargemacht, ob und wo Toiletten, Trinkwasser und Essen zur Verfügung stehen, denn das habe man alles bereitgestellt, und dass Minderjährige sich priorisiert melden sollen. Betroffene der Kessel-Nacht berichteten, sie hätten keine Kommunikation durch die Polizei wahrgenommen. Laut Demmler wiederum seien die Kesselinsassen nicht zur direkten Kommunikation bereit gewesen.
Umgang mit Minderjährigen
Ein Lautsprecherwagen sei zumindest nicht verwendet worden, so Demmler. Man habe auch im Vorfeld ausreichend klargemacht, dass Unbeteiligte sich entfernen sollen, um einer Maßnahme zu entgehen. Entgegen zahlreicher Berichte sei es laut Demmler zu Anfang des Kessels noch möglich gewesen, zu gehen. Es habe sich dann aber niemand mehr freiwillig gemeldet. Auch das bestreiten Kessel-Betroffene und Beobachter*innen. Beweise, wie Bild- oder Videoaufnahmen, lieferte der Polizeipräsident keine.
Minderjährige habe man bei Intervention von Eltern und Anwält*innen aus dem Kessel geholt, diese hätten jedoch teilweise von sich aus bleiben wollen. Man habe bei allen Minderjährigen in Maßnahmen die Eltern zumindest informiert.
Auch da sei deeskalierend gehandelt worden. Den Großteil der Versorgung der Kessel-Insass*innen habe man deshalb den Demo-Sanis überlassen. Nun habe man die Kritik am Bein. Vorläufiges Fazit: Unabhängig von der Frage nach individueller Schuld oder Unschuld scheint die Situation der eingekesselten Menschen für die Polizei vor Ort kaum eine Rolle gespielt zu haben. Zumindest sind starke Zweifel angebracht. Die Debatten dürften weitergehen.
Detaillierte Zahlen der Polizei, Stand 22. Juni 2023:
Im Kessel am Alexis-Schumann-Platz befanden sich 87 Jugendliche, davon wurden sechs in den zentralen Polizeigewahrsam in der Dimitroffstraße verbracht. Zwei 13-jährige Kinder wurden an Sorgeberechtigte übergeben. Insgesamt stellte die Staatsanwaltschaft 13 Haftanträge, von denen zwölf in Haftbefehle mündeten. Fünf der Anträge resultierten aus dem Geschehen in der Nacht vom 2- zum 3. Juni, sie wurden direkt außer Vollzug gesetzt. Acht Haftanträge stammen vom 3. Juni, davon betrafen sechs Beschuldigte aus dem Kessel. Ein Antrag wurde abgelehnt, zwei gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt und drei Haftbefehle wurden erlassen. Zwei Haftbefehle betrafen Sachverhalte unabhängig von der Umschließung. Alle zwölf Haftbefehle sind außer Vollzug gesetzt, keiner ist aufgehoben worden.
Empfohlen auf LZ
So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:
Keine Kommentare bisher