Am späten Nachmittag ist jede der sieben Spuren an der ungarischen Grenze zum Stillstand gekommen. Es ist genug Zeit, wieder hinter den Schlagbaum zu laufen und mit den Busfahrern zu schwatzen. Die Kinder, so ist die einhellige Meinung, sind nicht das Problem. Die haben sich super im Griff, es gibt keine schlechte Laune, eine Stunde wurde im Bus gesungen. Und auch sonst macht sich keine Hektik am Grenzübergang breit. Es wird nicht gehupt und gedrängelt gleich gar nicht.
Immerhin: Die Papiere der Kinder sind angeblich schon durchgecheckt. Die Autos des Kinderheims sind nach sechs Stunden Wartezeit in Ungarn angekommen und düsen nun schon nach Deutschland durch, während die ehrenamtlichen Helfer Suppenplastikteller gen Grenzstreifen tragen. Wobei Grenzstreifen für diese Zeit zu viel gesagt ist: Es ist ein Tummelplatz von Erwachsenen und Kindern.
Es gibt zwei Minirutschen und ein Trampolin auf einem begrünten Randstück, wo die Kinder mit ihren unglaublich geduldigen Eltern umhertoben. Manch einer schläft nach oder vor in seinem Auto und zwei Deutsche putzen lieber mal die Frontscheibe. Diese zwei Männer sind nach Siret an die ukrainisch-rumänische Grenze gefahren, um sechs Erwachsene und eine Katze abzuholen – ein paar alte Bekannte aus Tschernowitz in der südwestlichen Ukraine.
Bei Schnee und -8 °C ging es über die Karpaten, am Grenzübergang pfiff der Wind über das flache Land. Siret ist der größte rumänische Grenzübergang zur Ukraine. Rumänen haben dort in Zelten die Versorgung mit dem Notwendigen ermöglicht. Sie erzählen, was wir auch schon von Sascha gehört haben: In der Westukraine gibt es immer mehr Flüchtlinge, 15.000 bis 20.000 sollen es in Tschernowitz sein.
„Jede Wohnung ist voll, die Menschen schlafen in Turnhallen. Die Stadt ist Fluchtpunkt für viele, weil es bisher sicher war.“ Aber nun soll es auch hier Fliegeralarm gegeben haben. Als uns in Ungarn eine Ukrainerin mit ihrem Auto passiert, hupt sie laut und reckt ihre Faust aus dem Fenster. Endlich geschafft.
Hinter ihr warten auch 19:30 Uhr noch über einhundert Autos auf die Durchfahrt. Die Zufahrtsstraße von Satu Mare ist Richtung Ungarn voll mit Lkws. Stundenlang tut sich auf der Busspur gar nichts. Die Busse stehen, die Fahrer vertreiben sich am Rand die Zeit, die Zeit vergeht von allein. Zum Glück stellt mich mein Schulleiter für einen weiteren Tag frei.
Nach und nach werden die Buspassagiere, vornehmlich die Kinder, in das Grenzhaus geholt. Dort werden Fotos gemacht, Dokumente ausgestellt, gescannt, beglaubigt. Die Kinder erhalten das Original. Letztlich leisten die Grenzer hier die Dienste eines Bürgeramts. Sie stellen Pässe aus.
Allerdings wissen sie manchmal nicht, wie Namen korrekt geschrieben werden oder ob es sich bei den Kindern um Junge oder Mädchen handelt. Also holen sie manche Kinder nochmals aus dem Bus und klären offene Fragen mit den Erziehern.
Die Fahrzeugpapiere des Busses und die Ausweise der Busfahrer verbleiben bis zum Ende der Maßnahme in der Obhut der Grenzer. Als diese 23:45 Uhr ihre Papiere erhalten, geht der Schlagbaum hoch. Der Weg nach Ungarn ist nun auch für den Bus frei.
Es wird eine lange Rückfahrt. Früh halb acht sind wir in der Slowakei, 15 Uhr in Deutschland. Jetzt lohnt sich, dass wir drei Fahrer sind, so kann einer immer schlafen. Zwischendurch gibt es Mittagessen, so unkonventionell wie möglich. Leider kommen an der Autobahn nicht so viele Restaurants infrage. Es wundert sich niemand in der Küche über 20 große Pommes, 100 Burger und 50 Getränke. Frühstück und Mittag in einem.
Ein paar Brocken Russisch fallen mir ein, ein paar andere erklaube ich mir. „Hat es geschmeckt? Da!“ Auf dem Weg zum Auto werden wir von einer tschechischen Frau auf Deutsch angesprochen, die uns beim Essen beobachtet hatte.
„Sind das Kinder aus einem Kinderheim?“, „Ja, sie sind aus Mariupol“. Bestürzung und ein leises „Danke“. Als wir erklären, dass es aber allen gutgeht, sagt sie uns, dass sie selbst in einem tschechischen Kinderheim arbeitet und froh ist, dass es den Kindern gutgeht.
Vor der Reise erzählten uns Anna und David von der besonderen Gemeinschaft der Gruppe, die in Stapelage keinesfalls auseinandergerissen werden soll. Wir spüren diese Gemeinschaft bei jedem Stopp. An der slowakischen Grenze rollt der Fußball über den Parkplatz und 15 Kinder versuchen irgendwie, diesem habhaft zu werden.
Will ein junges Kind zur Toilette, fragt es ein großes und gemeinsam schlängeln sie sich zur Toilette. Nur den Verkehr haben sie nicht auf dem Zettel, sodass wir lieber ein paar Erwachsene abstellen, die die Gefahrenlagen auf der Raststätte im Blick haben.
