Dienstag, 4. April 2023, 17 Uhr, der Fachausschuss „Stadtentwicklung und Bau“ tagt und das wie gewohnt „intern“. Die Stadtverwaltung wähnt sich demnach sicher, dass sie die Kommunikationshoheit über die Maßnahmen behalten wird, welche sie auf Beschluss des Stadtrates hin für die Neuregelungen des Verkehrs entlang der Frontlinie des Leipziger Hauptbahnhofes vorbereitet hat. Und nun auch mangels zeitnaher Alternativlösungen für den aus ihrer Sicht als Unfallhäufungsstelle erkannten Verkehrsknoten umsetzen will.

Bereits wenige Stunden später ist dank „Durchstechereien“ von „intern“ nicht mehr viel übrig: Statt der Stadtverwaltung übernimmt die LVZ nun in einer regelrechten Artikelkampagne aus Kommentaren, Skizzen und „Faktenchecks“ über die Osterfeiertage die Öffentlichkeitsarbeit gegen die Maßnahmen. Und schürt dabei die Ängste der vorgeblich von bösartigen Einschränkungen betroffenen Autofahrer/-innen noch bevor die Bau- und Malerarbeiten begonnen haben.

Mehr oder minder deutlich ist zwischen den Zeilen herauslesbar, es handele sich um pure Ideologie gegen rund 230.000 private und rund 30.000 wirtschaftlich genutzte Fahrzeuge in Leipzig. Auch einer – bei Verkehrsmaßnahmen nicht vorgesehenen – Bürgerbeteiligung wird ebenso das Wort geredet, wie einer – trotz eines klaren und alternativlosen Prüfauftrages des Rates – angeblichen Nichtbeteiligung des Stadtrates zum Thema.

Dabei sind die Fakten der behördlich angeordneten Verkehrsmaßnahmen selbst simpel: Aus einer vierspurigen „Autobahn“ für Pkws sollen in Ost-West-Richtung zwei Spuren werden und ein Radweg von hier über die Höhe Gerberstraße hinweg bis zur Löhrstraße entstehen.

Dazwischen, entlang der gesamten Breite des Hauptbahnhofes, eine Spur, welche die Ein- und Ausfahrt vor allem für Taxiunternehmen auf den Bahnhofsvorplatz ermöglicht. Um die Spurverengung vor dem Hauptbahnhof zu realisieren, sollen beide Ampelanlagen an der Brandenburger Straße und auf dem Georgiring Höhe Messehochhaus für jeweils zwei Fahrspuren wechselnd auf Grün schalten.

Und die Mischnutzung eines Fußweges entlang des Hauptbahnhofes durch Bahnreisende und Radfahrer/-innen samt Zusammenprall an gleich drei Fußgängerampeln soll beendet werden.

Hinzu kommt ein Urteil des Oberverwaltungsgerichtes Bautzen aus dem Jahr 2018, in welchem das OVG festlegt, dass Radfahrenden die Benutzung des Ringes gewährleistet werden muss.
Schon damals, noch unter Baudezernentin Dorothee Dubrau, ist klar: Eine Ringnutzung ist ohne abmarkierte Radwege für die Zweiradnutzer die pure Unfallgefahr.

Wie hoch war der Druck für Veränderungen wirklich?

Hier treffen Radfahrer/-innen bei Grünphasen regelmäßig auf wartende Fußgänger/-innen beim Übergang zwischen der LVB-Zentralhaltestelle und dem Bahnhof. In den Stoßzeiten des Berufsverkehrs kommt es hier an drei Fußgängerampeln zu waghalsigen Ausweichmanövern der bis zu 35 km/h schnellen Verkehrsteilnehmer/-innen auf zwei Rädern um die Menschentrauben herum. Und manchmal auch in sie hinein, der Fokus der Fußgänger/-innen ist an diesen Stellen auf die Ampel und den Gehwegrand gerichtet, an welchem sie Hindernis für den Radverkehr werden.

