In seiner Stadtratsrede am 18. Januar 2023 bemängelte Claus-Uwe Rothkegel im Namen seiner CDU-Fraktion einen „ideologischen Zwang“, etwa wenn Fahrspuren für Autos entfernt würden, um Bürger/-innen zu einem anderen Nutzungsverhalten zu „nötigen“. Ganz so, als ob die Nutzung eines privat gekauften Verbrenners vollkommen zwangsfrei sei.

Und Autofahrer/-innen nicht immer auch parallel dazu zumindest temporäre Rad- und Straßenbahnnutzer/-innen sein können. Immerhin stehen in Leipzig den 230.000 gemeldeten privaten Pkws auch etwa ein Rad pro Einwohner/-in, rund 135 Millionen jährlichen Beförderungen (2022) der LVB bei 118.000 Dauerkunden gegenüber.

Längst ist auch Autolenker/-innen dabei klar, dass jede kommende Lösung zum Beispiel für Massenevents wie Fußball, Großkonzerte und andere Festivitäten am Stadion nur über den ÖPNV funktionieren kann. Und auch der tägliche Arbeitsweg angesichts wachsender Car-Sharing-Angebote, E-Bikes und unzähligen Wegen durch die Parks der Stadt kein Grund für ein „Innenstadt-Auto“ sein kann.

Als Nötigung erfahren deshalb immer mehr Menschen im Angesicht der wachsenden Klimakrise-Gefahren des „Autozwangs“ gegenüber vor allem die mangelhaften Strukturen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr in Deutschland. Strukturen, die entweder den Umstieg vom Auto auf die Öffentlichen zu einer deutlichen Verlängerung der Zeit für den täglichen Arbeitsweg machen. Wenn dieser nicht aufgrund des Fehlens einer regelmäßigen Beförderungsmöglichkeit vor allem in den ländlichen Gegenden gar unmöglich ist.

Ein Zustand, der bereits in den noch immer schlecht angebundenen Randbezirken der Stadt Leipzig beginnt und gleichzeitig so manchem Leipziger Autonutzer auch als Ausrede dient, die öffentlichen Verkehrsmittel oder das Rad aus Bequemlichkeit oder gar Angst nicht zu nutzen. Denn immerhin rund 50 Prozent aller innerstädtischen Fahrten, zumeist auch noch allein im Pkw, bewegen sich um die sieben Kilometer herum. Fahrten, die die Menschen noch vor der Industrialisierung vor 100 Jahren mit all ihren angenehmen wie unangenehmen Folgen nahezu ausschließlich als Fußstrecke kannten.

Und die das immerhin 50-prozentige Umstiegspotenzial der Großstadt Leipzig verdeutlichen.

Zentraler Adressat der CDU- und AfD-Fraktion bei derartigen „Ideologie“-Aussagen sind in Leipzig und anderswo stets die Grünen, in Leipzigs Verwaltungsspitze nach der parteilosen, aber von den Grünen nominierten Dorothee Dubrau nun Baubürgermeister Thomas Dienberg (Grüne) und Burkhard Jung (SPD). Dieser stellte sich am 19. April 2023 nach einer mit 1,5 Stunden ausschließlich um den Verkehr am Hauptbahnhof drehenden, also denkwürdig ausgeuferten Fragestunde demonstrativ hinter Dienberg.

In Richtung der, zwischenzeitlich wie eine gemeinsame Fraktion agierenden, konservativen bis rechtsradikalen CDU-AfD-Räte reagierte Jung dabei auf einen Einwurf von Christian Kriegel (AfD) mit den Worten: „Ich stehe, Herr Kriegel, zu 100 Prozent zu der Entscheidung von Herrn Dienberg. Und sie ist mit mir abgesprochen, damit Sie Bescheid wissen.“ Man baue die Stadt für Menschen um, so Jung (und nicht mehr für Autos).

Denn zur „Ideologie“-Debatte gehört immer auch, dass nach den Corona-Jahren, der Bundestagswahl 2021 und dem Ukraine-Krieg 2022 die Bund-Länderfinanzierung des ÖPNV für die Kommunen noch immer mehr als schlecht ist.

