Wenn am Mittwoch, 23. Juni, der Stadtrat über die Neubenennung von Straßen entscheidet, dann wird es auch um Straßennamen in der neu entstehenden „Parkstadt Dösen“ gehen. Das ist das Gelände der ehemaligen „Heilanstalt Dösen“, welches ein Investor als Wohnquartier entwickeln möchte. Der Stadtbezirksbeirat (SBB) Südost hat zur Vorlage der Verwaltung einen Änderungsantrag gestellt, denn die Straßenbenennungen erinnern nicht wirklich genug an die dunkle Vergangenheit.

Immerhin geht es hier um die Erinnerung an die Menschen, die an dieser Stelle ermordet wurden. In den geplanten Straßen­benen­nungen wird das nicht ausreichend sichtbar, kritisiert der Stadtbezirksbeirat Südost.Vor der Abstimmung erklärt Victor Weiler (SPD), der das Anliegen in der Ratsversammlung vertreten wird, noch einmal die Beweggründe des Beirates: „Vor einem Jahr haben wir schon einmal eine Verwaltungsvorlage zur zukünftigen ‚Parkstadt‘ zur Anhörung bekommen. Damals enthielt der Vorschlag der Verwaltung nur Namen von drei Landschaftsarchitekten und Gartenplanern, teilweise ohne Bezug zum Ort.“

„In Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes als überregional bedeutsame psychiatrische Anstalt und als Tatort grausamster Verbrechen während der NS-Diktatur haben wir damals die Vorlage einstimmig abgelehnt. Zugleich haben wir gefordert, vor allem an die in der sogenannten ‚Kinderfachabteilung‘ hier ermordeten hunderten für ‚lebensunwert‘ erklärter Kinder zu erinnern. Ein konkreter Vorschlag von uns an die Verwaltung war, stellvertretend für die Opfer der ‚Kindereuthanasie‘ eine Straße nach den Geschwistern Steinhausen zu benennen.“

Während die Verwaltung in ihrem jetzigen Vorschlag deutlicher Bezug auf die Geschichte des Ortes nehme und auch Opfer des Widerstandes würdigen wolle, solle die Erinnerung an die Opfer der „Kindereuthanasie“  auf eine Wiese in der Mitte der Anlage beschränkt werden.

„Wie aus der Verwaltungsvorlage klar hervorgeht, soll – so wörtlich! –  […] verhindert werden, dass eine Adressvergabe in einem Wohngebiet nach den ermordeten Kindern vorgenommen wird‘. Dies, und vor allem die ‚Begründung‘ dafür, ist für die Mitglieder des Stadtbezirksbeirates extrem befremdlich“, so Weiler weiter. Laut Meinung der Verwaltung könnten Kleinkinder traumatisiert werden, wenn sie nach der Bedeutung ihres Straßennamens fragen. Warum Eltern das nicht kindgerecht erklären können sollen und warum keine Traumatisierung stattfinden soll, wenn nach dem Namen der Wiese nebenan oder der Geschichte der „Parkstadt“ gefragt wird, sei nicht nachvollziehbar.

Deshalb hat der SBB Südost mit den Stimmen aller anwesenden Mitglieder (SPD, Linke, Grüne und CDU) auch diesen Verwaltungsvorschlag abgelehnt und einen Änderungsantrag formuliert: „Die vorgeschlagene ,Erna-Stahl-Straße‘ erhält den Namen ,Geschwister-Steinhausen-Straße‘. Der ,Geschwister-Steinhausen-Park‘ bleibt zunächst unbenannt.“

Im Änderungsantrag wird der Stadtbezirksbeirat noch deutlicher: „Würde man der Argumentation der Verwaltungsvorlage folgen, wäre in letzter Konsequenz ein öffentliches Gedenken an Opfer der Gräuel der mörderischen NS-Herrschaft gar nicht mehr möglich. Dass andere Kommunen dies – auch und gerade heute – anders sehen, zeigen nicht nur die zahlreichen Beispiele für Benennungen nach Anne Frank (Straßen, Siedlungen, Schulen und Kitas), sondern auch die für Benennungen nach Opfern der ,Kindereuthanasie‘. So gibt es beispielsweise in Augsburg eine Ernst-Lossa-Straße, auf der sich auch ein Kindergarten befindet, in Hamburg einen Irma-Sperling-Weg und in Burgwedel seit Anfang dieses Jahres einen Friedrich-Daps-Weg.

Eine Wohnstätte für Menschen mit geistiger Behinderung in Haltern am See heißt Ernst-Lossa-Haus. Die Benennung der Planstraße D nach Sigrid Olimpia und ihrem Bruder Manfred Olaf Steinhausen kann ein weiterer Beitrag der Stadt Leipzig sein, wieder genau jene Menschen und ihr Schicksal öffentlich sichtbar zu machen, die viel zu lange weitgehend unsichtbar geblieben sind. Deren Existenz und deren Vernichtung jahrzehntelang verschwiegen wurde. Weil sie unerwünscht waren und auch nach dem Krieg keine ,gefällige‘, weil heroische, Opfergruppe. Mit einer Benennung einer Rasenfläche, die sich weder in Adressen wiederfindet, noch überhaupt auffallen dürfte, würde die Stadt unserer Überzeugung nach ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.“

Mit der Entscheidung weiß sich der Stadtbezirksbeirat nach zahlreichen Gesprächen von vielen Menschen, die sich mit der Erinnerungskultur in Leipzig und Sachsen beschäftigen, in seiner Haltung unterstützt.

„Wir sind überzeugt, dass die Stadt Leipzig hier eine Chance hat, die so schnell nicht wiederkommt. Nämlich am Ort des Geschehens über eine Straßenbenennung, die auch sichtbar ist, die Spuren im Stadtplan und im Adressfeld von Briefen hinterlässt, an Menschen zu erinnern, deren Leben und Leiden jahrzehntelang verschwiegen wurde“, sagt Weiler. „Erst, weil sie als ‚lebensunwert‘ aussortiert und ermordet wurden, dann, weil sie keine ‚heroische‘ Opfergruppe darstellten. Der Stadtrat sollte diese Chance nicht leichtfertig vergeben.“

Was sich dann durchaus ergänzen würde mit dem jüngsten Antrag der Grünen-Fraktion, einen Erinnerungsort an die im „Euthanasie“-Programm der Nazis Ermordeten zu schaffen. Oder einem ähnlich gelagerten Antrag der Linksfraktion aus dem Jahr 2019.

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Es gibt 2 Kommentare

Genau; oder Straßen nur noch nach Schlachtdaten benennen, also auch 16. und 17. Oktober. Da kann man fragenden Kindern so herrlich vom Heldentod fürs Vaterland erzählen.

“Laut Meinung der Verwaltung könnten Kleinkinder traumatisiert werden, wenn sie nach der Bedeutung ihres Straßennamens fragen.”

Also das ist wohl die dümmste Erklärung von der ich je gehört hab. Sollten wir da nicht auch besser die Geschichtsbücher in den Schulen aus dem Verkehr ziehen? Und vor allem die Nachrichten abschaffen und durch 24-Stunden Dauer-Teletubbies ersetzen.

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