Je näher der Entscheidungstermin in der Ratsversammlung am 31. März zum Bebauungsplan für den Wilhelm-Leuschner-Platz rückt, umso rätselhafter wird es. Was ist da eigentlich schiefgelaufen in den vergangenen sechs Jahren? Denn 2015 gab es ja die letzte große Diskussion. Damals stimmte der Stadtrat über die vom Stadtplanungsamt vorgelegten „Leitlinien für die Weiterführung des Aufstellungsverfahrens zum Bebauungsplan Nr. 392 ,Wilhelm-Leuschner-Platz/Ost‘“. Mit einem dicken Paket Änderungsanträge aus den Ratsfraktionen.

Dass der nun vorgelegte Bebauungsplan praktisch immer noch so aussieht wie die städtebaulichen Entwürfe von 2010, hat auch damit zu tun, dass die Ratsversammlung 2015 nicht den Mut hatte, die Vorlage des Stadtplanungsamtes abzulehnen.Denn darin waren die Leitlinien festgelegt, nach denen dieses weiterplanen sollte: „In der Folgezeit wurde in den Fraktionen sowie im Fachausschuss Stadtentwicklung und Bau umfassend über die unterschiedlichen konzeptionellen Ansätze diskutiert. Mehrheitlich sprachen sich die Mitglieder des Fachausschusses für eine Weiterführung des Bebauungsplanverfahrens auf der Grundlage des städtebaulichen Konzeptes von Prof. Pelčák/Prof. Wolf aus. Zu verschiedenen Detailaspekten sollen jedoch Veränderungen vorgenommen werden. Dies betrifft insbesondere die Erhöhung des Wohnanteils, eine Mindesthöhe für die Markthalle zum Platz, zusätzliche Vorgaben zur Nutzung und Gestaltung des öffentlichen Platzraumes und der Verzicht auf die zwingende Vorgabe von Arkaden für die platzbegrenzende Bebauung.“

Einige der Änderungsanträge stellten Teile des städtebaulichen Konzeptes deutlich infrage.

So auch ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion, der genau diese Leitlinien infrage stellte. Denn wenn man die so akzeptierte, bekäme man genau die klobigen Standardbauten, wie man sie in allen deutschen Großstädten herumstehen sieht, fixiert auf Büros, Shopping-Malls und Tiefgaragen – das typische Bauen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber diesem Antrag erging es wie fast allen anderen Anträgen auch, nachdem die Verwaltung den Änderungsantrag der CDU praktisch übernommen hatte: Irgendwie war die Luft raus, niemand wollte mehr diskutieren. Und so stimmte man die störenden Änderungswünsche einfach weg.

Und dabei forderte die SPD-Fraktion nicht weniger als endlich eine echte Öffentlichkeitsbeteiligung, die die Potenziale dieses Platzes erst einmal ausgelotet hätte: „Der Oberbürgermeister wird beauftragt, dem Stadtrat bis Juni 2016 einen Vorschlag für einen Zielfindungsprozess unter Wachstumsbedingungen für das Gesamtareal Wilhelm-Leuschner-Platz zur Beschlussfassung vorzulegen. In den Prozess sollen die Bürgerschaft, die interessierte lokale Fachöffentlichkeit sowie Fachexperten eingebunden werden. Die bisherigen Beschlüsse des Stadtrates – u. a. zur Markthalle – sollen dabei berücksichtigt werden. In dem Prozess sollen insbesondere die Fragen, welche Nutzungen das Areal Leuschner-Platz unter Wachstumsbedingungen bezüglich seiner Gebäude aufnehmen und welche Funktionen der Freiraum (Platzraum) erfüllen soll, erörtert werden.“

„Mehrheitlich abgelehnt bei einigen Ja-Stimmen und 4 Enthaltungen“, heißt es trocken im Protokoll.

Man ahnt, warum Stadtratssitzungen damals schneller über die Bühne gingen und viel weniger diskutiert wurde und Ergebnisse auch nicht so knapp ausfielen wie im aktuell arbeitenden Stadtrat. Die Scheu, einer vor sich hin arbeitenden allmächtigen Verwaltung ins Verfahren zu funken, war unübersehbar. Und damit vergab sich dieser Stadtrat den größten Teil seiner Gestaltungsmöglichkeiten.