Spätestens mit dem Regierungswechsel im Bund und der breiten gesellschaftlichen Debatte rings um das 9- bis 49-Euro-Ticket nach über einem Jahrzehnt des Nichtstuns unter CDU-Führung und SPD-Mittäterschaft ist das eigentliche Problem offenkundig: Es wird neben dem (Wieder)Aufbau eines verlässlichen und bezahlbaren Fern- und Nahverkehrs einer Milliardenunterstützung an die Kommunen bedürfen, um auch in Leipzig das zu vollziehen, was in London, Paris und nun Wien längst geschehen ist.

Die wachsende Beschränkung des motorisierten Individualverkehrs unter massivem Ausbau des ÖPNV, Zukäufe von flexibel einsetzbaren (Elektro)-Bussen und die Definition neuer Strecken und Verbindungen bis ins Umland hinein: Mutmaßlich eine Milliarde davon allein für die Takterhöhung im S-Bahn-Netz und einen weiteren Ost-West-Tunnel durch den teuren, weil morastigen Untergrund der Messestadt.

Gelder, die selbst noch gut aufgestellte Kommunen wie die Wachstumsstadt Leipzig nicht haben, die auch das Land Sachsen noch immer nicht wirklich offen debattiert und die der Bund noch immer nicht plant. So betrachtet, müssen die von Handwerkskammer-Geschäftsführer Volker Lux und der CDU geforderten Zukunftsplanungen tatsächlich schnell auf den Tisch, eigentlich schneller als 2025. Und sie müssen eine klare Handschrift in Richtung ÖPNV, Rad- und Fußverkehr tragen.

Denn Deutschland ist und bleibt – wenn es nach Volker Wissing (FDP) und seinen Kampf für das Überleben des Verbrenners auch auf EU-Ebene geht – entgegen aller angeblicher Anti-Auto-Ideologien „Autoland“.

Indem Wissing mit den „eFuels“ ein nur in homöopathischen Dosen herstellbares Antriebsmittel als vorgebliche Alternative zur E-Mobilität im Namen Deutschlands auf EU-Ebene durchsetzte, versucht er vor allem das zu erhalten, was alle Verbrenner auch zukünftig benötigen: die Infrastruktur der Tankstellen, welche dann Gemische aus 90 bis 95 Prozent raffiniertem Öl und 5 bis 10 Prozent „eFuels“ anbieten können (zur „Die Anstalt“ zum Thema vom 25. April 2023).

Denn spätestens, wenn klar wird, dass das neue Wundermittel aus Industrieabfällen nicht ausreichend zur Verfügung steht, um damit den Tank zu füllen, wird es solche Werbe-Verrenkungen wie heute schon beim „Biodiesel“ geben.

Mit allen Folgen für das Klima, die zugeparkten Großstädte und die Debatten in Leipzig, die zuletzt in eine von über 20.000 Unterzeichner/-innen getragenen Petition gegen die Neuregelungen am Hauptbahnhof mündeten. Angetrieben vor allem dadurch, dass man in den konservativen Kreisen die Verlustgefühle triggert und so suggeriert, den Autolenkern würde etwas weggenommen. Natürlich ohne Bürgerbeteiligung versteht sich, was leicht in die AfD-Kasse für Demokratiemüdigkeit und Hass gegen behördliches Handeln einzahlt.

In der Summe bleibt aktuell in Leipzig weiterhin nur Kleckern statt Klotzen und dabei grüne Radstreifen aufmalen. Um wenigstens den Radverkehr mit kleinem Geld voranzubringen, wo es für die großen Würfe im ÖPNV finanziell nicht reicht. Von der nachfolgenden Durchsetzung so mancher Strecke zuungunsten des Platzfressers Automobil ganz zu schweigen.

Dies alles findet in der Umgebung einer weitgehend sinnfreien „Ideologie“-Debatte statt, befeuert durch Klimakrisen-Leugner, Autolobbyisten und bequeme Zeitgenossen, die noch immer glauben wollen, dass das aus der Erde geholte und durch Verbrennung freigesetzte CO₂ nur die Bäume grüner macht.

Der „Kommentar: Ideologie und ‚Ideologie‘ oder eine Frage des Geldes“ erschien erstmals im am 30. April 2023 fertiggestellten ePaper der LEIPZIGER ZEITUNG (hier frei verfügbar). Kommentiert ist das Thema „Von der Auto- zur Radstadt: Verkehrswende am Hauptbahnhof“ (hier zum Lesen).