Gründe für die Neuregelungen vor allem im Pkw-Verkehr hat das von Baubürgermeister Thomas Dienberg (Grüne) geführte Verkehrs- und Tiefbauamt der Stadt Leipzig (VTA) an diesem 4. April 2023 also einige. Vor allem aber die, laut Polizei, 24 ähnlich entstandenen Pkw-Auffahrunfälle aufgrund der nötigen Spurwechsel auf dem vierspurigen Teilstück in den drei Jahren von 2020 bis 2022. Und dies trotz zurückgegangenem Pkw-Verkehrs auf nur noch 20.000 Autos täglich an dieser Stelle des Leipziger Stadtringes.

Was ist eine innerstädtische „Unfallhäufungsstelle“ laut Verkehrsministerium in Sachsen? Grafik: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.
Was ist eine innerstädtische „Unfallhäufungsstelle“ laut Verkehrsministerium in Sachsen? Grafik: Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.

Die rechtliche Begründung für die Neuregelung glaubt man beim VTA in der sogenannten „Unfallhäufungsstelle“ auf der Autofahrbahn gefunden, einer Rechtsvorschrift, die in Sachsen für alle 60 Unfallkommissionen im Freistaat mit gleichen Grenzwerten geregelt ist. Dass diese Regelung für Unfallhäufungen in geschlossenen Ortschaften wie Leipzig in einem „Merkblatt“ aus dem Jahr 2012 weitab der sonstigen Gesetze komplizierter zu finden ist, als man glauben möchte, wird am 19. April 2023 zu einer Eierei im Stadtrat führen, die Thomas Dienberg mit seinen diffusen Antworten noch verstärken soll.

Denn definiert werden die Unfallhäufungsstellen in Sachsen durch den „Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.“. Durch die Anerkennung des Freistaates Sachsen im Jahr 2013 erlangten die Zahlen der Versicherer aus dem Jahr 2012 quasi gesetzliche Wirkung – vorgegeben durch jene, die die Unfallschäden regulieren, also auch die Blechschäden am Hauptbahnhof bezahlen mussten, beobachtet durch die Polizei und diskutiert in den Unfallkommissionen Sachsens.

Auf mehrfaches Nachfragen der LZ hin erklärt eine Pressesprecherin des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr (SMWA) am 28. April 2023 zu den rechtlich bindenden Regelungen: „Bei der Erkennung von Unfallhäufungsstellen innerorts wird sowohl örtlich zwischen Unfallhäufungsstellen im Knotenpunktbereich und auf der freien Strecke als auch hinsichtlich der Schwere in leichte und schwere Unfallhäufungsstellen unterschieden“. Dabei würden „schwere Unfallhäufungen (…) innerorts identifiziert, wenn sich in einem Dreijahreszeitraum fünf Unfälle mit Personenschaden ereignen“.

Bei den „leichten“ Unfällen ohne Personenschaden am Knotenpunkt Hauptbahnhof müssten sich jedoch „zur Erreichung des Grenzwertes für leichte Unfallhäufungsstellen innerorts (…) im Einjahreszeitraum fünf Unfälle gleichen Unfalltyps in dem in der Tabelle beschriebenen Ausdehnungsbereich ereignen“.

Dieser „Ausdehnungsbereich“ ist laut mitgelieferter Tabelle des „Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V.“ 50 Meter lang, was auf der ca. 100 Meter langen Teilstrecke am Hauptbahnhof zu seltsamen Rechnungen führt. Für 50 Meter sind die 24 Auffahrunfälle in drei Jahren und demnach acht gleicher Art pro Jahr absolut ausreichend. Selbst bei 75 Metern „genügen“ die Zahlen noch knapp den Vorgaben.

Für 100 Meter verdoppelt sich der Grenzwert für Sachsen hingegen auf 10, also 30 gleiche Unfälle in drei Jahren und somit ganze sechs dieser Art am Hauptbahnhof zu wenig.

Es hängt also zumindest juristisch vieles davon ab, ob die Strecke, auf welcher sich die 24 Auffahrunfälle in den Jahren 2020 bis 2022 abspielten, nun 50, 75 oder über 100 Meter Länge aufweist. Bei 75 Metern musste die Stadt Leipzig reagieren, bei 100 Metern wäre die Zahl der ähnlichen Unfallgeschehen nicht ausreichend, um zumindest rechtlich als Begründung zu genügen.

Noch kurioser wird es, wenn man alle Unfälle der Jahre 2020 bis 2022 in den Blick nimmt. Die dann über 50 Unfälle nicht gleichen Hergangs vor dem Hauptbahnhof genügen dem Gesetzgeber vollauf, hier Veränderungen zu fordern.

