Manche Fehler, die gewählte Parlamente machen, haben lange und kaum noch zu reparierende Folgen. So einen Fehler machte Leipzigs Stadtrat im fernen Jahr 1993, als er den Mumm nicht hatte, eine autofreie Innenstadt zu beschließen. Denn damals war das noch problemlos möglich. Da gab es noch keine einzige der vielen Tiefgaragen, die seitdem errichtet wurden. Aber wer erzählt es den Kindern, dass Leipzigs Stadträt/-innen damals den Mumm nicht hatten?
Zum Beispiel den Kindern der Klasse 7B des Immanuel-Kant-Gymnasiums Leipzig, die jetzt einfach eine kurze und knappe Petition geschrieben haben: „Wir, die Klasse 7B, sprechen uns für eine autofreie Innenstadt aus.“Das Dezernat Stadtentwicklung und Bau hat dazu jetzt eine Stellungnahme mit einem Alternativvorschlag geschrieben, der eigentlich eine Ablehnung ist. Etwas anderes bleibt dem Dezernat gar nicht übrig, denn seit dem Stadtratsbeschluss von 1993 steckt das Dezernat in der Klemme und muss irgendwie versuchen, den Raum für Autos in der Innenstadt immer ein bisschen mehr zu verkleinern, um mehr Platz für Fußgänger/-innen und Radfahrer/-innen und Freisitze und Bäume und Bänke zu bekommen.
Aber es darf die Zufahrten zu den ganzen Tiefgaragen nicht verbauen oder schließen. Es geht gar nicht um den Lieferverkehr, den das Verkehrs- und Tiefbauamt hier als Argument anführt. Denn der hat auch in jenen deutschen Innenstädten seine Zufahrtszeiten und Ladezonen, die ihre Innenstadt autofrei gemacht haben. Denn das „autofrei“ zielt nicht auf die Lieferfahrzeuge, sondern auf die Autofahrer, die die Innenstadt ansteuern und die für sie noch freien Stichstraßen eben zu Verkehrsräumen machen, in denen man eben nicht gedankenlos schlendern und spazieren kann und man als Kind lieber aufpasst wie ein Schießhund.
„Mit der vom Stadtrat beschlossenen Mobilitätsstrategie 2030 soll der Anteil der mit dem Auto in der Stadt zurückgelegten Strecken reduziert werden. Eine vollständig autofreie Innenstadt würde dazu einen Beitrag leisten, ist jedoch derzeit nicht umsetzbar“, gesteht das Verkehrsdezernat im Grunde mit einem tiefen Seufzer zu. Man weiß dort sehr wohl, in welche verklemmte Situation der Stadtratsbeschluss von 1993 und so viele Baugenehmigungen aus den Folgejahren die Verkehrsplaner im Fall der Innenstadt gebracht haben.
Denn dass eine autofreie Innenstadt nicht nur besucherfreundlicher wäre, sicherer und klimafreundlicher, das streitet heute kaum noch jemand ab. Und dass man die Autos dort gar nicht braucht, um das Geschäftsleben anzukurbeln, hat sich auch herumgesprochen.
„In vielen Abschnitten verfügt die Leipziger Innenstadt bereits heute über Fußgängerzonen, in denen anderer Verkehr als das zu Fuß gehen nur zu bestimmten Zeiten erlaubt ist (Rad- und Lieferverkehr). Zusätzlich wurden in den letzten Jahren auch Straßenabschnitte zu Fahrradstraßen umgewandelt, in denen der Radverkehr Vorrang vor dem Kfz-Verkehr hat. Grundlage hierfür ist das Konzept ‚Autoarme Innenstadt‘, welches bereits 1993 aufgestellt und seitdem bereits mehrfach angepasst und erweitert wurde“, versucht das Verkehrsdezernat zu erklären, warum man heute nicht so kann, wie man gern möchte.
„Kfz-Verkehr ist in der Innenstadt nur im beschränkten Umfang zur Sicherung der Erschließung der Handels- und Dienstleistungseinrichtungen sowie der Erreichbarkeit der öffentlichen und privaten Parkeinrichtungen zugelassen. Es muss also bereits jetzt schon gut begründet werden, warum man mit dem Auto in die Innenstadt will oder muss. Dies ist der Fall, wenn Geschäfte beliefert werden müssen oder Menschen die Parkmöglichkeiten nutzen wollen. Auch sind die Wege in der Innenstadt so strukturiert, dass man mit dem Auto lediglich Ziele innerhalb der Innenstadt erreichen kann. Das reine Durchfahren durch die Innenstadt ist nicht erlaubt. Dadurch wird schon sehr viel Kfz-Verkehr aus der Innenstadt herausgehalten, sodass der innerstädtische Raum besser für das Zu-Fuß-Gehen, Schlendern, Verweilen oder Fahrradfahren genutzt werden kann.“
Aber eben in vielen Straßen, wo eigentlich Schlendern angesagt wäre, ist es nicht so. Und es sind eben eher weniger die Lieferfahrzeuge, die sich hier immer wieder durch die Fußgänger drängeln, sondern die Leute, die in den diversen Straßen ihre Tiefgaragenplätze haben. Oder die die Chance nutzen, eben doch fast zum Markt zu fahren und ihr Auto bequem nahebei parken.
