Die Baustelle ruht, der Boden ist wieder planiert. Am Rand stehen noch die großen Röhren, die hier in den Boden gerammt werden sollten. Doch unverhofft kam zumindest ein vorübergehender Stopp. Denn in der Vorwoche sind am Nachbarhaus Erdmannstraße 12 in Plagwitz Risse im Mauerwerk aufgetreten. Eine Geschichte, die im Februar 2019 begann, nimmt eine neue, nun doch etwas unerwartete Wendung. Eine Geschichte, die eigentlich schon 2004 begann.

Damals verkaufte die Leipziger Wohnungsbaugesellschaft (LWB) tausende ihrer Wohnungen im ganzen Stadtgebiet. Etwas, was das städtische Unternehmen 15 Jahre später nicht mehr getan hätte. Heute kauft sie wieder – wenn mal was am Markt ist. Aber damals galt Leipzig – zumindest für die Stadtpolitik – als „shrinking City“, als schrumpfende Stadt. Seit sechs Jahren hatte das Baudezernat schon eine lange Liste von gefährdeten Baudenkmalen, die man irgendwie versuchte zu sichern.

Denn das große Sanierungsprogramm der 1990er Jahre war zum Stillstand gekommen. Brachen wurden in Parks und Bürgergärten verwandelt. Und die LWB saß auf einem riesigen Schuldenberg von über 900 Millionen Euro. Sie war wirtschaftlich kaum noch handlungsfähig, Geld für Neubau war überhaupt nicht da.

Also wurde das kommunale Wohnungsunternehmen dazu verdonnert, sich von Beständen zu trennen und auf diesem Weg den Schuldenberg abzubauen. Im ganzen Stadtgebiet wurden deshalb vor allem gründerzeitliche Wohnungsbestände verkauft. „2.950 Objekte mit ungefähr 26.000 Wohnungen wurden bis 2011 als ,Pakete‘ verkauft“, fasst Wikipedia das zusammen.

Dazu gehörte auch der praktisch geschlossene Wohnungsbestand in der Erdmannstraße in Plagwitz. Schon damals wurde öffentlich darüber diskutiert, ob das der richtige Weg war. Denn diese Paketverkäufe erfolgten nicht in einem öffentlichen Bieterverfahren. Sie wurden auch nicht in den Leipziger Zeitungen veröffentlicht, und das in einer Zeit, als die Stadt öffentlich auch Bauherrengemeinschaften unterstützte, die bereit waren, leerstehende Häuser zu übernehmen und zu sanieren.

Dass das so lief, erfuhren die beiden Plagwitzer Keith Hurst und Frank Wernstedt auch nur durch Zufall. Sie lebten damals schon in der Erdmannstraße 16 und hatten bei der LWB offiziell ihr Interesse angemeldet, das ganze Haus zu kaufen, wenn die LWB die Absicht haben sollte, es zu verkaufen.

Doch dass das Haus zum Verkauf stand, erfuhren sie erst, als der Vertreter einer bekannten Leipziger Immobilienfirma die Straße abklapperte, um sich ein Bild vom kommunalen Schnäppchen zu machen. Keith Hurst hatte schon in den USA Erfahrungen gesammelt mit Hauskäufen und Sanierungen, die danach auch Normalverdienern wieder ein sicheres Obdach gaben.

Wie das freilich in Leipzig ablief, wunderte ihn doch sehr, auch wenn es den beiden doch noch gelang, ein Gebot abzugeben für das Haus, in das Frank Wernstedt schon in den frühen 1990er Jahren eingezogen war, einer Zeit, als man für eine solche Wohnungszuweisung offiziell noch einen Wohnberechtigungsschein brauchte.

Die beiden Käufer haben das Haus in den Folgejahren liebevoll saniert, manchmal auch in zähen Ringen mit dem Leipziger Amt für Denkmalschutz, das hohe Auflagen für die denkmalgerechte Sanierung setzte. Denn jedes einzelne Gründerzeithaus in der Erdmannstraße steht unter Denkmalschutz. Wer heute durch die Straße spaziert, sieht lauter solche liebevoll sanierten Häuser. „Das gibt der Straße erst ihren Flair“, sagt Frank Wernstedt.

Doch dieses Flair ist bedroht. Denn seit Februar 2019 wissen die beiden Hauseigentümer, dass die Baulücke neben ihrem Haus mit einem neuen Wohnhaus bebaut werden soll. „Was wir eigentlich begrüßen“, sagt Wernstedt. Als Nachbarn haben sie Einsicht in die Bauunterlagen genommen – und waren entsetzt.

Denn der Neubau passte sich nicht einmal ansatzweise in das gründerzeitliche Straßenbild ein. Optisch schon gar nicht. Mit wuchtigen Erkern ragt es in den Straßenraum. Der ganze Bau sieht aus wie aus dem Katalog eines Baukastenlieferanten. Die Front der Erdgeschosses wirkt verschlossen wie eine Burgmauer.

Doch der Bauherr, dem auch die angrenzenden Häuser in der Straße gehören, hat augenscheinlich beste Beziehungen zu den verantwortlichen Ämtern, die solche Bauprojekte genehmigen müssen. Es gibt ein windelweiches Statement aus dem Denkmalschutzamt der Stadt, in dem nicht einmal auf die Gestaltung und die Raumwirkung des Hauses eingegangen wird.

Auch nicht auf den historischen Bezug zum Gebäude Erdmannstraße 12, dem man noch ansieht, dass es einmal die wohl berühmteste Leipziger Kaffeerösterei war: die Kaffeerösterei Richter, die manche Leipziger noch kennen, wenn sie die kleine Kaffeehandlung am Eingang der Petersstraße schon einmal besucht haben. Dort hängt das große Bild der Kaffeerösterei in der Erdmannstraße an der Wand.

Aus der Kaffeerösterei sind heute lauter Eigentumswohnungen geworden. Das Haus gehört dem selben Immobilienunternehmen, das jetzt die Lücke der Nr. 14 bebauen will. Und die Mieter der Wohnungen habe zu Recht einige Sorgen, denn in Treppenhaus und Wohnräumen sind in den letzten Wochen, als nebenan schon heftig gebohrt wurde, Risse aufgetaucht.

Denn bei den Tiefbauarbeiten sind die Arbeiter augenscheinlich auf die Betonbodenplatte gestoßen, die einst beide Gebäude verband – das große Fabrikgebäude der Kaffeerösterei und das angrenzende Kontorgebäude in der Erdmannstraße 14, das auf den alten Bildern deutlich kleiner ist als das jetzt geplante Wohnhaus.

Dahinter gab es einen offenen Betriebshof und eine Reihe von Gewerken hatte sich hier schon 1920 angesiedelt: ein Tischler, ein Drechsler. Ein Straßenbahner wohnte hier neben einem Ratsaktuar und – wir sind ja im Jahr 1920 – mehreren Witwen. Der erste Weltkrieg war ja gerade zu Ende gegangen.

Diese offene Bebauung blieb bis 2019 erhalten. Bis die Abrissmaschinen kamen, obwohl Keith Hurst und Frank Wernstedt mehrere Eilanträge gestellt hatten, um das völlig aus dem Rahmen fallende Vorhaben zu stoppen und ein paar nur allzu sinnvolle Änderungen zu erreichen. Doch wenn in Deutschland Ämter auf stur schalten, laufen betroffene Bürger gegen Betonwände.

Welche, das erzählen wir im nächsten Teil. Denn nicht nur der Denkmalschutz drückte beide Augen zu.

 

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