Denn nicht selten entstehen auch Unfälle anderer Art als die des Auffahrens durch eine generelle Unübersichtlichkeit der Situation. In diesen unübersichtlichen Situationen, wie die hier nötigen Spurwechsel und die daraufhin abgelenkte Aufmerksamkeit der Autolenker/-innen, leidet immer auch der Blick für kreuzende Menschen zu Fuß und Rad oder ein- und ausfahrende Taxen ebenso, wie auf eine bereits von grün auf „dunkelgelb“ gesprungene Ampel.

Was die Neuregelung bereits zeigt

Dass der sonst gern von rechts bis konservativer Seite herangezogene „gesunde Menschenverstand“ hingegen genügen müsste, auch den 24 Auffahrunfällen durch Spurwechsel mit der deutlichen Reduktion der Spuren zu begegnen, steht auf einem anderen Blatt.

Durch den Wegfall der Notwendigkeit von einem beispielsweise linken Einbiegen auf die Strecke vor dem Bahnhof binnen von 50 bis 150 Metern über zwei Spuren hinweg auf eine rechte Abbiegerspur zu wechseln, wird die Strecke schon jetzt in den sozialen Netzwerken von Autofahrer/-innen mit nur noch zwei Spuren als vielleicht etwas langsamer, aber sicherer beschrieben.

Probleme machten die mit der Neuregelung auf etwa zwei bis drei Ampelphasen, welche es nun im Berufsverkehr benötige, um auf die Strecke vor dem Hauptbahnhof einzubiegen – tagsüber rollt der Verkehr bereits weitgehend einschränkungsfrei.

Vor allem in der organisierten „Radfahrer-Bubble“ der Stadt hingegen herrscht bereits einhelliger Jubel über den mittlerweile grün abmarkierten Radweg an dieser Stelle und der Pläne, ihn bis Ende 2023 zur Löhrstraße fortzuführen und zukünftig auch in beide Fahrtrichtungen nutzbar zu machen.

So wird zumindest entlang des mittlerweile wieder in der Sanierung befindlichen „Hotel Astoria“, über die Gerberstraße hinweg zur Löhrstraße die Mischnutzung zwischen Radfahrer/-innen und Fußgänger/-innen beendet. Auch diese Neuregelung wird nach ihrer Einführung Zeit brauchen, bis sich die tatsächlichen Effekte zeigen und die Nutzung des Radweges zunimmt: Gewohnheiten, auch die von Radfahrer/-innen, verändern sich nur langsam.

Ein Versprechen aus dem Jahr 2018

Obwohl die neuen Regelungen am Leipziger Hauptbahnhof weitgehend funktionieren, heißt es bei der Handwerkskammer, der Geschäftsführer Volker Lux (CDU) bekäme erhöhten Puls, wenn man das Thema anspreche.

Auf Nachfrage der LZ erklärt der oberste Interessenvertreter des Leipziger Handwerks am Telefon und schriftlich nicht nur seinen Blick auf das Verkehrsgeschehen. Seit 2018 warte man nun auf die seitens des Verkehrs- und Tiefbauamtes versprochenen Prüfungen großer Infrastrukturmaßnahmen. Und sei entsetzt, dass laut der Leipziger Verwaltung noch nicht einmal mit den Prüfungen begonnen wurde.

Aktuell verspricht die Leipziger Verwaltung die ersten Ergebnisse bis 2025, also ein Jahr nach der anstehenden Stadtratswahl, welche voraussichtlich im Mai 2024 die Mehrheiten im Rat neu mischen und der CDU mehr Einfluss bringen könnte.

Hier liegt wohl auch der Grund, dass die bereits im Wahlkampf befindliche CDU-Fraktion in der Januarsitzung dieses Jahres den Ratskompromiss zum „Nachhaltigkeitsszenario“ aufkündigte und durch Stadtrat Claus-Uwe Rothkegel ankündigen ließ, man fühle sich seitens seiner Partei „an unsere damalige Zustimmung zum Nachhaltigkeitsszenario nicht mehr gebunden“ und werde „damit zusammenhängende Anträge ablehnen“.

