Die rumรคnisch-ungarische Grenze ist das Nadelรถhr fรผr Retter und Gerettete. Der Grenzรผbergang Satu Mare ist voll mit Bussen, Kleintransportern und PKW aus der Ukraine oder mit Menschen aus der Ukraine. Die Wartezeiten sind lang, aber wer so weit gekommen ist, wird auch das noch schaffen โ auch wenn es neun Stunden Stillstand bedeutet.
โEs kommen jeden Tag neue Menschen an, total fertig und hungrig. Es gibt hier viel Bewegungโ, erzรคhlt mir ein Rumรคne im Nachbarort von Satu Mare. Hier, wo die LKW mit 70 km/h durch die Ortschaft donnern, eine ungarische, eine orthodoxe und eine katholische Kirche auf insgesamt 300 Metern stehen, befindet sich das zweite Kinderheim, in dem ukrainische Kinder aus Mariupol untergebracht sind. Es ist katholisch und mir dรผnkt, wie wertvoll ein Netzwerk in einem kulturellen Bereich in einer Notsituation ist.
Der Mann ist ein Freiwilliger, der jeden Tag kommt, um die Heimleitung zu unterstรผtzen. Er macht sich wie viele Menschen in Europa derzeit Gedanken รผber die Zukunft. โIch hรคtte mir nicht vorstellen kรถnnen, dass wir mal noch eine Armee brauchenโ, sagt er mir auf Englisch.
โNato-Soldaten gibt es hier in der Nรคhe noch keine, aber sie wรคren unsere einzige Chance im Falle eines Angriffs. Das rumรคnische Militรคr ist schwach. Deutschland ist ein starkes Land. Ihr wรผrdet euch wehren kรถnnen.โ
Fรผr ihn sind aber Militรคrausgaben heutzutage โreine Geldverschwendungโ. Und er sagt: โEgal, wer hier in unser Dorf kommt, wir helfen ihnen.โ Wir verabschieden uns mit Hรคndedruck und einem โPasst auf euch auf.โ Es ist ein Gesprรคch, an das ich noch eine Weile zurรผckdenken werde.
Auf dem kleinen Hof des Kinderheims ist derweil groรes Wiedersehen angesagt. Durch die verschiedenen Unterkรผnfte waren die Kinder mehrere Tage voneinander getrennt, fallen sich und ihren Erziehern in die Arme. Natรผrlich wird etwas gesprochen, was wir nicht verstehen. Aber es ist einfach zu erkennen, dass hier alle frรถhlich sind. Ein Gruppenfoto und dann geht es los Richtung Grenze.
Menschen, die die Reise seit der Planung oder seit dem Beginn gedanklich oder durch persรถnliche Hilfe in Lager oder Leipzig begleitet haben, schrieben, dass sie Gรคnsehaut hรคtten, vor Freude weinen wรผrden und dass sie dankbar seien.
Vor Ort ist das Einladen der Kinder letztlich viel unspektakulรคrer, als man in Deutschland denkt โ oder wir begreifen in all dem Tumult die Dimension nicht. Groรe Emotionen bei den Begleitern gibt es nicht, alle schauen, dass sie irgendwas helfen kรถnnen und freuen sich innerlich.
Eine Stunde zuvor standen wir alle im kleinen Korridor der ersten Unterkunft und wagten es nicht, uns zu rรผhren. Die Gruppe hielt noch eine Andacht, die ukrainische Version des Vaterunser war laut und deutlich zu hรถren. Wir warteten zwischen den Straรenschuhen, die alle im Korridor stehen, auf das Amen.
โThere is no place like homeโ steht auf einem Tรผrstopper. Treffender kann das Motto des Tages kaum sein. Nach und nach zogen sich die Kinder an, schรผttelten jedem die Hand und ab ging es in den Bus. Nach wenigen Minuten waren die ersten wieder drauรen, zeigten stolz das Plรผschtier oder das Basecap aus dem Fanshop des 1. FC Lok Leipzig. Jedes Kind hat zwei Tรผten fรผr die Reise bekommen, Nackenkissen, Decke, Mรผtze, Essen. Dazu gab es Lunchpakete vom Kinderheim.
Der Bus hat ausreichend Getrรคnke an Bord, bis hierhin hat alles prima geklappt. Wรคhrend sich der Bus gefรผllt hat, wird David angesprochen. Eine schwangere Frau und eine Theaterleiterin aus Mariupol, die gegenรผber wohnen, fragen, ob sie spontan mitkommen kรถnnen. Und so sind noch zwei weitere Gรคste an Bord. Davids Freunde setzen sich in die Autos des Kinderheims und los gehts zum Grenzรผbergang nach Petea.
Aber hier geht fรผr lange Zeit nichts. Rumรคnien gehรถrt nicht zum Schengener Abkommen und jeder Ukrainer, der keine Dokumente hat, braucht neue. Diese machen die Grenzpolizisten. Das sind aber nicht viele, dafรผr stehen hier heute viele ukrainische oder andere europรคische Autos, die durch Aufschriften oder Flaggen signalisieren, dass sie Menschen aus der Ukraine an Bord haben. Italiener, Moldawier und vor allem viele Deutsche.
โGestern kamen fรผnf deutsche Autos und hielten hier an. Sie fragten uns, wo Ukrainer sind, die sie mitnehmen kรถnnen. Aber hier gibt es keine. Das hier ist ein Grenzรผbergang fรผr Autos, nicht fรผr Einzelpersonen. Also sind sie 40 Kilometer nach Norden gefahren. Dort kommen Flรผchtlinge per Fuร direkt aus der Ukraine nach Ungarn.โ
Der Ungar, der mir das erzรคhlt, trรคgt eine gelbe Weste. Um ihn herum stehen zehn Frauen, die die Autofahrer mit Suppe, Brรถtchen, Kaffee, Tee, Decken und Hygieneartikeln versorgen. โEs werden jeden Tag mehr Menschen, die hierherkommen. Ich habe keine Ahnung, wo das ungarische Rote Kreuz oder die Malteser sindโ, beschwert er sich.