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Es gibt 7 Kommentare

@fra
> ” sind Straßenbahn und S-Bahn zwei grundverschiedene Bausteine des ÖPNV. Das sieht man sehr schön an dem Abstand zwischen den Haltestellen. Was die Zeitersparnis angeht, probieren Sie mal mit der S-Bahn vom Hauptbahnhof zur neuen Messe zu fahren und dann das selbe mit der Linie 16.”
Und genau deshalb wäre eine Führung von S-Bahnen aus Zeitz oder Naumburg über die bestehenden Strecken völlig in Ordnung, solange der Nord-Süd-Tunnel noch Kapazitäten hat. Ein Ost-West-Tunnel würde innerstädtische Mobilitätsbedürfnisse abdecken, die nicht in dem Maße vorhanden sind um einen solchen Tunnel zu rechtfertigen UND die bestehenden Straßenbahnstrecken beizubehalten.

Für den Schleußiger Weg gibt es mitnichten eine Planung, auch für die Strecke zum Herzzentrum nicht. Lediglich die Strecke in Mockau ist in der Planung, aber hier wird ja laufend geändert. Die Seilbahn wurde auch als großartige Lösung in den Raum geworfen. Aber eher, um dem Autoverkehr am Boden keinen Platz wegzunehmen. Die Kapazität einer Seilbahn ist wesentlich geringer als die einer Straßenbahn, eignet sich daher nur für spezielle Räume (bergiges Gelände, Überwindung von Flüssen etc.).

@TLpz:
Was Sie immer mit Ihrer Seilbahn haben, kam übrigens von der CDU. Mir geht es um den S-Bahn Tunnel Ost-West. Die von Ihnen erwähnte Projekt Schleußiger Weg (Süd Sehne) ist schon längst in per Planung, also keine Angst.
Nun mal etwas grundsätzliches, auch wenn ein paar Politiker es da gerne falsch machen, sind Straßenbahn und S-Bahn zwei grundverschiedene Bausteine des ÖPNV. Das sieht man sehr schön an dem Abstand zwischen den Haltestellen. Was die Zeitersparnis angeht, probieren Sie mal mit der S-Bahn vom Hauptbahnhof zur neuen Messe zu fahren und dann das selbe mit der Linie 16.
Um Ihnen den Stand der Projekte Tunnel und S-Bahn-Ring zu verdeutlichen, empfehle ich Ihnen folgenden Artikel:
https://www.l-iz.de/wirtschaft/mobilitaet/2022/01/spd-anfrage-zu-leipziger-s-bahn-zukunft-noch-sind-s-bahn-ring-und-ost-west-tunnel-zu-gross-und-nicht-finanzierbar-430882

@fra
Von der SPD oder Personen aus der SPD kam, glaube ich, auch die Idee der Ring-S-Bahn. Oder die Seilbahn vom Hbf. zum Zoo als Instrument der Verkehrsplanug. Man kann ja gerne Trassen freihalten. Aber es gibt so Ideen da weiß man bereits ohne Untersuchung, dass diese niemals realisiert werden können. Dazu gehören eben eine Ring-S-Bahn (viele Haltestellen der S-Bahn liegen leider fernab jeglicher Bebauung und ein Neubaustück müsste im Naturschutzgebiet erfolgen), ein Ost-West-Tunnel (die Baupreise werden definitiv nicht auf das Niveau der 90er Jahre fallen) oder einer Tieferlegung der Autofahrbahn vor dem Hbf. (CDU – technisch unmöglich aufgrund der erforderlichen Rampenlängen um unter dem Citytunnel durchzukommen). Ein leistungsfähiges Transportmittel mit ausbaubarem Potential gibt es: Die Straßenbahn. Da gibt es noch Kapazitätsreserven der Strecken, Neubaumöglichkeiten (Schleußiger Weg, Brünner-T oder Querverbindungen in Grünau). Leipzig ist so kompakt, dass eine unterirdische Variante irgendeines Massenverkehrsmittels nur viel weitere Wege für die Nutzer bedeutet. Reisezeitverkürzungen sind bei den kurzen Strecken nicht zu erwarten. Beim Citytunnel sind diese Wege weniger relevant, weil es sich hier nicht um innerstädtische Verbindungen handelt. Die Gelder, die für einen solchen Tunnel aufgebracht werden müssten, sind in anderen ÖPNV- Projekten sinnvoller angelegt.

