In den Zeiten des schlimmsten Gemetzels auf den Schlachtfeldern der Welt gingen die Gedanken von Thomas Mann, Winston Churchill und Jean Monnet schon weiter. Der französische Unternehmer Monnet regte 1950 gegenüber dem Außenminister seines Landes Robert Schuman an, Kohl und Stahl europäisch zu vereinigen, um dem Nationalismus den Boden zu entziehen.
Dies ist der Kerngedanke, der ein Jahr später zur Gründung der Montanunion führte, aus der sich die Europäische Union entwickelte. Sie ist als Friedensprojekt die kongeniale Antwort auf den vorausgegangenen Krieg. Die westeuropäische Integration fand in der „Ostpolitik“ von Egon Bahr und Willy Brandt eine Fortführung, die vielen als wichtige Ergänzung zum Osten hin erschien.
Ein Wirtschaftsprojekt stand auch bei dieser Politik als Wegbereiter Pate: 1972 schloss die Bundesrepublik mit der Sowjetunion den ersten Vertrag zur regelmäßigen Lieferung preisgünstigen Gases. Annäherung und Handel waren die Leitlinien dieser Ostpolitik. Willy Brandt pflegte freundschaftliche Beziehungen zu Leonid Breschnew. Der Unterschied zu dem westeuropäischen Friedensprojekt ist allerdings erheblich: Die Montanunion lud die anderen europäischen Staaten zur Teilnahme ein, für die Ostpolitik waren vor allem die deutsch-russischen Beziehungen zentral.
Gerhard Schröder und Angela Merkel setzten im Wesentlichen die Ostpolitik der 70er Jahre fort. Das Lieblingsprojekt von Gerhard Schröder politisch und privat war die Förderung einer „Gasprom-Union“, wie man sie in Anlehnung an die Montanunion nennen könnte. Die deutsch-russische Freundschaft und seine persönliche Freundschaft mit Wladimir Putin waren sein Motiv. Die Merkel-Ära hielt am gleichen Kurs fest. Den Verlockungen des billigen Gases verfallen, wurden die Mahnungen der meisten osteuropäischen Länder teilweise sogar mit Überheblichkeit in den Wind geschlagen.
Sie kannten ihren Nachbarn offensichtlich besser. Nord Stream II diente dem russischen Nationalismus, der Kriegstreiberei und der Vorbereitung eines Angriffskriegs. Nach den Ereignissen von Butscha und Bachmut ist es an der Zeit, die deutsche Ostpolitik paradigmatisch neu auszurichten, ohne einen verklärenden Blick auf die Willy-Brandt-Ära.
Die politischen Kräfte, die billiges Gas um jeden Preis und Nord Stream II zum Dogma der deutsch-russischen Beziehungen erhoben haben, sollten keinen Einfluss mehr haben. Sie haben dem Frieden einen schlechten Dienst erwiesen und das Gegenteil von dem erwirkt, was Jean Monnet, Robert Schuman und Konrad Adenauer einst auf den Weg gebracht haben.
Redaktionshinweis: Vorliegender Leserbrief erreichte uns anlässlich des ersten Jahrestags des russischen Überfalls auf die Ukraine und der Berichterstattung dazu. Leserbriefe geben grundsätzlich die Meinungen von Absenderinnen und Absendern wieder und stimmen nicht zwingend mit der Ansicht der Redaktion überein.
Es gibt 2 Kommentare
„Die Welt als Wille und Vorstellung“ Schopenhauer – „It’s the economy, stupid“ B. Clinton und Brecht als Korrektiv: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ – ich bin gespannt, ob der Entscheidungsprozess für stabiles oder labiles Gleichgewicht für die zuschauende und akklamierende deutsche Bevölkerung wieder historische Ausmaße annimmt. Noch ein Nebengedanke: Rüstung und Krieg sind nicht nur nach Clausewitz die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern
auch dialektisch als Beleg für deren Versagen zu sehen.
Ach ja, wenn das alles so einfach wäre. Am Gas liegt’s nicht allein.