Vor 45 Jahren, genauer am 1. Juni 1976, wurde der Grundstein für die Großwohnsiedlung Grünau im Leipziger Westen gelegt. Sie ist heute Heimat für fast 45.000 Menschen. Seit 1979 untersuchen Sozialwissenschaftler/-innen in der international einmaligen Langzeitstudie „Wohnen und Leben in Leipzig-Grünau“ in regelmäßigen Abständen die Wahrnehmungen, Einschätzungen, Hoffnungen und Ängste der dort lebenden Menschen.
Aktuelle Ergebnisse der heute vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) koordinierten Studie zeigen: Die Mehrheit der Grünauer/-innen ist mit ihrem Stadtteil zufrieden, allerdings nehmen die Sorgen um das soziale Miteinander zu.
Die Großwohnsiedlung Grünau entstand zwischen 1976 und 1989 am westlichen Stadtrand Leipzigs und ist mit acht Wohnkomplexen das größte Plattenbaugebiet der Stadt. Bis zum Ende der DDR lebten hier mehr als 85.000 Menschen. Nach der Wiedervereinigung führte ein starker Einwohnerverlust von rund 50 Prozent zu einem hohen Leerstand von Wohnungen sowie von Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen.
Durch Abriss, Umbau, Sanierung und Neubau von Wohnanlagen sowie dem Ausbau von Schulen und Kindertagesstätten erlebte der Stadtteil ab 2010 einen Aufschwung – und ein allmähliches Bevölkerungswachstum, das bis heute anhält.
„Ein umfangreiches Angebot an Grün- und Erholungsflächen, gute Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz, umfassende Infrastruktur wie Einkaufsangebote, Ärzte und Sportmöglichkeiten sowie bezahlbare Mieten. Das sind Gründe, warum sich viele Grünauer/-innen in ihrem Stadtteil wohlfühlen“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Prof. Sigrun Kabisch vom UFZ, die an der Studie von Beginn an beteiligt war und deren Umsetzung durch das UFZ seit 2004 verantwortet.
Für die jüngste Untersuchung „Grünau 2020“ wertete Sigrun Kabisch mit ihrer UFZ-Kollegin Janine Pößneck 736 Fragebögen aus und ergänzte dies durch Interviews mit Vertreter/-innen Grünauer Einrichtungen, lokaler Wohnungsunternehmen und von Ämtern der Stadt Leipzig.
Die neuen Ergebnisse der mittlerweile elften Erhebung belegen die Beliebtheit der Großwohnsiedlung: 59 Prozent der Befragten fühlen sich in Grünau uneingeschränkt wohl, 38 Prozent machen Einschränkungen und nur 3 Prozent fühlen sich nicht wohl. 40 Prozent der Befragten leben seit mindestens 30 Jahren in Grünau.
„Mit zunehmender Wohndauer steigt die Identifikation mit dem Stadtteil stark“, sagt Janine Pößneck.
Die Wohnzufriedenheit in Grünau bleibt stabil
Zugleich kämpfen Großwohnsiedlungen wie Leipzig-Grünau in der Öffentlichkeit mit Vorurteilen. So wird immer wieder an der Zufriedenheit mit der Wohnqualität in den Plattenbauten gezweifelt. Die Langzeitstudie belegt jedoch, dass seit den 1990er Jahren die Zufriedenheit stark gestiegen ist: Während sich 1995 nur 49 Prozent der Befragten in ihrer Wohnung wohlfühlten, stieg dieser Wert im Jahr 2015 auf 68 Prozent.
Seitdem blieb er stabil. Die angemessene Größe der eigenen Wohnung, die Bezahlbarkeit der Miete, die Ruhe in einer Umgebung mit vielen Grünflächen und dort, wo vorhanden, ein Aufzug oder ein eigener Balkon, sind Vorzüge, die die Befragten an ihrer Wohnsituation sehr schätzen.
Zudem werden die Großwohnsiedlungen oft als soziale Brennpunkte bezeichnet.
„Das ist ein ungerechtfertigtes Stigma, das unhinterfragt, pauschalisierend und respektlos wiederholt wird. Dadurch wird erschwert, dass Grünau als Zuzugsort für Wohnungssuchende infrage kommt. Wir können das Stigma mit unseren wissenschaftlichen Ergebnissen widerlegen“, sagt Sigrun Kabisch.
So sei zunächst die Großwohnsiedlung weniger als ganze Einheit, sondern vielmehr differenziert in ihrer sozialräumlichen Kleinteiligkeit zu betrachten – genauso wie eine Mittelstadt mit einer vergleichbaren Einwohnerzahl, in der es begehrte und weniger begehrte Viertel gebe.
