Erstmalig fanden am Donnerstag, 15. September 2022, auch in Halle an der Saale Proteste gegen die sozialen Folgen des aktuellen (Wirtschafts-)krieges statt. Es versammelten sich ca. 150 Menschen, um ihre Wut und ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Dabei wurden auch konkrete Forderungen artikuliert und heftige Kritik an den Maßnahmen der Regierung geübt.
Um die Innenstadt ziehend forderten die Teilnehmer die Wiedereinführung des populären 9€-Tickets, den Stopp der von Wirtschaftsminister Robert Habeck auf den Weg gebrachten Gasumlage und tatsächlich am Bedarf orientierte Entlastungsmaßnahmen – die bisherigen würden den ärmsten Teilen der Bevölkerung kaum helfen und würden durch die steuergebundene Staffelung vor allem mittlere und hohen Einkommensklassen zugutekommen, erklärten die Aktivisten und Aktivistinnen in einer Pressemitteilung vorab.
Resonanz blieb bescheiden
Aufgerufen zur Demonstration hatte die Gruppe „Halle zusammen!“. Die Organisatoren gaben sich im Nachgang der Demo der LZ gegenüber zwar zufrieden, räumten aber ein, dass die Resonanz durchaus besser hätte ausfallen können. „Für einen kraftvollen sozialen Protest müssen es noch viel mehr Leute werden“, gab Matze, der Pressesprecher des Bündnisses, zu.
Man habe aber bei dieser ersten Demonstration durchaus absichtlich in erster Linie die „ohnehin schon linkspolitisierte Blase“ ansprechen wollen. In Zukunft hoffe man aber darauf, auch Menschen zu erreichen, die bisher mit linker Politik noch nicht viel anfangen konnten, erklärte der Pressesprecher weiter.
Ein Grund für die vergleichsweise geringe Beteiligung dürfte – neben der kurzen Vorlaufzeit, dem gewählten Wochentag und der eher schwachen Bewerbung – auch der für politisch weniger involvierte Menschen wohl schwer nachzuvollziehende Umstand sein, dass am Sonnabend eine inhaltlich kaum unterscheidbare Demonstration des Bündnisses „Genug ist genug! – Halle (gig)“ stattfand. Hier kamen dann zirka 300 Teilnehmende.
Dabei sind die beiden Gruppen mitnichten Rivalen; Vertreter von gig hielten auch am Donnerstag Redebeiträge und legten ihrerseits einige weitere Forderungen dar, bspw. die Einführung einer Übergewinnsteuer und ein mögliches Aussetzen der Schuldenbremse.
Wird das Protestpotenzial künftig gebündelt?
Hauptunterschied zwischen den beiden Gruppen ist, dass „Genug ist genug!“ sich als Bündnis von Gruppen wie Gewerkschaften und Linkspartei – kurz: der Zivilgesellschaft – präsentiert, während „Halle zusammen!“ sich bisher an die linksaktivistische, autonom verstehende Szene zu richten scheint. Ein sinnlos doppelter organisatorischer Kraftakt? Teilweise, meinte „Halle zusammen!“ -Sprecher Matze.
Auf Nachfrage führte er aus: „Wir hatten lange Zeit nicht den Eindruck, dass aus linker Richtung noch eine Antwort auf die aktuelle Krise kommen würde. Und uns war es wichtig, uns um das Thema zu kümmern, bevor es von Rechten gekapert wird.“ Von den Mitstreitern von „Genug ist genug!“ habe man erst spät erfahren. In Zukunft werde es vermutlich eine weitere Zusammenarbeit geben – ob die beiden Gruppierungen fusionieren werden, sei aber noch gänzlich offen.
Man wolle sich wegen etwaiger Meinungsverschiedenheiten aber auch die Möglichkeit selbstständigen Protestes offenhalten, erklärte der Pressesprecher. Ein gewisser Vorbehalt, vor allem gegen die von Flügelkämpfen geplagte Partei Die Linke, wurde bereits in der Pressemitteilung der Demoorganisatoren deutlich.
