Am 15. März kam der „Baubeschluss: Sanierung Shakespearestraße zwischen Karl-Liebknecht-Straße und Arthur-Hoffmann-Straße“ in der Ratsversammlung zur Abstimmung. Dort hielt SPD-Stadtrat Christopher Zenker eine durchaus polemische Rede, in der er sein Unbehagen an der nicht mehr zeitgerechten Straßenplanung in Leipzig zum Ausdruck brachte.
Die Rede von Christopher Zenker
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Beigeordnete, liebe Kolleginnen und Kollegen, werte Gäste, sehr geehrter Herr Leisner, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im BfR,
wie konnte denn das nun wieder passieren? Offenbar sind im ALLRIS einige alte und neue Datenbanken durcheinandergeraten. Ich habe die Vorlage zur Shakespeare-Straße mehrfach neu geladen, aber leider wird mir bis heute der aktuelle Text mit einer Planung, die offensichtlich aus dem Jahr 1992 stammt, angezeigt.
Als Stadtrat, der nun schon in der vierten Wahlperiode hier an Bord ist, ist es tatsächlich spannend zu sehen, wie man in den 1990ern Stadtplanung gedacht hat. Damals ging ich noch zur Schule, auf den Straßen fuhren neu gekaufte alte Westautos und schicke Mantas mit Fuchsschwänzen an den Antennen.
Plötzlich wurde überall in der Stadt wild geparkt, das neue schicke Westauto brauchte Platz. Verkehrsregeln galten eher erstmal weniger. Damals hat sich für uns als Kinder viel geändert, plötzlich konnten wir nicht mehr auf Nebenstraßen in den Wohngebieten spielen, die mit Kreide auf die Straße gemalten Himmelhöllen verschwanden und zum Radfahren mussten wir in den Park. Ja, so war das und so hat sich das in den letzten 30 Jahren leider verfestigt.
Wenn ich jetzt diese alte Planung sehe, verstehe ich auch, wie es so weit kommen konnte, dass heute eben in Wohngebieten keine Kinder mehr allein auf dem Fußweg, den Plätzen spielen können oder um die Häuser ziehen und Vermieter auch in Nebenstraßen Schallschutzfenster einbauen müssen.
Diese Planung ist ein einziger Flashback in die 1990er Jahre.
Herr Leisner, ich weiß natürlich, dass das BfR nicht verantwortlich ist. Das macht die Situation aber leider nicht besser, ganz im Gegenteil: Diese Vorlage macht mich sprachlos und ratlos!
Ich zitiere aus den strategischen Zielen aus der Vorlage: „Eine qualitätsvolle, ausgewogene Innenentwicklung umfasst die Sicherung, Entwicklung und Qualifizierung der öffentlichen Räume, um die Lebensqualität in den bestehenden Quartieren zu erhalten und weiter zu verbessern. Ziel ist, die Umweltqualität in Leipzig zu verbessern, indem u.a. Lärmbelastung, Schadstoffemissionen sowie gesundheitliche Belastung durch Überwärmung reduziert werden und ein nachhaltiger Beitrag zur notwendigen Anpassung an den Klimawandel geleistet wird.“
So weit, so gut, das klingt sehr viel versprechend, genau das verlangen wir auch von Investoren, die neue Quartiere entwickeln: Sie sollen verkehrsberuhigt, mit viel Grün und hoher Aufenthaltsqualität bauen.
Liest man die Vorlage weiter, wird aber schon bei der Beschreibung der Maßnahme deutlich, dass hier zwischen Anspruch und Wirklichkeit gewaltige Lücken klaffen: „Bei der Shakespearestraße handelt es sich um eine Straße innerhalb von Tempo-30-Zonen. Radabstellanlagen und Straßenbäume sind bisher nicht vorhanden. Die Shakespearestraße besitzt im Straßennetz der Stadt Leipzig eine untergeordnete Funktion als Anliegerstraße. Die baulichen und ausstattungstechnischen Bedingungen lassen Mängel bezüglich der Sicherheit der Verkehrsteilnehmer und der Verkehrsqualität erkennen.“
Herr Dienberg, ich habe viele Fragen und bin sehr unzufrieden.
Warum bitte muss eine Anliegerstraße mit untergeordneter Funktion mitten in einem dicht bebauten Wohngebiet zweispurig ausgeführt werden?
Warum ist mitten im Wohngebiet eine Straßenbreite von über 4,75 m notwendig?
Warum wird eine Anliegerstraße mit untergeordneter Funktion in einer Tempo-30-Zone nicht als Einbahnstraße angelegt? Ich lebe seit über 40 Jahren in diesem Viertel – niemand muss mit dem Auto oder gar LKW mitten durch das Wohngebiet von der Bernhard-Göring-Straße zur Karl-Liebknecht-Straße fahren.
Warum kann die Aufenthaltsqualität mitten im Wohngebiet nicht als verkehrsberuhigte Zone erhöht werden? Warum kann nicht ein Spielplatz oder wenigstens eine Spielfläche gebaut werden – Platz ist genug? Warum werden nicht Freiflächen auch für Gastronomie mit eingeplant?
Wo sind die öffentlichen Fahrradgaragen?
Warum wird nicht eine Fahrspur zur Grünfläche mit Sitzbänken und Beeten umgebaut?
Ich könnte jetzt noch lange weitere Fragen stellen. Diese Vorlage ist nicht nur nicht entscheidungsreif, sie ist nicht mal entscheidungswürdig. Statt wirklich einen Schritt zu mehr Aufenthaltsqualität in einem beliebten Wohngebiet zu machen, liegt hier nur die Planung für eine neu gepflasterte breite Straße mit etwas Kosmetik vor.
Richtig dreist ist es, diese Vorlage auch noch eilbedürftig vorzulegen. Bitte, welche Eile gibt es denn? Diese Planung fällt doch nicht zufällig vom Himmel? Hier wurde doch mit Sicherheit seit Jahren geplant. Diese – in meinen Augen schlechte Planung – sollen wir jetzt mal eben eilbedürftig durchwinken? Nein!
Herr Dienberg, so geht das nicht. Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie uns eine Planung vorlegen, die in das Jahr 2022 passt. Die die Menschen im Wohnviertel in den Mittelpunkt stellt, die unnötigen Verkehr aus Wohnvierteln heraushält, die den Willen zur Mobilitätswende wenigstens erkennen lässt.
Ich möchte eine Planung sehen und diskutieren, in der Anwohner vor ihren Häusern auf dem Freisitz oder auf einer Bank sitzen können, wo Kinder auf der Straße Roller und Rad fahren lernen können, wo Blumenbeete den Straßenrand säumen, wo man nachts das Fenster offen lassen kann und kein Verkehr durch das Wohngebiet rast und und und …
Leider ist es [der] Verwaltung mal wieder gelungen, uns vor vollendete Tatsachen zu stellen und uns, mit dem Verweis auf die nur jetzt zur Verfügung stehenden Mittel, diese Planung überzuhelfen und Änderungen nicht mehr zuzulassen. Dem Grünen-Antrag werde ich persönlich zustimmen, auch wenn er nur Kosmetik auf Grundlage der bestehenden Planung ist. Zur Vorlage werde ich mich, wenn dieser durchgeht, enthalten und, wenn der Änderungsantrag nicht durchgeht, werde ich die Vorlage ablehnen.
Rede von Christopher Zenker am 15. März 2022 im Stadtrat
Video: Livestream der Stadt Leipzig
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