@TLpz:
Gehört aus der Stadtratsfaktion der SPD und bei Ihnen klingt das so als wenn der gleich gebaut werden soll. Was ja so nicht korrekt ist, denn da wird nur von der Trassenfreihaltung gesprochen und die Möglichkeit so was in 30 bis 40 Jahren anzugehen. Was ich sehr vernünftig finde. Denn wenn die Stadt in dem Tempo weiter wächst, werden wir auch ein leistungsfähiges Transportmittel in den Westen der Stadt benötigen. Also erst mal keine Kannibalisierung der bestehenden S-Bahnlinien. Übrigens hat der späte Nachmittag am Samstag gezeigt (Sperrung Nord-Süd-Tunnel) wie schnell das Haupttransportmittel zum Stillstand kommen kann.

Wo haben Sie da von Vorteilen gehört? Also echte verkehrliche Vorteile, und nicht nur Schnappsideen aus dem Mund von Hr. Jung, so wie der Vorschlag der Seilbahn zum Zoo? Ein Ost-West-Tunnel in Leipzig bedeutet keine Stärkung des ÖPNV. Ein möglicher Tunnel wäre sehr lang (müsste irgendwo vom Hbf- Vorfeld oder Gerichtsweg/Lene-Voigt-Park bis Plagwitz gehen) und müsste sehr tief verlaufen (um den Citytunnel zu unterqueren). Die Kosten für den vergleichsweise kurzen Nord-Süd-Tunnel betrugen knapp 1 Mrd. €, ein Ost-West-Tunnel wäre aufgrund der Länge und der deutlich gestiegenen Baupreise massiv teurer (da könnte man eher die Schienen der LVB vergolden oder neue Strecken bauen). Dieses Geld würde über Jahre für andere Verkehrsprojekte fehlen, so wie es beim Nord-Süd-Tunnel bereits geschehen ist: keine Streckenerweiterungen, Billigstraßenbahnen, aufgemotzte Tatras, nicht vollständig barrierefreie Haltestellen, Taktausdünnungen – vieles aufgrund fehlender Finanzierungsmöglichkeiten durch die Stadt. Verkehrlich hätte ein Ost-West-Tunnel auch keinen großen Nutzen. Bereits im Citytunnel fahren Linien weiter nach Osten, weil im Süden aufgrund der ehemaligen Tagebaue die Aufkommensschwerpunkte fehlen. UNd auch im Westen/Südwesten gibt es nicht viel bzw. sind die Strecken, z. Bsp. aus Naumburg, so angebunden, dass sie einen Ost-West-Tunnel nicht oder nur mit großem baulichen Aufwand erreichen würden. Ein Ost-West-Tunnel würde den Nord-Süd-Tunnel fahrgasttechnisch nur kannibalisieren, ein NKF würde deutlich unter 1 liegen. Innerstädtisch kann ein erforderliches Aufkommen nicht generiert werden. Oder nur unter Einsparung anderer Verkehrsmittel. Würde bedeuten: teilweise Einstellung der Straßenbahn auf parallelen Strecken (8/14/15-West + 3/7- West), weite Stationsabstände, längere Laufwege für Fahrgäste. Also Vorteile fallen mir für einen Ost-West-Tunnel wirklich nicht ein…

@TLpz:
Wie kann die Stärkung des ÖPNV (Ost-West-Tunnel) einen verkehrstechnischen Umbau verhindern.
Bis jetzt habe ich nur von den Vorteilen gehört.

@Michael Freitag
Volle Zustimmung, aber bitte bitte bitte verwenden Sie ein Schlagwort nie wieder: Ost-West-Tunnel. Ein solcher ist KEINE Lösung für den verkehrstechnischen Umbau unserer Stadt! Vielmehr würde er diesen nur behindern bzw. absolut unmöglich machen! Möglichen Entscheidungsträgern sollten dieses Schlagwort nicht aus dem Munde derer hören, die sich mit Verkehr wirklich unideologisch auseinandersetzen. Sonst kommen die noch (wieder) auf dumme Gedanken. Ein weiteres nicht zu verwendendes Schlagwort sollte S**lbahn ein…

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