Hintergrund: Armut in der Händelstadt
Halle ist durchaus kein uninteressantes Schlachtfeld für Sozialproteste, ist die Stadt doch von nicht unerheblichen Armutsproblemen belastet, die durch die aktuelle Situation kaum besser werden dürften. Sachsen-Anhalt ist ohnehin das Bundesland mit der zweithöchsten Armutsgefährungsquote (Sachsen Platz 5), und Halle als dessen größte Stadt hält einige traurige Hoch- und Höchstränge.
Unter allen Landkreisen der BRD ist die kreisfreie Stadt Halle auf Platz 4 der niedrigsten real verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen, in Ostdeutschland Platz 1 (Leipzig: Platz 11 insgesamt, Platz 2 in Ostdeutschland; Stand 2019). Fast 28 % der Kinder sind von Armut betroffen, bei den Jugendlichen sind es rund 19 %.
Bei Kindern von Ausländern sind es sogar mehr als 64 % (Leipzig respektive ~18 %, ~15 % und ~50 %; Daten aus 2020, zusammengetragen von der Bertelsmann-Stiftung). Unter den ostdeutschen Großstädten belegt Halle damit durchweg den ersten Platz. Da sind auch die prozentual nur vergleichsweise seichten Mietsteigerungen des vergangenen Jahrzehnts von geschätzten 18 % (Leipzig: ~46 %) nur ein schwacher Trost.
Zusätzlich für Unmut dürfte auch die Ankündigung der halleschen Stadtwerke sorgen, die Gasabschläge vorsorglich um 25 % zu erhöhen und die vom Wirtschaftsministerium zwecks Finanzierung des Gasembargos gegen Russland erdachte Gasumlage in Gänze weitergeben zu wollen.
Betriebswirtschaftlich ist das sicherlich logisch, aber den Kunden eben schlecht erklärbar, wenn man kurz zuvor noch mit mehreren Millionen Euro schweren Gewinnen jenseits der Erwartungen im letzten Geschäftsjahr aufwarten konnte – und damit mehr als das doppelte des geplanten Überschusses erwirtschaftete. Als hundertprozentige Eigentümerin könnte die Stadt hier durchaus Hand anlegen, doch man wartet – wie in so vielen deutschen Kommunen – auf eine Bundeslösung.
Und weiter?
Die Donnerstagsdemo jedenfalls verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Einzig ein paar sichtlich alkoholisierte und augenscheinlich dem rechten Spektrum zugehörige Passanten fielen durch Pöbeleien auf. Eine Zwischenkundgebung fand noch vor dem örtlichen Büro der FDP statt – wobei zur Abwechslung jedoch nicht unvergessen blieb, dass SPD und Grüne genauso an der Bundesregierung beteiligt sind und Finanzminister Lindner von Anhängern und Anhängerinnen der letzteren allzu gern als Sündenbock herangezogen wird.
Für Beobachter zeigt sich aber auch: Die gesellschaftliche Linke muss sich aktuell massiv anstrengen, überhaupt Menschen auf die Straße zu bringen – trotz einer der schwersten Wirtschaftskrisen seit Jahrzehnten. Konkrete Forderungen mögen dabei ein Weg sein, verständlich und anschlussfähig zu bleiben.
Gleichzeitig tauchen altbekannte Schwächen, gerade der autonom geprägten Szene, wieder auf: Vorsorgliche Abspaltung von möglicherweise problematischen Elementen, Beharren auf eigenen Organisationen (selbst bei zahlenmäßig dramatischer eigener Schwäche), und die Tendenz zu analytisch schwachen Gerechtigkeits- und Solidaritätsformeln.
Was ist der Ruf „Wir frieren nicht für eure Profite!“ schon? Der Winter kommt ja doch, und wenn die Linke bis dahin keine Strategien gefunden hat, tatsächlich nicht zu zahlen, statt dabei nur trotzig dreinzublicken, wird sie auch diese Krise politisch verpassen.
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