Unter den nun seit fünf Jahren nicht geprüften Groß-Szenarien für Leipzigs Verkehr ist auch der von seiner Partei immer wieder ins Gespräch gebrachte Ausbau des „Mittleren Rings“ für Autofahrer zur Entlastung des Innenstadtverkehrs. Gegner der Idee halten sie längst für ausgeschlossen, da der äußere Ringschluss nahezu zwangsläufig durch Teile des Auwaldes führen müsste. Aber auch eine neue, vermutlich milliardenteure Ost-West-Tangente der S-Bahn unter Anbindung des Zentralstadions und der Arena ist unter den ungeprüften Perspektiven.

„Besonders enttäuschend ist der Sachverhalt, dass unsere Bemühungen beim Ministerpräsidenten, dem wir eine Finanzierungszusage für die Studien ‚abgerungen‘ haben, damit obsolet wurden“, so Lux. Ohne diese Prüfungen und den mangelnden Investitionen in die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) werde aus dem „Nachhaltigkeitsszenario“ zunehmend ein „Radszenario“, so immer öfter der Ruf aus der Opposition im Rat, seiner CDU.

Wenn es nach ihm gehe, hätte statt der jetzigen Lösungen am Hauptbahnhof „auch die Zentralhaltestelle der LVB weitere Spuren der Fahrbahnen bekommen können, um sie auszubauen“, zeigt sich Lux auch gegenüber neuen Verkehrslösungen für den ÖPNV am längst zu klein gewordenen Bahnknoten Willy-Brandt-Platz im Gespräch mit der LZ offen.

Eine Beschwerde, die noch etwas dauert

An seiner bereits via LVZ verkündeten Dienstaufsichtsbeschwerde bei der Landesdirektion Sachsen arbeite Volker Lux noch, der „Prüfvorgang zur Beschwerde“ sei noch „nicht abgeschlossen. Grundsätzlich kann es darin um die Befugnisnorm für die verkehrsrechtliche Anordnung, die Priorisierung von Maßnahmen zur Behebung von Unfallschwerpunkten oder auch zuwendungsrechtliche Sachverhalte gehen“, so Lux zu den verschiedenen Dimensionen seiner möglichen Eingabe bei der Aufsichtsbehörde.

Während die Priorisierung gegenüber anderen Unfallhäufungsstellen in Leipzig angesichts des erwiesenen Handlungsdrucks von rund 50 Unfällen in drei Jahren und dem OVG-Urteil zum Radverkehr auf dem gesamten Ring eher ein kleiner Hebel sein dürfte, schwingt im Rest die Frage mit, ob die Stadtverwaltung Leipzig mit der Verminderung der Spuren auf der Bundesstraße 87 über ihre Zuständigkeit hinaus gehandelt hat. Und so gegen eventuelle Auflagen bei der einstigen Förderung der Fahrbahnen durch übergeordnete Entscheidungsebenen wie das Land Sachsen und dem Bund verstoßen haben könnte.

Formalien, welche an der „Inneren Jahnallee“ noch für die Entfernung der parkenden Autos auf einer Bundesstraße sprachen, könnten sich hier durch die Wegnahme zumindest einer fest markierten Radspur gegen die Stadtverwaltung wenden, wenn der 20 Jahre wirkende Förderbescheid für die „Autobahn“ vor dem Hauptbahnhof noch nicht ausgelaufen ist. Und seither den Platz für den ÖPNV und den Radverkehr nimmt, während die bahnfahrenden Leipzig-Besucher/-innen an den Ampeln warten müssen.

Ob das Zurückdrehen einer Regelung, deren Kritikern angesichts des derzeitigen Funktionierens nur noch bleibt, objektiv nicht vorhandene Staus herbeizureden, der richtige Weg ist, bleibt dabei offen. Vielleicht ein Thema, was im Mai bei der nächsten Ratsversammlung in einer weiteren Aktuellen Stunde rings um den Hauptbahnhof angesprochen und fachlich statt Geschrei debattiert wird.

Zum „Kommentar: Ideologie und „Ideologie“ oder eine Frage des Geldes“.

„Von der Auto- zur Radstadt: Verkehrswende am Hauptbahnhof“ erschien erstmals im am 30. April 2023 fertiggestellten ePaper der LEIPZIGER ZEITUNG (hier frei verfügbar).

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