Je weiter wir nach Deutschland kommen, umso länger der Tag voranschreitet, desto besser wird die Stimmung. Die Kinder haben Seifenblasen bekommen. Ein Mädchen versucht immer wieder welche zu fangen. Die Jungs begeistern sich für unser Auto, wollen Fotos davor und darin machen. Die Busfahrer und David mischen sich in den Spielen teils unter.
Noch ein letztes Mal wird von den Spendengeldern aus dem Umfeld des 1. FC Lok getankt. Später erlassen uns Mitarbeiterinnen einer Tankstelle die Getränke für die Busfahrer, als sie hören, woher die Kinder sind und dass wir seit 34 Stunden auf der Rückreise sind. Traurig, dass Mariupol mittlerweile auch in Deutschland jeder kennt.
21 Uhr haben wir unser Ziel nach 1.500 Kilometern erreicht – ein ehemaliges Heim für behinderte Menschen in Stapelage. 50 Personen warten hier auf uns, auch ein Kamerateam. Während die Kinder ihr Zeug schnappen und im Haus verschwinden, führt der Redakteur ein gehetztes Vorgespräch mit David und versucht danach immer wieder, irgendein spektakuläres Statement von David über die Kinder und deren Situation zu erheischen.
Aber David ist in den letzten zehn Tagen zum Medienprofi geworden und lässt sich darauf nicht ein, antwortet alles klug weg. Es ist für alle Begleiter klar, dass wir keine Fotos oder Videos von Kindern an die Presse geben werden.
Als Kollege ist es zum Fremdschämen, was das Kamerateam anbietet und letztlich erreichen wir hier auch den mentalen Ausgangspunkt der Reise: Welche Vorstellung hat der Einzelne von Hilfe, von den Ländern, in denen Hilfe benötigt wird und von den Hilfsbedürftigen.
Als wir im Haus ankommen, sind die Kinder schon einmal quer durch das Buffet gepflügt. Zahlreiche Frauen haben es richtig gut gemeint und viel zu viel Essen gemacht. So große Töpfe habe ich ewig nicht mehr gesehen. Ein Sternekoch aus der Region wollte am Dienstag zur Begrüßung der Kinder kochen. Er kann erstmal getrost zu Hause bleiben.
Andere zeigen den Erziehern das Haus, lagern die Lebensmittel, die noch als Reserve im Bus lagen, in dem liebevoll als Speisekammer bezeichneten Raum ein. In Leipzig würde allein dieser Raum die Kriterien eines Tante-Emma-Ladens erfüllen. Es gibt hier alles, was man gebrauchen könnte.
Direkt daneben führt eigentlich eine Treppe in den 1. Stock. Hier wurde ein riesiges Regal eingebaut, es ist voll mit Kinderklamotten, die es auch in einem Raum gegenüber gibt. Es gibt ein Spielzimmer mit diversen Spielzeugen, in einer zweiten Küche stehen 15 Kuchenbleche, die von den Kindern unangetastet bleiben. Sie sind nach dem Essen so diszipliniert, wie sie sind, in ihre neuen Zimmer gegangen.
Am 1. März hat das vorherige Heim das Haus dem Eigentümer übergeben. Ein paar Tage später war klar, dass dieser Ort gleich wieder gebraucht wird. Davids Familie und sein Freundeskreis haben seitdem ebay-Kleinanzeigen durchforstet, Menschen aus der Region angeschrieben, die ihre inserierten Möbel spendeten, vorbeibrachten und teilweise selbst aufbauten.
Und so erfahren wir auch, wie der Kontakt zwischen Anna, der Leipziger Organisatorin, und David zustande kam. Sie hatte bei ebay das Inserat gesehen, dass ein Bus benötigt wird, um die Kinder nach Deutschland zu bringen.
Ein letztes Mal nehmen alle Begleiter an einem Tisch Platz und es ist spürbar, wie bei allen die Spannung abfällt. Nun können wir auch lachen, dass wir vor 24 Stunden noch an der Grenze feststeckten. Die Busfahrer sind froh, dass sie erst in ein paar Tagen wieder ihren Linienbus durch Leipzig lenken werden.
Für mich ist der schönste Moment der Reise, alle Kinder und ihre Erzieher an den großen Tafeln essen und ankommen zu sehen. Wie sie mit ihren Plüschtieren, Schlüsselbändern und dem Löffel in der Hand dasitzen, als wenn es ein ganz normaler Abend wäre.
Kind zu sein ist, glaube ich, in solchen Situationen etwas ganz Nützliches. Die meisten werden erst in ein paar Jahren realisieren, was sich in diesen Tagen ereignet hat. Und auch daran haben David und sein Team gedacht: Es gibt im Ort Psychologen, die den Kindern und Erziehern zur Verfügung stehen.
Als wir mit Jana und Marius, die in Stapelage David mit allem, was sie hatten, unterstützt haben, im Haus stehen und sie von den Ereignissen rund um die Aktion erzählen, ist sie wieder spürbar: Diese Energie, wenn Menschen ein gemeinsames Ziel haben und sich dadurch verbunden fühlen. Leider wird es so wie in diesen wenigen Momenten, in denen alle mit Euphorie und Dopamin vollgestopft sind, nie wieder werden.
Während die Busfahrer und die zwei Spontanreisenden 23:30 Uhr zu David fahren, fahren wir mit Anna, die wir in Leipzig auf dem Rückweg mitgenommen hatten, noch in der Nacht zurück – nach 3.000 Kilometern, 72 Stunden, einer Busladung voller Eindrücke und großer Freude, gemeinsam mit einem großen Team in und aus Leipzig und in und aus Lage anderen Menschen geholfen zu haben.
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Ganz großes Dankeschön und riesigen Respekt für diese Aktion an alle Beteiligten, Marko! Ich hoffe, die Kinder können bald wieder zurück nach Hause, in Frieden…