Das Anliegen hatte die SPD-Fraktion eigentlich recht deutlich formuliert: „Die Diskussion zu dieser Vorlage zeigt, dass die Anforderungen hinsichtlich der künftigen Nutzung und Gestaltung des Areals Wilhelm-Leuschner-Platz, sowohl im fachöffentlichen Diskurs, als auch bei den politischen Akteuren sehr unterschiedlich eingeschätzt werden. Daher möchten wir intensiv dafür werben, diesen notwendigen Diskurs weiterzuführen und in einen Zielfindungsprozess zu lenken. Erst auf der Grundlage der Diskussionsergebnisse sollte dann entschieden werden, wie städtebaulich weiter zu verfahren ist. Dies könnte dann auch ein neuer Wettbewerb sein. Der Zeitraum ist so gewählt, dass die aus dem Vorschlag resultierenden Kosten in die Haushaltsplanung 2017/2018 noch eingestellt werden können.“

Seither hat sich immer wieder herausgestellt, mit wie wenig Wasser die Verwaltung ihre Planungen oft kochte. Die SPD-Fraktion war noch mitten in ihrem Findungsprozess. War sie eigentlich nur die OBM-Fraktion, die dem eigenen Oberbürgermeister ein möglichst reibungsloses Arbeiten ermöglichen sollte? Oder brauchte sie ein eigenes Profil und vor allem funktionierende strategische Bündnisse mit anderen Fraktionen, wenn sie überhaupt noch eine Rolle in der Stadtpolitik spielen wollte?

Denn auch diese Abstimmung damals war wie ein Hauen und Stechen, bei dem sich die Ratsfraktionen gegenseitig die Änderungsanträge wegstimmten (auch Grüne und Linke erlebten ihr Debakel). Und die SPD musste gleich für vier Anträge eine Niederlage einstecken. Mehr Demütigung ging kaum noch.

Darunter auch ein sehr umfangreicher Antrag, der unter anderem auch das Thema Stadtökologie andeutete.

Zum jetzt vorgelegten Bebauungsplan gibt es mittlerweile, nachdem schon die Grünen zwei Änderungsanträge gestellt hatten, auch zwei Änderungsanträge der Linksfraktion.

Der eine stellt die Markthalle und einen möglichen Kinderspielplatz ins Zentrum.

Der andere beschäftigt sich mit der Wohnungsfläche auf dem Grundstück, das der Freistaat bebauen will.

Aber auch schon die Grünen-Anträge haben eigentlich deutlich gemacht, dass da irgendetwas in den vergangenen sechs Jahren nicht passiert ist: nämlich in einer Arbeitsgruppe des Stadtrates zu klären, wohin sich die Sache wirklich entwickeln sollte. Der Beschluss von 2015 vernebelte sogar, dass der grundlegende Dissens praktisch nicht geklärt war.

Das schildert das Stadtplanungsamt sogar selbst: „Aus diesem Grund führte das Stadtplanungsamt im März 2010 eine Städtebauwerkstatt mit sechs Planungsteams durch. Diese Werkstatt wurde von zwei Bürgerforen zu Beginn der Werkstatt begleitet. Fachlich und inhaltlich begleitet wurden die Teams der Städtebauwerkstatt von einem Gremium, das aus Anrainern, Akteuren, externen Fachleuten (Stadtplanern, Architekten, Landschaftsarchitekten) und Vertretern der beteiligten Ämter bestand. Im Dezember 2010 wurden die Ergebnisse anlässlich einer Bürgerversammlung vorgestellt und mit interessierten Bürgern diskutiert. Aus diesem Prozess kristallisierte sich heraus, dass die Arbeit der Architekten Prof. Pelčák und Prof. Wolf (Brünn/Leipzig) den besten Ansatz für die neue städtebauliche und nutzungsrelevante Gestaltung des Wilhelm-Leuschner-Platzes bot. Die Arbeit trug den Titel: ,Der große Platz als Adressgeber für alle möglichen Nutzungen und Spielraumgeber für die Zukunft‘.“

Aber wirklich Spielraum sahen darin ausgerechnet jene nicht, die sich in Leipzig professionell mit Stadtraum beschäftigen. Auch das stand so im Papier: „Zwischenzeitlich hatten das Stadtforum Leipzig und andere Verbände (BDA – Bund deutscher Architekten, Landesverband Sachsen; BDB – Bund deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure e. V., Bezirksgruppe Leipzig, SRL – Vereinigung für Stadt-, Raum- und Landesplanung) das Kolloquium ,Stadtraum Leuschnerplatz – wie bitte?‘ organisiert. Dieses führte im März 2014 eine öffentliche städtebauliche Diskussionsrunde und im November 2014 einen Workshop durch. Die Ergebnisse der vier Planungsteams wichen erheblich von den dem Bebauungsplan zugrunde liegenden städtebaulichen Ideen ab. Insbesondere wurde angeregt, sich bei der Dimension des öffentlichen Platzes an der historischen Größe des ehemaligen Königsplatzes zu orientieren.“