„Eine komplett ‚autofreie Innenstadt‘ lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht umsetzen, da insbesondere der Anlieferverkehr und die Zufahrten zu den Tiefgaragen weiterhin gewährleistet werden müssen“, betont das Dezernat Stadtentwicklung und Bau.
Tröstet die Schüler der 7B aber: „Die Verwaltung beabsichtigt, dem Stadtrat eine Vorlage ‚Überarbeitung Andienungskonzept Innenstadt‘ vorzulegen, in deren Zusammenhang auch geprüft wird, ob und unter welchen Voraussetzungen weitere Abschnitte, wie zum Beispiel die Katharinenstraße, als weitere Fußgängerbereiche ausgewiesen werden können. Jedoch kann die Innenstadt nicht komplett autofrei werden, schon allein damit Einsatzfahrzeuge, die Müllabfuhr oder auch Lieferfahrzeuge für Geschäfte die Innenstadt weiterhin erreichen können.“
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Keine Kommentare bisher
Im Verkehrsdezernat seufzt nichts, sondern besteht eine tief sitzende Unverfrorenheit, eine Schulklasse und durchaus auch die Stadtbewohner für dumm zu verkaufen.
Mit Sprüchen, die schon in den 1990er Jahren in ihrer Banalität als wenig zielführend entlarvt wurden. Die Schlachten sind längst geschlagen.
Das Verkehrdezernat ist 30 Jahre zurückgeblieben, anders beschreibe ich das nicht mehr. Das widerspricht nicht dem Radwegausbau, denn genau dies hat in professionell geführten Städten schon vor 30 Jahren angefangen. Man muss ja froh sein, dass das Verkehrsdezernat es immerhin geschafft hat, nicht mehr auf dem Stand von 1970 zu sein.
Das Verkehrsdezernat filibustert die Lebenszeit der interessierten Schüler mit Allgemeinplätzen wie Notarzt- und Lieferantenzufahrt.
Dass es auch noch Anwohner in der Innenstadt gibt, hat das autoverliebte Verkehrsdezernat völlig vergessen. Dies vor dem Hintergrund, wo die Stadt Leipzig sich schon immer für ein Wohnen in der Innenstadt einsetzt, um der abendlichen Verödung in den Fußgängerzonen entgegenzuwirken.
(Dieses “Wohnen in der Innenstadt” ist so ziemlich das einzige, was Leipzig besser macht als viele andere Großstädte. Leider mit wenig Erfolg: Selbst im Matthäikirchhof plant man eher sparsam mit Wohnraum. Gerade dieser Ecke mit Verbindung zu Gottschedstraße und Lessingstraße würden wohnende Menschen gut tun – mehr als die tote Konzernzentrale, die sowieso nicht auf Dauer bleiben wird.)
Die “vielen Abschnitte”, die das Verkehrsdezernat hier nun so anpreist (ich komme auf ungefähr 3 Abschnitte) ergeben eine Gesamtfläche einer Briefmarke. Diese Fußgängerzönchen sind schon jetzt voll, falls das mal jemanden aufgefallen ist. Es ist mittlerweile schlicht wenig Platz für die vielen Innenstadtbesucher. Leipzig und Projekt 700: mit dem Scheitern geht es schon jetzt los…
Andere – nicht einmal halb so große – Städte haben wesentlich riesigere Fußgängerzonen, und das ist im Jahre 2021 längst der Normalfall. Aus letzten Besuchen heraus empfehle ich Darmstadt, Fulda, Augsburg und Würzburg. Ich verlaufe mich immer mal^^ und war oft froh, wenn irgendwo mal ein Schild Richtung Bahnhof steht. Und nächste Woche freue ich mich auf Osnabrück, wo es außerdem gefühlt Hunderte von Zebrastreifen gibt.
Um welches Goldene Kalb tanzt eigentlich das Verkehrsdezernat mit seiner Aversion gegen eine autofreie Innenstadt? Sind die ca. 50 Wichtigs, die da unbedingt freie Einfahrt haben wollen, so stadtfördernd, dass 500000 Unwichtigs leiden müssen? Oder ist das Verkehrsdezernat von der CDU Leipzig unterwandert – das zurückhaltende (hust) Niveau der “Argumentation” lässt mich das mittlerweile vermuten.
Auch hier gilt die biologische Lösung: Erst wenn die örtlichen Fehlentscheider im Ruhestand sind, ist vielleicht auf eine Rettung Leipzigs zu hoffen.