Wir haben genug Zeit zu reden an diesem sonnigen und milden Sonntag. Unser PKW mit drei Deutschen ist binnen zehn Minuten รผber die Grenze gekommen. Auf der Nachbarspur รผberholen wir 50 Meter vor dem Schlagbaum ein Auto der evangelischen Jugend Mecklenburg โ natรผrlich mit Ukrainern. Sieben Stunden spรคter, 18 Uhr ungarischer Zeit, wird es Rumรคnien verlassen dรผrfen.
โDie Grenzbeamten und wir haben ein รbereinkommen. Wir dรผrfen immer wieder von Ungarn รผber die Grenze laufen und Autofahrer versorgen.โ Dafรผr holen sich die Grenzpolizisten Schokolade oder andere Sรผรigkeiten bei den Helfern.
โIn den Fahrzeugen sitzen viele Kinder, von denen Fotos fรผr die Dokumente gemacht werden mรผssen. Jeder Mensch wird hier registriert. Weil die Kinder aber nach langer Reise und langer Wartezeit keine Geduld mehr haben, werden sie von den Grenzpolizisten gekรถdert.โ
Die einen, so sagt er mir, spielen Klavier, um sie zu beruhigen, andere sagen: โDu kriegst Schokolade, aber nur wenn du jetzt beim Foto ruhig bist.โ Eigentlich mรผssten alle bereits an der ukrainisch-rumรคnischen Grenze registriert werden. Damit es bei der Ausreise aber nicht zu groรen Staus kommt, wird der Verwaltungsaufwand nach Ungarn verlagert.
Von dem ungarischen Helfer erfahren wir auch, warum der Diesel rationiert ist. Aufgrund der gestiegenen Benzinpreise hat Ungarn die Spritpreise eingefroren, sie kosten im Land gleich. Die Tankstellenpรคchter machen deswegen aber ein dickes Minusgeschรคft und der Kompromiss ist nun, dass die Dieselabgabe erstens fรผr auslรคndische Fahrzeuge ab 3,5 t und fรผr ungarische Fahrzeuge รผber 7,5 t beschrรคnkt ist und zweitens der Diesel 200 Forint pro Liter mehr kostet als andere Kraftstoffe (679 Forint, umgerechnet ca. 1,70 Euro). So soll sich der Verlust in Grenzen halten.
Eigentlich ist der ehrenamtliche Helfer berufstรคtig, und zwar fรผr eine deutsche Firma und wohnt in Zentral-Ungarn, 300 km entfernt von hier. Aber die Hilfe hier ist ihm wichtig. Dienstag ist in Ungarn Feiertag, Montag also Brรผckentag. Gestern ist er angekommen und hilft nun vier Tage bei der Versorgung der Reisenden. Viel Hoffnung macht er uns nicht auf ein schnelles Vorankommen.
โMan kann hier einen halben Tag warten. Der letzte Bus, der gestern kam, hat sechs Stunden an der Schranke gewartet.โ Wรคhrend er das erzรคhlt, leert sich 50 Meter vor uns ein Doppelstock-Bus aus Deutschland mit Ukrainern.
โIch schรคtze, 80 Prozent der Ukrainer hier haben keine Dokumente โ wie auch in der ganzen Eile.โ Unsere Busfahrer sprechen kurz mit dem deutschen Busfahrer. Der war 00:30 Uhr an die Schranke gefahren. Nun ist es 11:30 Uhr.
So ist dieser Sonntag vor allem ein Geduldsspiel. Weil der Zucker und der Toast an der improvisierten Raststation zur Neige gehen, machen wir uns nach Mรกtรฉszalka auf und kaufen fรผr die Fleiรbienen ein. Was sollen wir auch tun? Der Bus steht 100 Meter entfernt von uns, aber das ist in ungarischer Grenzzeit eine halbe Ewigkeit.
Bei unserem Einkauf sind wir getrieben von dem Gedanken, der Bus mit den Kindern kรถnnte bald in Ungarn sein und wir ihn verpassen. Wie sich herausstellen wird, ist das eine irrationale, unbegrรผndete Angst. Als wir 16 Uhr wieder da sind, sind es zwar nur noch zwei statt vier Busse vor ihm, aber das bedeutet immer noch mehrere Stunden.
David, der Organisator der Reise, hat รผber Kontakte beim Auswรคrtigen Amt und sogar der UN versucht, eine schnellere Durchreise zu ermรถglichen. Aber darauf lรคsst sich niemand ein. Auch dass Kinder an Bord sind, interessiert keinen, und dass extra am Vorabend zwei Erwachsene an der Grenze waren, um alles vorzubereiten, hat man vergessen. Der Tipp mit den Grenztelefonnummern erweist sich als wertlos โฆ
Teil 4 lesen Sie morgen an dieser Stelle.
Hinweis der Redaktion in eigener Sache
Seit der โCoronakriseโ haben wir unser Archiv fรผr alle Leser geรถffnet. Es gibt also seither auch fรผr Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. รber die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.
Unterstรผtzen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tรคgliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikรคufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den tรคglichen, frei verfรผgbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit fรผr Sie.
Vielen Dank dafรผr.
Empfohlen auf LZ
So kรถnnen Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstรผtzen:
Keine Kommentare bisher