Planzeichnung für das ganze Plangebiet Wilhelm-Leuschner-Platz / Markthallenviertel. Karte: Stadt Leipzig
Planzeichnung für das ganze Plangebiet Wilhelm-Leuschner-Platz / Markthallenviertel. Karte: Stadt Leipzig

Ein Ansatz, den auch die SPD-Fraktion unterstützte, nachdem klar war, dass die völlig verquere Idee, auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz ein gestaltloses Freiheits- und Einheitsdenkmal zu platzieren, gescheitert war.

Aber die Ratsmehrheit wollte nicht kämpfen. Die Entscheidung, genauso klobig und gesichtslos weiterzuplanen, fiel im Planungsausschuss: „In der Folgezeit wurde in den Fraktionen sowie im Fachausschuss Stadtentwicklung und Bau umfassend über die unterschiedlichen konzeptionellen Ansätze diskutiert. Mehrheitlich sprachen sich die Mitglieder des Fachausschusses für eine Weiterführung des Bebauungsplanverfahrens auf der Grundlage des städtebaulichen Konzeptes von Prof. Pelčák/Prof. Wolf aus.“

Womit die „Gestaltungsmöglichkeiten“ der Ratsversammlung aus eigener Entscheidung auf genau die paar wenigen Stellschrauben zusammenschrumpften, die das Stadtplanungsamt damals auch benannte: „Zu verschiedenen Detailaspekten sollen jedoch Veränderungen vorgenommen werden. Dies betrifft insbesondere die Erhöhung des Wohnanteils, eine Mindesthöhe für die Markthalle zum Platz, zusätzliche Vorgaben zur Nutzung und Gestaltung des öffentlichen Platzraumes und der Verzicht auf die zwingende Vorgabe von Arkaden für die platzbegrenzende Bebauung.“

Der Stadtrat hat sich hier alle Gestaltungsmacht aus der Hand nehmen lassen, was spätestens klar wurde, wenn die Verwaltungsspitze regelmäßig durchsickern ließ, was sie hier gern angesiedelt haben möchte. So steht es jetzt auch in der neuen Vorlage: „Die zukünftigen Baufelder eignen sich für Einrichtungen mit nationaler Reichweite, an denen ein besonderes Ansiedlungsinteresse besteht (z. B. Juristische Fakultät mit dem Forum Recht, Leibniz-Institut für Länderkunde, Global Hub).“

Und man hat ja verwaltungsseitig noch mehr Visionen: „Des Weiteren wird auch für städtische Einrichtungen (z. B. Musikschule, Volkshochschule) die Realisierbarkeit auf dem Plangebiet untersucht. Eine Unterbringung von erheblichen Teilen der Stadtverwaltung wird entsprechend VII-A-01379-NF-02 jedoch nicht beabsichtigt.“

Und man beteuert zumindest: „Ein weiteres Ziel der Stadtverwaltung ist es, das neue Quartier auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz baulich zu einem nachhaltigen ,Klimaschutzquartier‘ zu entwickeln. Zusammen mit den ggf. anderen öffentlichen Bauherren sollen hohe ökologische und nachhaltige Zielvorgaben festgelegt und eingehalten werden.“

Na ja, die hat man ja nun im Vorfeld schon mal unterlaufen. Und wenig an der Vorlage deutet darauf hin, dass man wirklich handfeste Vorgaben zum Arten- und Klimaschutz festlegen möchte. In den Leitlinien hieß es nur: „Das Plangebiet befindet sich in einem intensiven städtischen Überwärmungsbereich mit relativ hohen Tages- und Nachttemperaturen und geringer nächtlicher Abkühlung. Deshalb sind klimaschützende Maßnahmen im Rahmen der Planung und Umsetzung erforderlich. Im Bebauungsplan soll durch geeignete Festsetzungen (u. a. Nutzung solaren Potentials >aktiv/passiv>, möglichst umfassender Einsatz von regenerativen Energien oder KWK-Anlagen, Stellplatzreduktion, Dachbegrünung, Bepflanzung der Freiflächen) sichergestellt werden, dass trotz hoher innerstädtischer Bebauungsdichte eine angemessene Lebens- und Umweltqualität erreicht wird.“

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