Während in Grünau einige Teilräume über besonders ausgeprägte Gunstfaktoren wie etwa gute Nachbarschaftsbeziehungen, hohe Zufriedenheit mit der Wohnung, Sauberkeit, Ruhe und ein gutes Versorgungsangebot verfügen, treten in anderen negative Entwicklungen im sozialen Miteinander hervor. Die Befragten beklagen hier vor allem den Zuzug von Störenfrieden, zunehmende Vermüllung, Einbrüche und Diebstähle. Sie führen dies auf Weg- und Zuzüge in der Nachbarschaft zurück.
„Dort, wo der Bewohneraustausch besonders spürbar war, hat sich das Vertrauen innerhalb der Nachbarschaft verringert“, erklärt Sigrun Kabisch.
Den Befragungen zufolge weist die Bewohnerschaft von Grünau seit Jahrzehnten einen relativ stabilen Anteil von 20 bis 25 Prozent Hoch- und Fachhochschulabsolventen auf. Feststellen konnten die beiden UFZ-Sozialwissenschaftlerinnen auch, dass der Anteil Höherqualifizierter unter den langjährig ansässigen, älteren Bewohner/-innen vergleichsweise hoch ist. Doch auch unter jenen, die in den vergangenen sechs Jahren zugezogen sind, befindet sich ein beachtlicher Anteil Höherqualifizierter.
„Wir haben jedoch registriert, dass gerade diese gut ausgebildeten Bewohner/-innen häufig nach wenigen Jahren Grünau wieder verlassen. Um diese zu halten, bedarf es entsprechender Angebote wie beispielsweise große und bezahlbare Wohnungen für Familien, eine gut ausgebaute soziale Infrastruktur sowie passende Freizeitangebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene“, sagt Sigrun Kabisch.
Welche Rolle spielen Migration und Flucht?
Besondere Folgen hatte der unerwartet starke Zuzug von Migrant/-innen und Geflüchteten nach Grünau in den Jahren 2015/2016. Laut Leipziger Einwohnermelderegister verdoppelte sich deren Zahl nahezu von 5.148 im Jahr 2015 auf 9.307 im Jahr 2020.
Viele Neuankömmlinge fanden eine Wohnung nur in den Teilräumen mit hohem Leerstand und dort, wo sich bereits zuvor soziale Probleme zeigten. Dadurch überlagerten sich unterschiedliche Herausforderungen im sozialen Miteinander, und es entwickelten sich hier Merkmale sozialer Brennpunkte.
„Es ist aber nicht gerechtfertigt, diese Ausprägungen auf gesamt Grünau zu übertragen“, betont Sigrun Kabisch.
Um zu erfahren, wie die Migrant/-innen ihr neues Leben in der Großwohnsiedlung meistern, führten die UFZ-Forscherinnen Gruppendiskussionen und Einzelgespräche durch. Sie fanden heraus, dass die Migrant/-innen ähnlich wie die schon länger ansässige Bevölkerung mit ihrem Wohnort und ihrer Wohnung zufrieden sind, ihr Wohnumfeld und ihre Nachbarschaft aber durchaus auch kritisch sehen.
Dies betrifft den Umgang mit Alkohol und Drogen in der Öffentlichkeit, die Vermüllung oder eigene Erfahrungen von Alltagsrassismus und Beleidigungen. Auch vermissen sie Kontakte zu Grünauer/-innen in ähnlichen Lebenssituationen wie zum Beispiel Mütter mit kleinen Kindern. Eine große Hürde stellen mangelnde Deutschkenntnisse dar.
„Für unterschiedliche Nutzergruppen angepasste Sprach- und Kontaktangebote vor Ort sind erforderlich, um im Alltag ein stärkeres Miteinander zu ermöglichen“, bilanziert Janine Pößneck.
Publikation: Sigrun Kabisch, Janine Pößneck: GRÜNAU 2020. Ergebnisse der Bewohnerbefragung im Rahmen der Intervallstudie „Wohnen und Leben in Leipzig-Grünau“. UFZ-Bericht 1/2021
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Die Hochschulabsolventen, die in so einen Plattenbau ziehen, dürften zum größten Teil Berufsanfänger sein. Da verdient man noch nicht so viel, dass man sich schon gleich eine (sanierte) Altbauwohnung mit gleicher Wohnfläche zutraut.
Nach der ersten Gehaltserhöhung und wenn klar ist, dass der Job langfristig erhalten bleibt, wird sich überlegt, ob man woanders etwas schöner (etwa im sanierten Altbau) wohnt oder gar in Wohneigentum investiert (die Kreditrate ist dann die neue Miete).
Eine der spezielleren Verwerfungen des Wohnungsmarkts.
Was ist eigentlich mit der Ringbebauung, die ist doch bestimmt toll für Besserverdienende? Ich sehe aber dafür NIE eine Wohnungsanzeige…^^